Das deutsche Kapital und die Ukraine

Die ukrainische Regierung hat der Regierung Scholz mehrfach vorgeworfen, die Ukraine nicht genügend zu unterstützen. Auch Teile der Linken in der Ukraine vertreten die These, das deutsche Kapital wäre vor allem daran interessiert, seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu retten. Sind die Herrschenden in Deutschland wirklich noch immer zögerlich, unentschlossen oder heimliche Putin-Fans?

SAV-Bundesvorstand

Die Interessen des deutschen Kapitals unterscheiden sich teilweise von denen der herrschenden Klassen der USA, Großbritanniens, Polen und des Baltikums. Gleichzeitig gibt es gemeinsame Interessen. Zudem entwickelt und ändert sich die Haltung sowohl des deutschen Imperialismus als auch der anderen NATO-Staaten im Laufe des Krieges.

Die Waffenlieferungen an die Ukraine stellen die umfangreichste Aufrüstung eines Nicht-Mitgliedsstaats durch die NATO seit Bestehen dieses Bündnisses dar. Schon von 2014 bis zur russischen Invasion am 24. Februar haben die USA militärische Ausrüstung im Wert von über 900 Millionen US-Dollar geliefert. Direkt danach wurde ein großer Schwung von durch eine Person bedienbaren Waffen geliefert, vor allem Panzer- und Flugabwehrgeräte. Deutschland lieferte 500 Fliegerabwehrraketen vom Typ Stinger, 2700 Fliegerfäuste vom Typ Strela und 7944 Panzerabwehrhandwaffen RGW 90 Matador.

Seitdem hat die NATO die ukrainische Armee mit schweren Waffen und zugehöriger Munition in großer Stückzahl beliefert. Polen lieferte bis zum Juni 270 modernisierte Kampfpanzer sowjetischer Bauart vom Typ T-72. Aus den USA und Deutschland wurden vor allem Artillerie-Einheiten geliefert, unter anderem die Haubitze M777, der Flakpanzer Gepard sowie MARS- und HiMARS-Systeme. Die ukrainische Armee konnte damit 2022 über 2600 Panzer verfügen und rund 1000 Einheiten selbstfahrender Artillerie. Zum Vergleich: Die USA verfügen über rund 6000 Kampfpanzer, die deutsche Bundeswehr über 266, Frankreich über 400, das Vereinigte Königreich über 227.

Warum die Verzögerungen?

Einerseits gab es innerhalb der bürgerlichen Parteien Differenzen, wie sehr man sich eine harte Frontstellung gegenüber Russland leisten könne. Vor allem die Abhängigkeit der deutschen Ökonomie vom russischen Gas, die nicht innerhalb eines Jahres überwunden werden würde, war ein Faktor dabei. Die Grünen, die FDP und viele in der CDU/CSU haben in dieser Debatte eine „atlantische“ Position eingenommen: Die geostrategische Partnerschaft mit den USA, Großbritannien und Osteuropa ist ihnen wichtiger als die kurzfristigen kommerziellen Interessen des deutschen Kapitals. Vor allem die SPD drückte hingegen die Bedenken der Teile des Kapitals aus, welche den vollständigen ökonomischen Bruch mit Russland fürchten.

Doch es hat klare Entscheidungen gegeben: Deutschland liefert schwere Waffen an die Ukraine und riskiert Engpässe bei der Energieversorgung. Die Partnerschaft mit den USA und in deren Schatten die Aufrüstung des eigenen Imperialismus überwiegen aus Sicht der Mehrheit der politischen Vertreter*innen des Kapitals in der jetzigen Phase die Bedenken.

Der Umfang der deutschen Waffenlieferungen ist im Vergleich zu anderen NATO-Staaten noch immer gering. Tatsache ist allerdings auch, dass die Bundeswehr in den letzten zwei Jahrzehnten auf gezielte Auslandseinsätze mit kleinen Truppenzahlen und Spezialkräften ausgelegt war. Als Massenarmee für symmetrische Kriege mit schwerem Gerät ist sie nicht ausreichend vorbereitet. Munition fehlt und defekte Fahrzeuge oder Abschusseinrichtungen werden nur langsam ersetzt. An schwerem Gerät hat Deutschland (Stand 06.09.22) u.a. 20 Flakpanzer GEPARD und drei Mehrfachraketenwerfer MARS. Zur Lieferung stehen 20 weitere Raketenwerfer sowie 10 weitere Flakpanzer an. Vom 1. Januar bis August 2022 wurde insgesamt militärisches Gerät im Wert von 690 Millionen Euro geliefert.

„Zeitenwende“

Während es bei den Details bezüglich der Ausrüstung der ukrainischen Armee Verzögerungen und Kontroversen gab, haben die politischen Vertreter*innen der herrschenden Klasse direkt nach Kriegsbeginn die Gelegenheiten genutzt, den deutschen Imperialismus aufzurüsten. Schon am 28. Februar verkündete Bundeskanzler Scholz im Bundestag unter dem Beifall aller prokapitalistischen Parteien eine „Zeitenwende“ und versprach ein 100-Milliarden-Sonderprogramm zur Aufrüstung der Bundeswehr und die Einhaltung des von der NATO geforderten Ziels, 2 % des jährlichen BIP für das Militär einzusetzen. Die Regierenden hatten erkannt, dass die russische Invasion und die damit verbundenen Ängste der Bevölkerung ihnen erlauben würden, Maßnahmen durchzusetzen, die vorher undenkbar gewesen wären.

