Zum 31. Dezember soll der Betrieb der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland enden. Eigentlich – denn jetzt gibt es viele Forderungen aus Wirtschaft und Politik, die Laufzeit zu verlängern. Das Argument: Atomstrom soll helfen, den Gasmangel auszugleichen.
Von Georg Kümmel, Köln
Derzeit ist es genau umgekehrt: In Deutschland wird vermehrt Gas eingesetzt, um Strom nach Frankreich zu exportieren, denn im Atomkraft-Land Nr.1 herrscht Mangel. Frankreich produziert normalerweise 70 Prozent seines Stroms in Atomkraftwerken. Derzeit stehen viele von ihnen still, weil sie gewartet oder repariert werden müssen. Von den übrigen können einige gar nicht oder nur mit reduzierter Leistung betrieben werden, da aufgrund des trockenen und heißen Sommers kaum noch Kühlwasser aus den Flüssen zur Verfügung steht.
Dennoch wird hartnäckig für eine Renaissance der Atomkraft in Deutschland und weltweit geworben. Die Grünen verteidigen den Ausstieg höchstens halbherzig und mit formalen Argumenten. Der Weiterbetrieb sei zu kompliziert und so kurzfristig kaum machbar.
Unkalkulierbares Risiko
Das entscheidende Argument gegen Atomstrom ist und bleibt jedoch: das Risiko ist unkalkulierbar. Selbst bei den bisher größten Unfällen, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011, hatten Millionen immer noch Glück im Unglück. 1986 blieben die 2,5 Millionen Einwohner*innen im nur 120 Kilometer entfernten Kiew von konzentrierter Radioaktivität weitgehend verschont. Stattdessen verteilte der Wind sie über große Gebiete Europas und der Welt. In Fukushima wurden circa 80 Prozent der freigesetzten Radioaktivität durch günstige Winde aufs Meer hinaus getragen.
1979 kam es im amerikanischen Atomkraftwerk Three-Miles-Island bei Harrisburg zu einer partiellen Kernschmelze. „Nur Glück verhinderte Schlimmeres“, resümiert der Spiegel in einem Rückblick auf die Beinahe-Katastrophe.
Bei einem AKW kann der Reaktor explodieren oder als glühende Kugel die Hülle durchschweißen und das Grundwasser nuklear verseuchen. Die Erfahrung lehrt: Unfälle, die theoretisch möglich sind, treten irgendwann auch ein. Eine atomare Katastrophe könnte zudem durch einen Terroranschlag oder in einem Krieg ausgelöst werden, versehentlich oder absichtlich. Ein zerschossenes Windrad ist deutlich ungefährlicher.
Müll für die Ewigkeit
Beim Betrieb eines AKW werden unvermeidlich neue radioaktive Stoffe erzeugt, darunter Plutonium. Eingeatmet sind bereits Millionstel Gramm absolut krebserzeugend. Plutonium hat eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren. Die in einem einzigen AKW entstehenden Mengen müssen über hunderttausende Jahre abgeschottet gelagert werden. Bisher hat noch kein Land der Welt ein Endlager für Atommüll. Alle vorhandenen Lagerplätze sind Zwischenlösungen.
Atomkraft ist teuer
Schon der Bau eines AKW kostet Milliarden. Teurer und unkalkulierbar sind die Folgekosten, auch ohne Unfall. Vor allem für die Lagerung des Atommülls werden viele Generationen den Preis bezahlen. Die Milliardenkosten für Bau und Entsorgung fehlen als Investitionsmittel in erneuerbare Energien. Der Gegensatz Atomkraft oder CO2 entpuppt sich in der Praxis als unvermeidliches Duo.
Umweltschädlich auch im Normal-Betrieb
Bei der Stromproduktion entsteht zwar kein CO2, doch es werden radioaktive Partikel frei, die an die Außenluft abgegeben werden müssen. Daher hat jedes AKW auch einen “Schornstein” für die Abluft. Außerdem heizen AKW mit ihrer Abwärme die Flüsse auf – zurzeit ein großes Problem in Frankreich und der Schweiz. Fast alle AKW, die mit Flusswasser gekühlt werden, müssen im Sommer ihre Leistung drosseln.
Kaum Einsparung
Erdgas wird in Industrie und Haushalten hauptsächlich zur Wärmeerzeugung benötigt. Nur ca. 12 Prozent des Erdgasverbrauchs wird zur Stromerzeugung eingesetzt.
Eine Verlängerung der Laufzeiten der drei Atomkraftwerke könnte nur ca. ein Prozent des Erdgasbedarfs ersetzen. Die Gaskrise ließe sich damit nicht lösen.
Einstieg statt Ausstieg?
Warum wird dann über einen sogenannten Streckbetrieb der AKW in Deutschland überhaupt ernsthaft diskutiert? Darauf gibt es nur zwei sinnvolle Antworten: Die Betreiber könnten einen zusätzlichen Gewinn machen. Wie bei einem schrottreifen Auto, bei dem zwar der TÜV abgelaufen, aber noch etwas Sprit im Tank ist, und das mit einer Ausnahmegenehmigung noch eine Weile weiter gefahren werden darf.
Es kann aber auch der Einstieg in den Ausstieg aus dem Ausstieg sein. Angesichts der neuen Weltlage könnten Wirtschaft und Politik auch in Deutschland wieder auf Atomkraft setzen. Weltweit sollen 86 Atomkraftwerke bis 2030 fertiggestellt werden, zwei Drittel davon in China und Indien. Deutschland wäre zwar auf Uranimporte angewiesen, doch Russland fördert nur fünf Prozent des weltweit verbrauchten Urans, China nur 2,5 Prozent. Über die mit Abstand größten Uranreserven weltweit verfügen Australien und Kanada, die beide zum sogenannten westlichen Lager zählen
Leider spricht vieles dafür, dass die Gaskrise als Vorwand genutzt werden soll, um mit dem Weiterbetrieb der AKW mindestens die Option auf Wiedereinstieg in die Nutzung der Atomkraft im großen Stil aufrechtzuerhalten. Technisch und vor allem politisch wäre es deutlich einfacher, die Atomstromproduktion wieder auszuweiten, statt eine bereits beerdigte Technologie neu zu starten.
Die Alternative ist: Atomkraft und Verbrennung fossiler Energieträger beenden – durch den schnellen und umfassenden Ausbau erneuerbarer Energien.
Tödliche Monopole
Warum hängt die Welt immer noch an Atomkraft und fossilen Energien, die mit hohem Risiko oder mit absoluter Gewissheit tödlich für Mensch und Umwelt sind? Weil sich fossile Energiequellen und Atomkraftwerke monopolisieren lassen. Ein paar Dutzend Energiekonzernen gehören weltweit die Kraftwerke, Kohlegruben, Ölquellen und Gasfelder.
Photovoltaik und Windenergie sind ihrer Natur nach dezentral. Die Sonne scheint über allen Menschen und in allen Ländern und der Wind weht allen um die Nase. Das macht es schwieriger, sie in eine Profit-Quelle exklusiv für einige Konzerne zu verwandeln.
Das spricht nicht gegen erneuerbare Energien, sondern dafür, die Macht der Konzerne zu brechen und den Kapitalismus zu überwinden. Klimaextreme und Atomunfälle sind die apokalyptischen Reiter von heute. Sie mahnen eindringlich: ein System, das nur ein “weiter so” kennt, muss abgeschafft werden – oder es schafft uns ab.
Bild: Chrischerf, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons