Die Medien schreiben von einem “Erfolg” der IG Metall bei den Verhandlungen beim “Pilotabschluss” im Tarifgebiet Baden-Württemberg, die Löhne würden “signifikant” erhöht. Der IGM-Vorsitzende Hofmann meint, “die Beschäftigten haben demnächst deutlich mehr Geld in der Tasche – und zwar dauerhaft“. Sind diese Behauptungen das Ergebnis der gefürchteten allgemeinen Mathe-Schwäche oder bewusste Falschinformationen?
Von Claus Ludwig, Köln und Marc Treude, Aachen
Von Oktober 2022 bis inklusive Mai 2023 gibt es – keine Erhöhung. Ab Juni 2023 werden die Einkommen um 5,2% erhöht, ab Mai 2022 um 3,3%. Während die Löhne von Oktober 2022 bis Dezember 2024 insgesamt um 8,5% steigen, liegt die Inflation in diesem Zeitraum bei wahrscheinlich 20%, vielleicht etwas weniger, vielleicht sogar deutlich mehr. Die IG Metall hat damit einen Reallohnverlust von 10-12% festgeschrieben. Durch die lange Laufzeit erschwert sie es sich selbst, höhere Forderungen zu stellen, wenn die Inflation noch weiter anzieht. Die Preissteigerung bei Lebensmitteln und Energie, von der Gering- und Durchschnittsverdiener*innen stark betroffen sind, liegt zudem weit über der offiziellen Inflationsrate (Lebensmittel 20%, Energie über 40%).
Die Tarifabschlüsse der letzten Jahre waren keineswegs besser. Seit 2018 hat es überhaupt keine tabellenwirksame Erhöhung in der Metall- und Elektroindustrie gegeben. Die in den Lohntabellen fixierten Einkommen dieser Branche werden am 1. Januar 2025 in Kaufkraft gerechnet 20-25% weniger wert sein als Ende 2019. Das Inflationsjahr 2022 findet in der Tabelle überhaupt keinen Ausdruck.
Zu dieser faktischen Absenkung der Löhne in der größten und wichtigsten Branche des Landes kommt es, ohne dass es eine tiefe Rezession, einen massiven Einbruch von Aufträgen oder eine umfassende Profitkrise der Konzerne gegeben hätte.
Dazu kommt der Teufel im Detail. Es wurden Öffnungsklauseln für den Fall wirtschaftlicher Schwierigkeiten und des “Energienotstandes” vereinbart, die nicht alle im Detail bekannt sind. Es ist davon auszugehen, dass diese “Differenzierung” vor allem die Beschäftigten der Zuliefer-Betriebe der Autoindustrie trifft, bei denen größere Probleme absehbar sind.
Verschleiern und verzuckern
Die zweimal 1500 Euro werden von vielen Kolleg*innen als der Spatz in der Hand gesehen. Immerhin, damit können Nachzahlungen oder erhöhte Abschläge für Gas und Strom bewältigt werden, brutto gleich netto klingt immer gut, für alle Entgeltgruppen die gleiche Summe, das wirkt doch gerecht…
Doch die Einmalzahlungen dienen vor allem dazu, zu verschleiern, wie bitter der Abschluss ist. Sie sind nicht tabellenwirksam, bei der nächsten Runde wird erneut vom niedrigen Niveau aus verhandelt. Sie wirken sich weder auf die Rente noch auf das Arbeitslosengeld aus, auch nicht auf die Jahressonderzahlung. Die Unternehmen sparen dadurch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.
Dass die Regierung die Möglichkeit der Befreiung von Steuern und Abgaben für Einmalzahlungen geschaffen hat, ist vor allem eine Subventionierung der Konzerne, damit diese unter dem Strich Lohnzahlungen sparen und der bröckelnden Fassade des Tarifabschlusses einen freundlichen Anstrich verpassen können.
