Dass sich bei steigenden Lebenshaltungskosten das eigene Einkommen automatisch anpasst, klingt für die meisten Arbeiter*innen in Deutschland utopisch. Nur in ganz wenigen Tarifverträgen gibt es hier entsprechende Klauseln. In einigen EU-Ländern wurden solche Indexlöhne genannten Regelungen aber schon vor Jahrzehnten erkämpft und gesetzlich verankert.
Von Thies Wilkening, Hamburg
Vor dem Zweiten Weltkrieg war die damals als „gleitende Lohnskala“ bekannte automatische Inflationsanpassung der Gehälter eine wichtige Forderung in der Arbeiter*innenbewegung, die in vielen europäischen Ländern allgemein oder zumindest für große Branchen erkämpft wurde. Noch heute gibt es zum Beispiel in Spanien entsprechende Klauseln in vielen Tarifverträgen, auch wenn durch den Neoliberalismus und die Schwäche der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten Indexlöhne zurückgedrängt und gesetzliche Regelungen in einigen Ländern abgeschafft wurden. In Belgien, Luxemburg, Malta und Zypern ist die Indexierung bis heute per Gesetz vorgeschrieben.
Beispiel Belgien
In Belgien werden die Löhne und Sozialleistungen automatisch erhöht, sobald der Durchschnitt der Vebraucherpreise, der „Index“, seit der letzten Lohnerhöhung um mindestens 2% gestiegen ist. Seit 1994 ist die Berechnungsgrundlage der sogenannte „Gesundheitsindex“, bei dem die Preise für Alkohol, Tabakwaren, Benzin und Diesel nicht mit einberechnet werden. Damit liegt dieser aktuell etwa einen Prozentpunkt unter der Inflationsrate – aber trotzdem 8,5% höher als vor einem Jahr.
Der Index zeigt eine deutliche Wirkung. In den Jahren 1999-2017 sind die Bruttolöhne in Belgien um 58% gestiegen, in Deutschland im gleichen Zeitraum nur um 15%. Auch die Sozialleistungen sind indexiert und werden regelmäßig einen Monat nach den Löhnen erhöht. Damit sind Lohnabhängige, Erwerbslose und Rentner*innen in Belgien vor Armut durch steigende Lebenshaltungskosten weitgehend geschützt – ganz anders als in Deutschland.
Natürlich ist in Belgien für Arbeiter*innen nicht alles perfekt. Wie jede soziale Errungenschaft im Kapitalismus ist auch der Indexlohn von Angriffen der Herrschenden bedroht. Lohnerhöhungen darüber hinaus sind seit einigen Jahren gesetzlich begrenzt, und Gewerkschafter*innen und Sozialist*innen kämpfen gegen das „Lohngesetz“, das die Wirkung des Indexlohns begrenzt. Immer wieder greifen die Unternehmer*innen, ihre Parteien und die Regierung den Index an und fordern Indexsprünge, also den Verzicht auf Gehaltserhöhungen. In einigen Branchen wird die Regelung durch Tarifverträge weitgehend umgangen. Aber bisher waren die Gewerkschaften unter dem Druck ihrer aktiven Basis stark genug, den Index zu verteidigen – und das zahlt sich jetzt angesichts der Preisexplosion aus.
Indexlöhne erkämpfen – tariflich und politisch
Vor kurzem hat ver.di bei Condor per Tarifvertrag eine automatische Inflationsanpassung erreicht. Die Regelung greift, wenn die Inflation im nächsten Jahr weiter über 5% liegt und führt zu einer Lohnerhöhung um 2%. Bei Eurowings gibt es schon länger eine ähnliche Regelung. Das ist noch kein wirklicher Indexlohn, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Alle Gewerkschaften sollten in den nächsten Tarifrunden die automatische Anpassung fordern, zum Beispiel in der kommenden Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst.
Um alle Gehälter und auch die Sozialleistungen vor der Inflation schützen zu können, ist eine gesetzliche Regelung notwendig. Dafür gäbe es großen gesellschaftlichen Rückhalt – bei einer Forsa-Umfrage im Mai waren 70% der Befragten für einen Indexlohn. Beim letzten Bundesparteitag der LINKEN hat die AKL (Antikapitalistische Linke) vorgeschlagen, eine automatische Inflationsanpassung der Löhne als Forderung in den Leitantrag aufzunehmen. Leider wurde der Antrag nach drei Minuten Diskussion mit dem Argument abgelehnt, er verstoße gegen die Tarifautonomie. Ein Indexlohn würde aber die Gewerkschaften nicht schwächen, sondern stärken, weil er ihnen ermöglichen würde, für echte Verbesserungen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen zu kämpfen, statt nur Abwehrkämpfe gegen Reallohnverlust zu führen. Deshalb sollte der automatische Inflationsausgleich auch bei den Protesten gegen die Preissteigerungen im „heißen Herbst“ eine zentrale Forderung sein.