Die Streiks der 12.000 Hafenarbeiter*innen in den deutschen Seehäfen hatten international Aufsehen erregt. Die Forderung nach einem echten Inflationsausgleich klang kämpferisch. Das Ergebnis liegt über den Abschlüssen in anderen Branchen, bedeutet aber 2023 trotzdem einen Reallohnverlust.
Von Anne Engelhardt, Kassel
Vor dem Hintergrund der Krise im Logistiksektor haben nicht nur die Hafenarbeiter*innen eine neue Machtposition. In Düsseldorf und London Heathrow haben Flughafenbeschäftigte 18% Lohnerhöhungen durchgesetzt. Die Arbeitsbelastung bleibt jedoch bestehen, wer will schon nach der Kurzarbeit zurück in einen derart prekären, das Klima zerstörenden Sektor kommen? Viele Arbeitsstellen bleiben leer.
In den Häfen wären ähnliche Lohnerhöhungen möglich gewesen. Die jetzt vereinbarten 9,4% in der Entgeltgruppe 6 bei den Vollcontainerbetrieben im laufenden Jahr enthalten allerdings Sonderzahlungen, die nicht tabellenwirksam sind. Wie groß der Anteil der Sonderzahlung ist, wurde bisher nicht berichtet. Für Betriebe, in denen Schüttgut und andere Güter außerhalb von Containern verladen werden, beträgt die Lohnerhöhung im ersten Jahr nur 7,9%. Das könnte jedoch die Mehrheit der Kolleg*innen in den Häfen betreffen. Containerterminals und Containertransport machen weltweit nicht mal ein Fünftel des maritimen Sektors aus.
Im zweiten Jahr des 24-monatigen Tarifabschlusses soll die Erhöhung der Löhne bei 4,4% liegen, bzw. bei 5,5%, falls die Inflation darüber liegt. Steigt sie über 5,5%, gibt es eine Sonderkündigungsklausel, die eine neue Verhandlung nächstes Jahr ermöglicht. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen ist eine neue Kampfrunde nächstes Jahr mehr als wahrscheinlich.
ver.di verlangte ursprünglich für die rund 12.000 Beschäftigten in den 58 tarifgebundenen Betrieben der Bundesländer Niedersachsen, Bremen und Hamburg einen „tatsächlichen Inflationsausgleich“ sowie eine Erhöhung der Stundenlöhne um 1,20 Euro. Bei Löhnen von derzeit knapp 15 bis 28 Euro pro Stunde hätte dies eine Steigerung um bis zu 14% bedeutet. Die Arbeitgeber boten zwei Erhöhungschritte mit 3,2% und 2,8% sowie eine Einmalzahlung von 600 Euro an.
Kleines Erdbeben
Es war der erste sichtbare Streik der festen Belegschaft seit 40 Jahren. In den letzten Jahren streikten lediglich Kolleg*innen der Gesamthafenbetriebe, die als flexible Arbeitskräfte mit schlechteren Schichten und niedrigeren Löhnen konfrontiert sind. Nach mehreren erfolglosen Lohnrunden taten sie es tatsächlich: 12.000 Arbeiter*innen legten einmal für 24 und dann für 48 Stunden die Arbeit an den Häfen nieder. Sie versammelten sich zeitgleich zu den Verhandlungen zu Demonstrationen in Hamburg und zuletzt am 22. August in Bremen. Der Streik kam nicht nur durch die Lieferengpässe, sondern auch durch den Angriff der Polizei in Hamburg in die Schlagzeilen. Diese gewaltsame Attacke galt nicht nur den Hafenarbeiter*innen, sondern allen, die es in der aktuellen Phase wagen, für einen Inflationsausgleich und gegen die wahnsinnigen Teuerungen zu streiken, von denen Energie-, Lebensmittel- und Immobilienkonzerne gerade profitieren.
Angesichts des polizeilichen Angriffs und der Klagewelle gegen den Streik seitens der Unternehmen ist eine bewusste Offensive im Umgang mit dem Staat und den Gesetzen nötig. Nach dem 48-Stunden Streik Mitte Juli vereinbarte ver.di in einem Vergleich vor Gericht mit den Unternehmen eine sechswöchige Streikpause, die einem Streikverbot gleichkam und die Dynamik abwürgte.
Gewerkschaften und Kolleg*innen müssen sich gegen härtere Angriffe des Staates und der Unternehmen wappnen und diese konsequent beantworten. Dazu gehört auch, die Reaktionen auf Klagen oder Versuche von Streikverboten in Vollversammlungen der Beschäftigten zu besprechen, demokratisch zu entscheiden und gemeinsame Antworten darauf zu finden.
Auch gegen Angriffe der Polizei könnten in den kommenden Jahren – nicht nur am Hafen – Sicherheitskonzepte wichtig werden, die durch gewählte Strukturen in den Betrieben und Gewerkschaften erst wirklich wirksam sind. Auch angesichts der vielen Überstunden geht es in den Häfen nicht nur um den Ausgleich der Teuerung, sondern auch um Arbeitsentlastung und Gesundheitsschutz, der die Unternehmen ebenfalls einiges kosten muss.
Foto: Maxi Schulz/klassegegenklasse.org
Logistik in der multiplen Krise
Landauf, landab schimpften neoliberale Politiker*innen auf die Hafenarbeiter*innen. Unternehmen fürchteten die Lieferengpässe und klagten gegen das Streikrecht. Doch nicht der Hafenstreik hat die Krise bei den Lieferengpässen verschärft, sondern das System selbst ist nicht in der Lage, die Zirkulation von Warenkapital aufrechtzuerhalten.
Faktor Corona: Insbesondere Arbeiter*innen im Transportsektor waren die ersten, die von der Pandemie betroffen waren. Viele erkrankten, einige starben und hinterließen leere Arbeitsplätze. Gleichzeitig nutzten viele Transportunternehmen die Pandemie als Argument, Arbeitsstellen abzubauen und die steigenden Umschlagszahlen auf immer weniger arbeitende Körper abzuwälzen. Viele brannten aus durch Überlastung, auch jetzt sind 60 Überstunden pro Monat in deutschen Häfen die Regel. Die Kolleg*innen wollen nicht nur mehr Lohn, sie wollen – ähnlich wie in der Pflege und anderen Bereichen – nicht mehr für den Konkurrenzdruck der Konzerne ausgepresst werden.
Faktor Klima: In Deutschland und vielen anderen Ländern wird ein Teil des Warentransportes auf den Flüssen organisiert. Allerdings sind die Pegel von Rhein, Elbe und Donau durch die Trockenheit stark gefallen, in Italien ist der gewaltige Po nur noch ein Rinnsal. Dadurch ist der Transport auf den Flüssen stark gedrosselt worden. Es gibt zu wenig Eisenbahner*innen und Schienen, um das darüber abzufangen. Die Klimakrise führt auch zu möglichen Überschwemmungen an Häfen, insgesamt bedroht sie die globale Warenzirkulation. Gleichzeitig sind Hafenarbeiter*innen gezwungen, bei Rekordtemperaturen von über 40 Grad zu schuften.
Die Krise im Logistiksektor ist eine Systemkrise. Streiks sind ein Symptom der gestiegenen Ausbeutung und der realen Macht, die Arbeiter*innen in den wirtschaftlich anfälligen Betrieben haben.