Die Geschichte ist nach Europa zurückgekehrt, das friedlich auf den Lorbeeren und den Ruinen des Sieges im Kalten Krieg ruhte. Ihr Schwungrad dreht sich immer schneller und es scheint nichts zu geben, das uns noch überraschen könnte. Die Explosion aller Wirtschaftsbeziehungen – kein Problem; ein großer Krieg in Europa – warum nicht; ein nuklearer Konflikt – ja, lassen Sie uns darüber in unseren Talkshows reden. Der vom russischen Imperialismus begonnene Krieg beschleunigt historische Prozesse weltweit.
Von Sascha Rakowski
Am 6. September startete die ukrainische Armee eine Offensive im Nordwesten der Ukraine, nachdem es ihr gelungen war, das russische Hauptquartier im August mit einem Angriff im Süden auf Cherson abzulenken. Dem ukrainischen Generalstab gelang es, an einer Schwachstelle der dünnen defensiven Linie der russischen Truppen anzugreifen. Um einer drohenden Einkreisung zu entgehen, zogen sich diese nach Süden und Osten zurück und hinterließen große und kleine Siedlungen, Lager und militärische Ausrüstung. Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte nach einer Woche die Militärkarte, die zeigte, dass die russischen Truppen die Kontrolle über 8370 Quadratkilometer der Region Charkiw (russ. Charkow) verloren hatten.
Die erfolgreiche Charkiw-Offensive und ihre Folgen
Diese Operation ist zu einem moralischen Sieg für die ukrainische Armee geworden. Die ukrainische Armee bewies ihre Fähigkeit, auf dem Schlachtfeld zu siegen. In Russland hatte der ruhmlose Rückzug eine Schockwirkung auf die herrschende Klasse und die ganze Gesellschaft. Es ist unmöglich geworden, die Siegesberichte zu glauben und die deutlichen Planungsfehler, Verluste, Probleme bei der Logistik und der Aufklärung, die Korruption und Unfähigkeit hochrangiger Offiziere zu übersehen.
Den russischen Befehlshabenden ist deutlich geworden, dass es nicht mehr möglich ist, der ukrainischen Massenarmee von 700.000 Menschen mit einer Armee von 300.000 Mann zu widerstehen. Die Lieferung westlicher Waffen machte den anfänglichen technischen Vorteil der russischen Armee zunichte. Am schmerzhaftesten für die russische Armee ist die Pattsituation in der Luft. Die russische und ukrainische Luftabwehr blockieren effektiv die Möglichkeit eines gegenseitigen Luftangriffs. Der Verlust der Hälfte der ukrainischen Luftverteidigungssysteme wurde durch westliche Lieferungen und Rund-um-die-Uhr-Unterstützung durch NATO-Aufklärungsflugzeuge und -Satelliten kompensiert. Flugzeuge und Hubschrauber wurden nur für kurze Dolchstöße direkt an der Front eingesetzt. Der Einsatz russischer Flugzeuge wurde für die Dauer der Offensive effektiv blockiert.
Ein wichtiger Faktor für die blutige Pattsituation im Süden und Osten und für den Sieg in Charkiw war die Ablehnung der Besatzung von Seiten der ukrainischen Bevölkerung. Ständige Angriffe auf die Infrastruktur der russischen Armee, die Ermordung von Kollaborateur*innen und Hass gegen die Besatzungsmacht demoralisierten die russischen Soldat*innen. Sie mussten oft Polizeifunktionen in den besetzten Gebieten übernehmen. Dass es zwischen den Besatzer*innen und den Besetzten keine Sprachbarriere gibt, verschlechterte die Stimmung der russischen Soldaten.
Kein Plan B für Putin
Tatsächlich hat Putin nur drei Trümpfe in der Hand, die er im aktuellen Krieg nutzen könnte. Dies sind Angriffe auf die zivile Energieinfrastruktur der Ukraine, die Stationierung einer großen Massenarmee an der Front und im Falle des Scheiterns aller Strategien der Einsatz taktischer oder strategischer Atomwaffen. Die ersten Schläge gegen ukrainische Umspannwerke und Dämme wurden in den letzten Wochen bereits verübt, was zu Stromausfällen und Überschwemmungen führte.
Zu einer ständigen Forderung der korrupten staatlichen Propagandist*innen wurde die Forderung, die Ukrainer*innen um jeden Preis zu bestrafen, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen. Zumindest schrieb das der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew, der die Liebe zu apokalyptischen Zitaten aus der Offenbarung des Johannes mit der Liebe zu starken Getränken zu verbinden scheint, auf seinem Telegram-Kanal. Russische Nationalist*innen, von richtigen Nazis bis hin zu pseudolinken Sozialchauvinisten aus der „Kommunistischen“ Partei” und von „Gerechtes Russland“ bestehen ebenfalls auf Massenmobilisierung und dem totalen Krieg.
Teilmobilisierung und Proteste
Putin, der die russische Geschichte gut kennt, hat Angst, Hunderttausende Reservisten zu bewaffnen. Niemand weiß, wohin sie morgen ihre Waffen wenden. Aber im Moment hat der Bonaparte einfach keinen Ausweg. Die Generäle, die Falken des Krieges, die Militärlobby im Parlament und die unterwürfigen Propagandist*innen rütteln ständig am instabilen Thron des autoritären Herrschers. Der Versuch, neue Freiwilligen-Bataillone zu schaffen, ist bereits gescheitert. Die meisten Russ*innen sind im Februar nicht zu Kundgebungen gegen den Krieg gegangen. Sie wollen allerdings auch nicht für Putins Interessen in einem fremden Land sterben. Auch die russischen Oligarch*innen zeigen keine besondere patriotische Motivation. Prigoschin, der Chef der berüchtigten Söldnertruppe Wagner, beklagte, dass keine*r der russischen Milliardär*innen durch finanzielle oder organisatorische Unterstützung für Freiwilligenbataillone aufgefallen ist. Prigoschin selbst war stolz auf die „erfolgreiche“ Mobilisierung mehrerer Tausend russischer Gefängnisinsassen, denen die Freiheit nach sechs Monaten Frontkampf versprochen wurde.
