Als Reaktion auf den imperialistischen Überfall der russischen Truppen auf die Ukraine kündigte die deutsche Regierung im Mai 2022 ein “schnelles und unbürokratisches Visumverfahren“ für „bedrohte Russinnen und Russen“ an. Tausende Friedensaktivist*innen, Wehrdienstverweigerer*innen und oppositionelle Journalist*innen befinden sich in der Falle und müssen Haft, körperliche Angriffen oder die Zwangsmobilisierung in die Armee fürchten. Die Aktivist*innen brauchen Schutz und zwar sofort. Rechtliche Voraussetzung dafür ist “eine aktuelle individuelle Bedrohung für verschiedene Gruppen von Personen“.
Von Sascha Rakowski
Es klang endlich mal nach einer guten Mission für die deutsche Bürokratie. Jedoch steckt der Teufel in Details und in den Aktenstapeln. Laut Deutsche Welle teilte das Bundesinnenministerium auf Anfrage mit, dass insgesamt 241 russische Staatsbürger*innen ein Visum erhalten hatten, darunter 144 bedrohte Oppositionelle und 97 Familienangehörige. 144 bedrohte Oppositionelle – in diesem Tempo schaffen die Papierkrieger*innen bis Weihnachten nicht einmal, 300 Anträge zu bearbeiten..
Asyl nur für Promis
Sogar bei dieser schon peinlich klingenden „Hilfe“ gibt es einen Haken. Oppositionell ist nicht gleich oppositionell. Faktisch begrenzt sich die Maßnahme nur auf mehr oder weniger prominente Figuren, die in Russland als „ausländische Agenten“ verunglimpft werden und in NGOs oder als Journalist*innen tätig waren. Es betrifft nur wenige Vertreter*innen der rechtsliberalen, bürgerlichen Opposition. Als politisch aktive Student*in, Sozialist*in, Anarchist*in, Gewerkschafter*in bist du Putins Polizei und Geheimdiensten ausgeliefert oder musst schweigen.
Nur einen Tag vor Putins Teilmobilmachung wurden die Grenzen Polens und der baltischen Staaten für russische Bürger*innen mit Schengen-Visum geschlossen. Schon zuvor befanden sich viele Tausend Antikriegsaktivist*innen und insgesamt über Hunderttausend geflüchtete Russen*innen in Georgien, Armenien oder Kirgistan, wo sie von einer Auslieferung nach Russland bedroht sind. Viele sind in autoritäre Staaten wie Kasachstan oder Türkei geflohen, die ihre eigenen politischen Gegner*innen einsperren.
Mit der Ankündigung der Mobilmachung hat die Fluchtwelle an Fahrt aufgenommen. Flüge ins Ausland sind ausgebucht oder kosten über 10.000 Euro, an Grenzübergängen raus aus Russland stauen sich die Fahrzeuge.
Besonders zynisch ist die faktische Visumverweigerung für die Dienstverweigerer*innen und Fahnenflüchtigen. Laut dem BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) sind „Wehrdienstverweigerung oder Fahnenflucht […] nicht automatisch Gründe für die Gewährung von Schutz in Deutschland […] die Einberufung in die russische Armee auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht ist an sich noch kein Schutzgrund. Die Russische Föderation hat wie andere Staaten einen Rechtsanspruch auf den Unterhalt von Streitkräften.“ In Kriegszeiten gelten die leeren Paragraphen scheinbar genau so wie im Frieden und sogar die Apokalypse kann in der Vorstellung der deutschen Bürokrat*innen nur mit behördlicher Genehmigung und Unterschrift beginnen.
Das ist ein direkter Verrat an den Tausenden russischen Fahnenflüchtigen, die bereits jetzt Opfer von Verfolgung, Inhaftierung und Folter wurden. Es ist ein Verrat an den wahren Held*innen, die statt für Geld und Orden zu kämpfen, “Nein” zum Staatsapparat sagen.
Der eiserne Vorhang hängt bereits, jedoch nicht für diejenigen, die reich oder prominent sind. Die Familien der russischen herrschenden Klasse fühlen sich weiterhin gut in ihren deutschen Villen. Die Kriegsdienstverweigerer*innen und Fahnenflüchtigen haben weder einen Gerhard Schröder noch renommierte Anwält*innen.
Geflüchtete aus der Ukraine
Die EU hat für ukrainische Kriegsflüchtlinge die Anwendbarkeit der sogenannten “Massenzustromsrichlinie” festgestellt. Ziel dieser Richtlinie ist es laut Artikel. 1 “Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, festzulegen.”
„Vertriebene“ im Sinne der Richtlinie sind “Staatsangehörige von Drittländern oder Staatenlose, die ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion haben verlassen müssen (…) und wegen der in diesem Land herrschenden Lage nicht sicher und dauerhaft zurückkehren können. (…) Dies gilt insbesondere für Personen, die ernsthaft von systematischen oder weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen bedroht waren oder Opfer solcher Menschenrechtsverletzungen sind.”
Die Richtlinie könnte unproblematisch auf russische Friedensaktivist*innen, Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen angewendet werden – es fehlt nur am politischen Willen. Damit haben Flüchtende aus der russischen Föderation nicht die gleichen Privilegien wie die Ukrainer*innen, die sich demselben Krieg entziehen wollen, sondern teilen das Schicksal Geflüchteter aus der neokolonialen Welt.
Wir fordern die sofortige Aufnahme und unbürokratischen Schutz für alle politischen Aktivisten*innen, Deserteur*innen und Kriegsdienstverweigerer*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine, aber auch aus allen anderen Kriegsgebieten, wie Afghanistan, Jemen und Äthiopien. Das bedeutet vor allem die Befreiung von allen erniedrigenden bürokratischen Formalitäten, die Anerkennung aller Schul- und Berufsqualifikationen, eine Arbeitserlaubnis, Hilfe bei der Integration und Eingliederung in den Arbeitsmarkt, medizinische und psychologische Hilfe sowie eine Bewegungsfreiheit in Deutschland und der EU.
Wir brauchen ein europaweites, koordiniertes Hilfsprogramm. Die von der EU und den USA „eingefrorenen“ 300 Milliarden Euro der russischen Regierung und das in europäischen Banken gebunkerte Kapital der russischen Oligarchen könnte bei diesen Maßnahmen gut helfen. Auch die für die Aufrüstung geplanten 100 Milliarden Euro der Bundesregierung könnten wir gut für soziale Projekte gebrauchen.
Jede Hilfe für die russische Antikriegsbewegung erschwert die Kriegsführung des russischen Imperialismus. Internationale Solidarität mit den russischen Kriegsgegner*innen bringt das Ende des Krieges näher. Nur die russische Arbeiter*innenklasse kann Putin, seinen Oligarchen und Generälen das Genick brechen und Frieden in Osteuropa bringen.