Das islamische Regime setzt fast alles daran, den Aufstand im Iran zu brechen, der nun fast zwei Monate andauert: Militär in den Städten mit der Anweisung, „gnadenlos gegen die Demonstranten“ vorzugehen, über 200 getötete Demonstrant*innen, massenhafte Verhaftungen, Internetblockade und weitere Repressionen. Und trotzdem: selbst das Risiko des eigenen Todes treibt die Menschen nicht von der Straße: „Frau, Leben, Freiheit“, „Tod dem Diktator“, „Dies ist die letzte Botschaft – unser Ziel ist das ganze System“ – es scheint kein Zurück mehr zu geben. Die Ermordung der jungen Kurdin Jina im Iran hat einen Aufruhr ausgelöst, der nicht nur das Mullah-Regime bedroht, sondern die gesamte Region erschüttern könnte.
Von Conny Dahmen, Köln
Die Jugend spielt eine führende Rolle bei den Protesten. Trotz der zahlreichen Verhaftungen von Studierenden gehen die Uni-Streiks weiter, an über achtzig Universitäten im ganzen Land wird oder wurde der Unterricht boykottiert. Oft schließen sich Lehrende den Studierenden an.
Die Lehrer*innengewerkschaft ruft immer wieder zu Streiks auf. Das ist kein Zufall, an den Schulen ist das Lehrpersonal vor allem weiblich. Ihre Gewerkschaften hatten bereits in den letzten Jahren militante Streikaktionen organisiert, gegen Unterdrückung, unbezahlte Löhne, für bessere Arbeitsbedingungen. Den Frauen kommt insgesamt eine Schlüsselrolle in der Bewegung zu, so wie die Unterdrückung der Frauen ein Schlüsselelement für das iranische Regime ist. So war die Bewegung von Anfang an nicht nur ein Protest gegen die Hijab-Pflicht, sondern eine Rebellion gegen das gesamte Regime.
Die Radikalität der Jugendlichen inspiriert auch breitere Schichten der Arbeiter*innenklasse. Alle leiden unter der anhaltenden Wirtschaftskrise, die neben Armut auch Wasserknappheiten und eine enorme Inflation von 45 % im letzten Jahr mit sich bringt. Gleichzeitig kontrollieren die Revolutionsgarden die größten und wichtigsten Teile der Wirtschaft, die religiösen Führer bereichern sich auf dem Rücken der gesamten Arbeiter*innenklasse. So hat in den letzten Jahren die Unterstützung für die religiösen Institutionen immer mehr nachgelassen, Streiks und Aufstände nahmen hingegen zu.
Die Beschäftigten der Zuckerfabrik Haft Tappeh, die in den letzten Jahren militante Streiks organisieren und sogar die Rückverstaatlichung ihres Betriebes erreichen konnten, haben zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Auch in der Öl- und petrochemischen Industrie, einer zentralen Säule der iranischen Wirtschaft, wird gestreikt; Arbeiter*innen in der Metallindustrie, in Gas-Raffinerien und in der Stahlindustrie schließen sich an. Die Idee eines Generalstreiks wird populärer. Diese Arbeitskämpfe sind von entscheidender Bedeutung, sie könnten das Land zum Stillstand zu bringen und die Macht der Mullahs brechen.
Revolution und Konterrevolution
1979 kam es zur Revolution gegen den Schah, unter dessen Herrschaft eine kleine herrschende Elite unglaublichen Reichtum anhäufte, während die Massen verelendeten. Auch damals standen Frauen an vorderster Front und kämpften für eine wirklich demokratische Gesellschaft ohne Unterdrückung. Dennoch konnten zwischen 1979 und 1981 die Mullahs die Führung der Bewegung übernehmen. Nicht zuletzt mithilfe des westlichen Imperialismus, doch vor allem aufgrund massiver Fehler der stalinistisch und maoistisch geprägten Linken, die sich am Ende den reaktionären islamistischen Kräften in einem trügerischen, vermeintlichen Bündnis gegen den Schah unterordneten.
Einer brutale Konterrevolution war die Folge, mit Massenhinrichtungen, Verhaftungen und harter Unterdrückung der gesamten Arbeiterbewegung. Besonders die weiblichen Aktivist*innen wurden grundlegender Rechte beraubt, faktisch von der Straße geholt und zuhause eingesperrt. Frauen durften keine Richterinnen werden, Strände und Sportplätze waren nach Geschlechtern getrennt, das gesetzliche Heiratsalter für Mädchen wurde auf neun Jahre herabgesetzt, verheiratete Frauen durften keine regulären Schulen besuchen, der Hidschab wurde Pflicht. Diese Kontrolle über Körper und Kleidung der Frauen war von Anfang ideologisch zentral für das Regime, um die Arbeiter*innenklasse zu spalten.
Sie setzte sich schließlich in allen Institutionen des Systems sowie in der gesamten Gesellschaft fest. Nach offiziellen Angaben werden jedes Jahr über 2000 Frauen ermordet – durch Familienmitglieder, Polizisten und andere Sicherheitskräfte.