Kein IGM-Funktionär redet davon, dass “nicht mehr drin” gewesen sei oder dass die Kampfkraft nicht ausgereicht hätte. 900.000 Kolleg*innen hatten in der ersten Warnstreikwelle teilgenommen, die Beteiligung war gut, doch das war nur ein erster Vorgeschmack auf die Kampfbereitschaft. Die IGM-Führung hat sich entschieden, diese nicht wirklich zu testen. Der Vorsitzende Hofmann betonte in einem Kommentar der Verhandlungen stattdessen die Verantwortung der IGM für die deutsche Industrie: „Mit einem Lohnabschluss wie diesem haben wir nicht nur eine gerechte Lastenteilung erreicht, sondern auch einen verantwortungsvollen Abschluss im Sinne der weiteren konjunkturellen Entwicklung.“
Gewerkschaftliche Opposition
Führung und Apparat der IG Metall haben die Mitglieder seit Jahren dazu “erzogen”, passiv zu sein und die Standortlogik, die angeblich gemeinsamen Interessen von Kapital und Arbeit, zu akzeptieren. Große Teile des Apparats glauben die Geschichten von der “Sozialpartnerschaft” und sehen die Gewerkschaft als Instrument, um zwischen den Interessen der Konzerne und den Beschäftigten zu vermitteln. Kämpferische Traditionen und früher selbstverständliche Forderungen – wie Teuerungsausgleich plus Umverteilungskomponente – wurden verschüttet.
Viele Kolleg*innen haben nach Jahren der Demobilisierung geringe Erwartungen. Sie können sich nicht vorstellen, gegen den Willen der Führung zu kämpfen und sind, wie wohl auch in dieser Tarifrunde, froh, dass der Reallohnverlust zumindest gebremst und durch die Einmalzahlungen dringende Rechnungen bezahlt werden können. Andere sind enttäuscht und drohen, die Gewerkschaft zu verlassen.
Das Hoffen darauf, die IGM-Spitze würde von selbst zu einer aktiveren Tarifpolitik zurückkehren, hilft nicht weiter. Ihre Schwäche ist strukturell, basiert auf der Akzeptanz des Kapitalismus und der Forderungen der Konzerne. Diese Passivität kann nur durchbrochen werden, wenn sich Metaller*innen von unten zusammenschließen und eine kämpferische Strategie entwickeln, die eine Alternative zu der des Apparats bietet. Zum jetzigen Zeitpunkt wird das keine massenhafte Bewegung sein, aber es ist wichtig, in dieser Phase die Kerne der Opposition zu entwickeln. Daher ist die SAV Teil der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften – VKG.
Die Strategie der IGM-Spitze um Jörg Hofmann macht weitere schwache Abschlüsse unvermeidlich. Dieses Vorgehen schafft mehr Passivität, führt zu Austritten aus der IGM und stärkt so diejenigen in der IGM, die sagen, man könne gar nicht kämpfen. Und es ist kein Zufall, dass dieser Tarifabschluss nun doch so schnell kam: Der Verhandlungsführer des Tarifbezirks Baden-Württemberg, Roman Zitzelsberger, wird schon als Nachfolger des derzeitigen Vorsitzenden gehandelt.
Lehren für den öffentlichen Dienst
Die Mitglieder der Tarifkommissionen sollten gegen den verhandelten Reallohnverlust stimmen und fordern, dass die schon vorbereiten Kampfmaßnahmen – 24-Stunden-Warnstreiks und Urabstimmungen über Erzwingungsstreiks in einigen Tarifgebieten – umgesetzt werden. Die Vertrauensleute-Versammlung von Daimler in Stuttgart-Untertürkheim hat den Abschluss mehrheitlich abgelehnt.
Möglicherweise kann diese Tarifrunde nicht mehr gerettet werden. Dann sollte sie zumindest den Kolleg*innen anderer Sektoren als Warnung dienen, die sich aktuell auf die Verhandlungen vorbereiten, zum Beispiel im öffentlichen Dienst.
ver.di geht in die TVÖD-Verhandlungen Bund und Kommunen mit der Forderung von 10,5% bei 12 Monaten Laufzeit, mindestens 500 Euro, bei der Post fordern die Kolleg*innen 15%. Das sind gute Forderungen, wenn sie nicht nur als Lockmittel dienen, um dann doch für 24 Monate abzuschließen und statt tabellenwirksamer Erhöhungen Einmalzahlungen zu vereinbaren. Schon vor der Beginn der Verhandlungen sollten ver.di-Aktive sich vernetzen und die volle Durchsetzung der Forderung, vor allem die Begrenzung auf eine 12-monatige Laufzeit, zur roten Linie machen, hinter welche die ver.di-Führung nicht zurückfallen kann.