Der Krieg ist zu Putins persönlichem Projekt geworden. Nicht nur seine politische Karriere hängt vom Sieg oder der Niederlage der russischen Armee in der Ukraine ab, sondern auch sein Leben und das Schicksal seines 20 Jahre alten politischen Regimes. Am 21. September ging Putin all-in. Das bonapartistisch-oligarchische Regime war trotz seiner Angst vor der Bewaffnung größerer Teile der Bevölkerung gezwungen, sich für eine Teilmobilisierung zu entscheiden. Zunächst wurde verlautbart, dass es darum gehe, 300.000 Soldat*innen zu mobilisieren. Doch die Struktur der „Teilmobilisierung“ ist so gestaltet, dass fast alle erwachsenen Männer und Frauen bis zum 55. Lebensjahr bei Bedarf einberufen werden können. Reserveoffiziere können bis zum 60. Lebensjahr einberufen werden.
Putins Erklärung verursachte eine breite Palette von Protesten, die zwar zahlenmäßig kleiner waren als die Antikriegsproteste im Februar, sie jedoch in ihrer Radikalität übertrafen. Während in Moskau und St. Petersburg am 21. und 22. Februar vor allem Studierende auf die Straße gingen, schlossen sich in Sacha, Jakutien, in Tschetschenien, Kabardino-Balkarien und Dagestan die Eltern und Verwandten der mobilisierten Soldat*innen den Protesten an. Vor allem in Dagestan leisteten Demonstrierende wiederholt Widerstand gegen die Polizei und blockierten Bundesstraßen. Die genaue Zahl der Inhaftierten ist unbekannt. Allein in den großen Metropolen verhaftete die Polizei 1400 Menschen. Besonders zynisch: Zur Abschreckung wurden 200 der Verhafteten in Moskau und St. Petersburg direkt zur Armee mobilisiert. Die Polizei schikaniert überall Demonstrant*innen. Gendarmen brechen in Häuser ein, schlagen Menschen, die an Protesten teilgenommen haben und erzwingen eine auf Video aufgenommene Reue. Eine weitere indirekte Form des Protests war der Massenexodus russischer Jugendlicher in die Nachbarländer. Fast 100.000 Menschen sind allein in Kasachstan angekommen. In einer Woche kamen 10.000 Menschen nach Armenien. Die Zahl der Menschen, die nach Finnland ausreisen, stieg um 40%.
„Volksabstimmungen“ und weitere Perspektiven
Bei dem Versuch, die russische Bevölkerung und Armee aufzumuntern, organisierte Putins Regierung sogenannte Referenden, um den Beitritt zur Russischen Föderation in vier besetzten Regionen der Ukraine zu initiieren. Tatsächlich sprechen wir nicht von einer fairen Volksabstimmung, sondern von einer direkten imperialistischen Annexion mit vorgehaltener Waffe. Bis zu einem gewissen Grad wird die Annexion auch zu einem Mittel der politischen Erpressung. Schließlich erhält die russische Armee, wenn jemand das Territorium Russlands angreift, das Recht, Atomwaffen einzusetzen. Möglicherweise sollte die Annexion die Selenskyj-Regierung zu Friedensgesprächen drängen.
Trotz politischer Turbulenzen in der Russischen Föderation und der weiteren Erosion des russischen Bonapartismus hat Putin etwas Zeit, um eine militärische Lösung zu riskieren. Die russische Wirtschaft leidet unter Sanktionen, aber hohe Energiepreise und Militäraufträge scheinen den Rückgang des BIPs auf 2-4% deutlich abgemildert zu haben. Die militärischen Verluste können zwischen 6000 und 10.000 toten Soldat*innen liegen, was im Moment noch keine erschütternde Auswirkung auf die russische Gesellschaft hat.
In den nächsten drei Monaten kann die Zahl der Soldat*innen auf beiden Seiten der Front um das Zwei- oder Mehrfache steigen. Die Gesamtzahl der Kombattant*innen kann bald zwei Millionen erreichen. Russland, die Ukraine, die EU und die Vereinigten Staaten sind bereits daran beteiligt, den unersättlichen Moloch des Krieges zu füttern. Die Quantität und Qualität der Vernichtungsmittel wird weiter wachsen und die Ostukraine in eine Schuttwüste verwandeln.
Die russische Arbeiter*innenklasse hat keine andere Wahl als zur Hauptprotagonistin dieser blutigen Tragödie zu werden. Nicht als Masse stiller Statist*innen, sondern als aktiv Handelnde, die den Kampf gegen die Mobilisierung und den Krieg aufnehmen, sich organisieren, um den Kriegseinsatz zu verweigern oder ihre Waffen nutzen, um sie gegen die eigenen Herrschenden zu wenden und Russland und Osteuropa von dem Gendarm Wladimir Putin zu befreien. Auch um Jahre 1917 waren es die Soldat*innen und Arbeiter*innen Russlands, die dem Zaren und seinem Krieg die Gefolgschaft verweigerten und die Revolution begannen. Die Alternative ist ein langwieriger zermürbender Krieg, der Zehntausende Opfer verursacht und das Potenzial hat, Eurasien in die Eskalation und einen blutigen Strudel zu ziehen.