Alle zusammen, kein Zurück
Heute bringt die fortschreitende Urbanisierung deutliche Veränderungen in der weiblichen Bevölkerungsstruktur und damit ein neues, wachsendes Selbstbewusstsein unter Arbeiter*innen und jungen Frauen mit sich. Teil dessen ist die Entwicklung einer iranischen #metoo-Bewegung, die den alltäglichen Missbrauch und Gewalt öffentlich macht. Dass heute Frauen und Männer landesweit gemeinsam protestieren und mit dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ die Frauenbefreiung bewusst in den Mittelpunkt der Bewegung stellen, ist eine neue Qualität.
Dass dieser Slogan auf Kurdisch – Jîn, Jîhan, Azadî – gerufen wird, ebenfalls. Jina war, wie alle Kurd*innen und Angehörige anderer ethnischer oder religiöser Minderheiten im Iran, brutaler Unterdrückung ausgesetzt. Die Bewegung könnte zu einem gemeinsamen Kampf nicht nur gegen sexistische, sondern auch nationale und ethnische Spaltung werden, wenn sie ein klares Programm zur Frage der nationalen Selbstbestimmung entwickelt und mit sozialen Fragen verknüpft.
So massiv die Repressionen sind, so scheinen die Sicherheitskräfte des Regimes doch zu schwächeln: es fehlt Personal, einige Soldaten sollen Berichten zufolge gar zur Bewegung übergelaufen sein, so dass in einigen Orten genügend Basij, Polizei und Militär fehlen, um gegen die Proteste vorgehen zu können.
Mit einer tiefen Legitimationskrise konfrontiert, fahren die Mullahs eine harte Linie, einige konservative Politiker und prominente religiöse Führer sprechen sich aber zumindest für verbale Zugeständnisse aus. Wie auch immer dieser Aufstand ausgeht, das Regime wird sich von diesem historischen Schlag nicht mehr vollständig erholen.
Imperialistische Interessen
Vor dem Hintergrund der neuen imperialistischen Spannungen und der zunehmenden Kriegsgefahr verstärken die verschiedenen Blöcke ihre Bemühungen, Bündnisse zu festigen und neue zu schließen. Auf der einen Seite gibt es Versuche, den Iran in das BRICS-Bündnis (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) einzubeziehen, der westliche Imperialismus wiederum arbeitet mit dem Atom-Abkommen an einer Normalisierung der Beziehungen zum Regime, was eine Aufhebung der Export-Embargos für Öl bedeuten könnte. Der westliche Imperialismus sucht nach Alternativen zu russischem Öl und Gas, und der Iran verfügt über die zweitgrößten Gasreserven und die fünftgrößten Ölreserven der Welt.
Die potentiell revolutionäre Bewegung, die, anders als zum Beispiel die „grüne Bewegung“ gegen Wahlfälschungen 2009, keine wirklichen Illusionen in den Westen zu haben scheint, könnte diese Pläne gefährden. Auf der anderen Seite brächte ein Fall des Regimes aber die Möglichkeit, den Iran mehr oder weniger direkt zu kontrollieren. Insofern sind „Solidaritätsbekundungen“ von Baerbock oder Biden mit mehr als Vorsicht zu genießen, zumal diese Heuchler*innen gleichzeitig in Katar und Saudi-Arabien Hände schütteln. Diese neuen „Freunde“ fürchten die Auswirkungen auf die Frauen im eigenen Land, da es in vielen Ländern der Region bereits zu Solidarisierung gekommen ist. Nun soll es neue Sanktionen geben, aber es sind die einfache Bevölkerung und die Armen, die unter den wirtschaftlichen Auswirkungen zu leiden haben.
Wirkliche Solidarität erfährt die Bewegung weltweit in Social Media und auf der Straße. Es sind all die Frauen und Jugendliche, die weltweit gegen Sexismus kämpfen, und sich nun durch die Entwicklungen im Iran radikalisieren, die einer Revolution dort wirklich zum Erfolg verhelfen könnten. Das gilt insbesondere für die iranische Exilgemeinde, die legale Strukturen nutzen kann. Sexistische Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt müssen wir überall stoppen – gerade jetzt, wo rechte Kräfte stärker werden, die Rechte von Frauen und LGBTQI+-Personen noch weiter beschneiden wollen.
Programm und Führung
Noch fehlen der spontanen und heterogenen Bewegung im Iran eine konkrete Perspektive und ein politisches Programm. So könnte sie, wie bereits frühere Protestwellen 2017 oder 2019 schnell niedergeschlagen werden, oder sogar mit militärischem Druck des Regimes zu einem Bürgerkrieg in den kurdischen Gebieten entwickeln. Eine große Schicht der protestierenden Jugend ist generell äußerst skeptisch gegenüber jeder Art von Führung der Bewegung; auch Kräfte wie liberale Feminist*innen oder Anhänger*innen der ehemaligen Schah-Familie sind bisher daran gescheitert, sich in diese Rolle zu drängen. Selbstbestimmung und Befreiung benötigen jedoch zwangsläufig demokratische Strukturen und Koordination. Ansätze dafür könnten aus der kämpferischen Arbeiter*innenbewegung kommen.