Die zentrale Reaktion des deutschen Kapitals war also die massive Stärkung des Militarismus, getragen von allen bürgerlichen Parteien. Damit bereitet sich die herrschende Klasse auf kommende Kriege und Auslandseinsätze vor, die anders als bisher auch unter eigenem Kommando und „auf eigene Rechnung“ möglich werden sollen.

In seiner Rolle als „Exportweltmeister“ ist der deutsche Imperialismus in besonderem Maße von der Konfrontation der Blöcke und der wirtschaftlichen Entkopplung  betroffen, daher agierte das deutsche Kapital zunächst außenpolitisch „vorsichtiger“, das war in den letzten Jahren bezüglich China, Iran und Russland zu beobachten.

Während Russland als Absatzmarkt keine entscheidende Rolle spielt, ist Deutschland – aufgrund der organischen Unfähigkeit der Herrschenden, die Wende zu erneuerbaren Energien zu vollziehen – extrem abhängig vom russischen Gas und daher verletzlich. Der Umstieg auf andere Lieferanten, wie die USA und Katar, dauert und führt zu neuen Abhängigkeiten.

Unter dem Strich ist der deutsche Imperialismus politisch, ökonomisch und militärisch nicht in der Lage, eine eigenständige Rolle ohne oder sogar gegen die USA zu spielen, trotz aller Versuche seit den 1990er Jahren, diese Eigenständigkeit zu erreichen. Daher ist die Hauptlinie des deutschen Imperialismus auch im Ukraine-Krieg die Unterordnung unter die NATO und damit die USA. Daher liefert Deutschland Waffen und führt den Wirtschaftskrieg gegen Russland, obwohl dieser die deutsche Ökonomie härter trifft als die Wirtschaft anderer EU- oder NATO-Staaten. Gleichzeitig versuchen Politiker*innen und Militärs, den deutschen Militarismus zu stärken und die Ängste rund um den Krieg zu nutzen, um einen qualitativen Sprung in Richtung militärischer Eigenständigkeit samt Begeisterung für die Bundeswehr zu schaffen.

Vorbereitung auf kommende Konflikte

Der Imperialismus schafft seine eigene Rationalität. Oberflächlich betrachtet war der Angriff Putins auf die Ukraine Wahnsinn, bei genauerer Analyse wird deutlich, dass dem verfallenden russischen Imperialismus die Zeit davonlief und er aus seiner Sicht handeln musste. Die Zuspitzung im Pazifik scheint irrsinnig, weil es nur Verlierer geben wird und doch gehen China und die USA klare Schritte in Richtung Eskalation.

Die Vorbereitung der deutschen Regierung auf eine völlige Gas-Entkoppelung von Russland scheint angesichts des jahrzehntelangen vorsichtigen Agierens des deutschen Kapitals wie eine Art „moralisch“ inspirierter Verrücktheit und doch basiert sie möglicherweise auf der Entscheidung, dass die Zeiten des Ausgleichs vorbei sind und der deutsche Imperialismus den Rücken frei braucht, um zusammen mit seinen Verbündeten härter gegen den russischen Konkurrenten agieren zu können.

Daraus ergeben sich die zentralen Aufgaben der Arbeiter*innenbewegung und der Marxist*innen in Westeuropa allgemein und in Deutschland im Besonderen:

  1. Stellung beziehen gegen den eigenen Imperialismus und dessen Versuch, den Ukraine-Krieg zu nutzen, um aufzurüsten, Auslandseinsätze zu legitimieren und die Waffenexporte auch in Krisen- und Kriegsgebiete auszudehnen.
  2. Stellung beziehen gegen das Narrativ, es gäbe einen weltweiten Kampf „Demokratie vs. Diktatur“ und nur die Diktaturen wie Russland und China würden den Frieden bedrohen, die NATO hingegen würde diesen sichern.
  3. Eine Klassenposition einnehmen und gegen die Propaganda eintreten, alle Deutschen – Kapitalist*innen und Arbeiter*innen – säßen „im selben Boot“ und die Arbeiter*innenklasse müsste „aus Solidarität mit der Ukraine“ höhere Preise und Angriffe auf den Lebensstandard hinnehmen.
  4. Sich gegen den Versuch der bürgerlichen Parteien stellen, Vorurteile gegen Russ*innen zu fördern, russische Kultur zu canceln und damit teilweise die Verbrechen des deutschen Faschismus gegen die Sowjetunion zu relativieren. Stattdessen klare Positionierung gegen das Putin-Regime und seinen Krieg bei Betonung der Perspektive, dass es vor allem die russischen Soldat*innen und Arbeiter*innen sind, die diesen Krieg stoppen können.
  5. Konkretisierung der Perspektive, dass es im Zeitalter der eskalierenden imperialistischen Widersprüche keine wirkliche Unabhängigkeit für kleinere Länder geben wird und kein kapitalistisches Regime Lösungen wie Frieden und Wohlstand anbieten kann, sondern nur die unabhängige Aktion der Arbeiter*innenklasse dies erreichen kann.