9-Euro-Fonds: Irgendwie eine gute Idee und doch keine Lösung

Das 9-Euro-Ticket ist Geschichte. Mit der Initiative „9-Euro-Fonds: Ein Ticket für Alle“ gibt es jetzt scheinbar eine Möglichkeit, eine Kampagne für kostenfreien ÖPNV zu führen und gleichzeitig weiter günstig mit Bus und Bahn zu fahren. 

Von Ianka Pigors, Hamburg

Es handelt sich praktisch um eine „Schwarzfahrversicherung“: Alle Mitglieder zahlen regelmäßig einen kleinen Betrag in eine Gemeinschaftskasse ein statt Tickets für den ÖPNV zu kaufen. Werden sie beim Fahren ohne Ticket erwischt, wird das „erhöhte Beförderungsentgelt“ aus der Kasse bezahlt. 

Betrachtet man nur das „erhöhte Beförderungsentgelt“, ist Fahren ohne gültigen Fahrausweise in der Regel billiger als Tickets zu kaufen: Ein Monatsticket für das Hamburger Stadtgebiet kostet im Abo 93,70 EURO, die Strafzahlung fürs „Schwarzfahren“ beträgt 60 Euro. Die Wahrscheinlichkeit, häufiger als einmal pro Monat kontrolliert zu werden, ist eher gering.

Strafandrohung

Mit einer „Schwarzfahrer*innenversicherung“ würde das finanzielle Restrisiko zwischen Viel- und Wenigfahrer*innen ausgeglichen und damit für die Einzelnen noch weiter reduziert. Das klingt auf den ersten Blick gut. Allerdings wird außer Acht gelassen, dass das Risiko beim Schwarzfahren nicht in erster Linie darin besteht, mit dem „erhöhten Beförderungsentgelt“ mehr zu zahlen, als für ein reguläres Ticket. Das Problem für die meisten Menschen besteht darin, dass fast alle Verkehrsverbünde spätestens nach dem dritten „Schwarzfahren“ Anzeige wegen „Erschleichung von Leistungen“ erstatten. Die Geldstrafen, die für Ersttäter*innen ausgeurteilt werden, sind inklusive Gerichtskosten erheblich höher als 60 Euro. Wenn Geldstrafen nicht bezahlt werden (können), drohen Ersatzfreiheitsstrafen. Wer mehrfach wegen Schwarzfahrens belangt  wird, kann als Wiederholungstäter*in zu Freiheitsstrafen verurteilt werden, für die es irgendwann keine Bewährung mehr gibt. In den Jahren 2019 bis 2021 wurden pro Jahr etwa tausend Menschen wegen „Beförderungserschleichung“ inhaftiert. Die „Versicherung“ des 9-Euro-Fonds deckt Geldstrafen, Gerichtskosten und die Folgekosten einer Gefängnisstrafe – und damit das größte Risiko – ausdrücklich nicht ab. 

Die Gefahr wegen Leistungserschleichung  kriminalisiert zu werden, ist innerhalb der Arbeiter*innenklasse ungerecht verteilt ist. So werden Schwarze Menschen häufiger kontrolliert und durch Sicherheitspersonal schikaniert. „Schwarzfahren“ ist für Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus und für sehr arme Leute ungleich gefährlicher, als für die, für die ein erhöhtes Beförderungsentgelt „nur“ eine unangenehme finanzielle Belastung ist.

Solidarität, aber wie?

Allerdings gilt auch: Jede Form des Protests, jede Form kritischer Meinungsäußerung ist für einige Teile der Arbeiter*innenklasse gefährlicher als für andere. Wer einen befristeten Arbeitsvertrag hat, widerspricht dem Chef nicht so leicht ungestraft, wie der Kollege mit dem Festvertrag. Kapitalismus stützt sich auf systematische Ungleichbehandlung. Gerade dadurch, dass einige von uns mehr zu verlieren haben als andere, wird kollektiver Widerstand erschwert. Für die herrschende Klasse ist es überlebenswichtig, diesen Zustand aufrechtzuerhalten. 

Würden wir uns darauf einlassen und nur Aktionsformen wählen, bei der alle Beteiligten unabhängig von Geschlecht und Geschlechtsidentität, ethnischer und religiöser Herkunft, sexueller Orientierung, Aufenthaltsstatus, Arbeitsvertrag und persönlicher Biographie oder körperlicher Fitness dieselben Risiken eingehen würden, wären wir handlungsunfähig.

Das Problem des 9-Euro-Fonds ist nicht, dass die Kampagne in ihrer jetzigen Form nicht inklusiv, also für jede* und jeden in gleicher Weise nutzbar ist. Das Problem ist, dass sie zwar mit kollektivem Protest argumentiert, im Ergebnis aber nur individuelle Lösungen für eine Minderheit anbietet. 

Eine kollektive Lösung wäre ein Aufruf zum massenhaften Boykott von Ticketkontrollen, verbunden mit Solidaritätskampagnen für alle, die für die Weigerung, einen Fahrschein zu zeigen, kriminalisiert und ausländerrechtlich benachteiligt werden. Hier könnte ein Spendenaufruf zur Unterstützung aller, deren Existenz durch Gerichtskosten, Geldstrafen und die sozialen Folgen von Kriminalisierung und Haftstrafen – Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnung –  bedroht wird, tatsächlich nützlich sein. Solidarität bedeutet, kollektiv für die Angreifbarsten in der Gruppe einzustehen und ihre Rechte kompromisslos zu verteidigen. Nur so kann die größtmögliche Einheit hergestellt werden.