Überall stützt sich der Kapitalismus auf sexistische, rassistische, nationale und religiöse Diskriminierung, um seine Herrschaft zu festigen. Um staatliche Gewalt gegen Frauen ein für allemal zu beenden, müssen nicht nur sexistische Dikaturen wie die der Mullahs mit ihren Machtorganen, sondern das gesamte System gestürzt und durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzt werden.
Vorschlag für ein Kampfprogramm:
Gerechtigkeit für alle Opfer des Mullah-Regimes! Für eine echte Untersuchung der Morde an Jina (Mahsa) Amini, Nika Shakarami, des Brandes im Evin-Gefängnis, der Massaker an den Universitäten und all der anderen Fälle durch demokratisch gewählte Vertreter*innen der Bewegung.
Versammlungen und Selbstverteidigungskomitees, für den Kampf gegen Repression an Arbeitsplätzen, Schulen und Universitäten, gegen alle repressiven religiösen Gesetze und Bekleidungsvorschriften, für die Freilassung aller politischen Gefangenen und die Auflösung der Sittenpolizei und der Revolutionsgarde.
Ausweitung der Streikbewegung zu einem Generalstreik mit einem Programm zur Beendigung aller Unterdrückung, für volle Gewerkschaftsrechte, für Lohnerhöhungen über der Inflationsrate, Lohngleichheit, menschenwürdige Arbeitsplätze, Wohnraum und Sozialleistungen für alle, unabhängig von jeglichem religiösen Einfluss, für Enteignung der „Revolutionswächter“, um die Schlüsselsektoren der Wirtschaft unter die Kontrolle der Arbeiter zu bringen.
Aufbau der Bewegung durch Solidarität und Demokratie, Versammlungen in Betrieben, Schulen und Universitäten, für die Diskussion der Kampfforderungen, Wahl demokratischer Vertreter*innen.
Für eine revolutionäre verfassungsgebende Versammlung, die Arbeiter*innenräten in den Betrieben und alle demokratischen Kräfte in der Bewegung zusammenfasst.
Aufbau einer internationalen Solidaritätsbewegung von unten: am Arbeitsplatz, in Schulen, Universitäten und Nachbarschaften mit der Frauen-, LGBTQI+-, Jugend-, Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung an vorderster Front.
Volle Rechte für Menschen aus dem Iran, die in anderen Ländern leben oder dorthin fliehen, weg mit Visa- und anderen Beschränkungen.
Die Arbeiter*innenorganisationen müssen ihre Kanäle und Medien nutzen, um über die Proteste zu informieren und sich aktiv an ihnen zu beteiligen, sie zu unterstützen.
Schluss mit der Heuchelei: Gegen Waffenlieferungen der imperialistischen Staaten und imperialistische Kriege in der gesamten Region und weltweit.
Weg mit allen diplomatischen Privilegien, keine Zusammenarbeit mit den Behörden des Regimes.
Gewinne, die Unternehmen durch Kooperation oder Duldung des Regimes gemacht haben, müssen eingezogen und zur Unterstützung der Bewegung und eines demokratischen Wiederaufbaus verwendet werden.
Abschaffung aller Sanktionen, die die arbeitenden und armen Menschen treffen! Eine erfolgreiche Revolution ist die größte Garantie für Frieden, Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung in der gesamten Region.
Solidaritätsaktionen in Wien
In Österreich hat die sozialistisch-feministische Gruppe ROSA die Initiative ergriffen, gemeinsame linke Iran-Demos zu organisieren. Am 8. Oktober demonstrierten 5000 Menschen in Wien. Am 23. Oktober trafen sich 60 Menschen zu einer Konferenz und beschlossen das „Manifest der linken Solidaritätsbewegung in Österreich“.
Darin wird beschrieben, was wir in Europa tun können: „Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung hängt für uns deshalb mit ganz konkreten Forderungen zusammen, überall dort wo wir uns befinden. Sei es der Kampf um Bleiberecht für alle, für gleiche Rechte und die Abschaffung aller bürokratischen und finanziellen Hürden für Menschen, die aus dem Iran fliehen oder geflohen sind. Sei es der Kampf gegen die Botschaften und das Spionagenetzwerk des iranischen Regimes auf der ganzen Welt. Sei es der Kampf um die Beschlagnahmung aller Vermögenswerte des Regimes im Ausland durch die Solidaritätsbewegung genauso wie die der Profite von Konzernen, die Geschäfte mit der Diktatur gemacht haben oder machen.“
Anfang November mobilisierte ROSA 100 Menschen vor das sogenannte „Islamische Zentrum“ in Wien-Floridsdorf. Von dort aus hatten Unterstützer des Mullah-Regimes, darunter mindestens ein Mitarbeiter der iranischen Botschaft, Oppositionelle angegriffen, geschlagen und bedroht. Weitere Infos auf: