Bahnarbeiter*innen in den USA: Verraten von Biden und den „sozialistischen“ Demokraten

Zur Einordnung, von Anne Engelhardt:

In den USA fand in den letzten Monaten eine wichtige Auseinandersetzung im Bahnsektor statt. Die 115.000 Bahnkolleg*innen verhandelten mit ihren 12 Gewerkschaften einen neuen Tarifvertrag, der alte liegt vier Jahren zurück. Es sind gleichzeitig auch vier Jahre, in denen während der Pandemie über 40 % des Personals entlassen oder ausgetauscht wurde. Vier Jahre ohne Lohnerhöhung bei gleichzeitiger Arbeitszeitverdichtung. Aber um den Lohn geht es bei diesem Kampf nicht. Es geht um das Recht, krank sein zu dürfen. In den USA gibt es in den meisten Branchen kein Recht auf Krankentage. Und damit sind nicht nur bezahlte Krankentage gemeint, sondern generell, das Recht sich krank melden zu dürfen. Insbesondere im Bahngewerbe ist das brisant: Wenn die Kolleg*innen sich krank melden bekommen sie dafür sofort Ärger: Ihnen wird der Lohn gekürzt, Urlaubstage werden einkassiert, es kann sogar zur Kündigung kommen. Die Bewertungen über die Maßnahmen basieren auf einem absurden Punktesystem, das Arbeitende zwingt, trotz Erkältung, Todesfällen in der Familie, ja sogar Schlaganfall und Herzinfarkt weiterzuarbeiten – mit den denkbar tödlichsten Konsequenzen. In den letzten Jahren häuften sich die Meldungen über Eisenbahnfaher*innen, die an einem Herzinfarkt, an Corona und anderen Erkrankungen bei der Fahrt starben. Sie konnten nicht bei den Geburten ihrer Kinder dabei sein, bei der Betreuung von Angehörigen einspringen oder sich einfach von einer Grippe erholen. Insbesondere die Pandemie hat das Problem verschärft. Gleichzeitig arbeiten die Kolleg*innen im Bahnsektor sechs Tage die Woche. Es gibt vermehrt schwere Unfälle. Da die Bahn aber zu den systemrelevanten Infrastrukturen der USA gehört, wurde 1926 in einer Niederlage der US-Arbeiter*innenklasse der sogenannte Rail Act erlassen. Dieser erlaubt es der Regierung, direkt Einfluss auf stockende Verhandlungen zu nehmen und im Falle eines anstehenden Streiks ein Dekret durch den Kongress und den Senat zu bringen, das den Streik verbietet und die Eisenbahner*innen zwingt das letzte vorliegende Angebot anzunehmen. Auch in diesem Jahr wurde dieses Gesetz unter Joe Biden wieder zum Einsatz gebracht, der bisher als arbeitnehmerfreundlichster Präsident der US-Geschichte galt. Die Eisenbahner*innen hatten über ein im September 2022 erwirktes vorläufiges Angebot abgestimmt und es mit knapper Mehrheit abgelehnt, da es keinen einzigen Krankentag enthielt. Am 9. Dezember sollte es zum Streik kommen. Doch die Regierung intervenierte und verbot den Streik.

USA: Arbeiter*innen der Bahn werden von Biden und „The Squad“ verraten

von Kshama Sawant

Als AOC [Alexandria Ocasio-Cortez, Mitglied im US-Repräsentantenhaus, Demokraten, Anmerkung der Übersetzung] und andere Mitglieder der „Squad“ [DSA-Mitglieder unter den Abgeordneten der Demokraten] zum ersten Mal gewählt wurden, traten die meisten von ihnen als selbsternannte „demokratische Sozialist*innen“ an. Sie kandidierten mit Forderungen der Arbeiter*innenklasse wie „Medicare for All“ [Krankenversicherung für alle] und einem bundesweiten Mindestlohn von 15 Dollar. Sie versprachen, sich für die Arbeiter*innen und Unterdrückten einzusetzen.

Im ersten Jahr nach Bidens Amtsantritt, als die Demokraten alle Teile der Regierung kontrollierten, ließen die „Squad“-Mitglieder die ersten beiden dieser Versprechen fallen, als erstes indem sie sich weigerten, die Abstimmung über „Medicare for All“ zu erzwingen, und danach, als sie jede Art von Kampf für den Mindestlohn von 15 Dollar ablehnten.

Jetzt ist das dritte dieser Versprechen endgültig gebrochen, da alle bis auf ein Mitglied von „The Squad“ die Streikpostenlinien überquert haben und mit einer Mehrheit von Demokraten und Republikanern im Kongress dafür gestimmt haben, den Streik der Eisenbahner*innen zu brechen – und damit das Recht dieser Arbeiter*innen, ihre Arbeit legal niederzulegen, zu beschneiden. Damit haben sie sich eindeutig auf die Seite der Milliardär*innen gegen die Arbeiter*innen gestellt, die seit Jahrzehnten unter unerträglichen Bedingungen leiden.

Dies ist ein schwerer Verrat an der Arbeiter*innenklasse.

Jahrelange Verhandlungen zwischen 12 Gewerkschaften, die 115.000 Eisenbahner*innen vertreten, und der Handvoll Konzerne, die 90 Prozent des Güterbahnverkehrs (sowie die Gleise, auf denen die meisten Personenzüge verkehren) kontrollieren, sind nun unter der Führung eines demokratischen Präsidenten, der sich selbst als „arbeitnehmer*innenfreundlich“ bezeichnet, zusammen mit der „Linken“ seiner Partei zunichte gemacht worden.

„The Squad“ und der Congressional Progressive Caucus [Vereinigung von Abgeordneten, den dem „linken“ Flügel der Demokraten nahestehen], zu dem auch die Abgeordnete Pramila Jayapal gehört, versuchten, sich einen linken Anschein zu geben, indem sie für einen zweiten Gesetzentwurf stimmten, der zusätzlich zum ersten Gesetzentwurf zur Beendigung des Streiks auch die Hauptforderung der Arbeiter*innen nach bezahltem Krankenurlaub enthielt.

Dieses Täuschungsmanöver sollte jedoch niemanden täuschen, denn es war offensichtlich, dass der Gesetzentwurf zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall im Senat ein jähes Ende finden würde (was am folgenden Tag auch geschah), und dass nur ein gebrochener Streik übrig bleiben würde.

Schlechte Bedingungen für die Arbeiter*innen im Bahnsektor

Arbeiter*innen aus vier Gewerkschaften, die zusammen eine Mehrheit der Belegschaft vertreten – die Sheet Metal, Air, Rail, and Transport Workers‘ Transportation Division, die Brotherhood of Railway Signalmen, die Brotherhood of Maintenance of Way Employees-Teamsters und die International Brotherhood of Boilermakers – hatten den vorgeschlagenen Vertrag abgelehnt. Doch die Stimmen von 80 US-Senator*innen und 290 US-Repräsentant*innen reichten aus, um den von den Eisenbahnmagnaten gewünschten Vertrag durchzusetzen. Mit diesem Ergebnis hatten die Bosse von Anfang an gerechnet, da sie wissen, dass sie beide politischen Parteien in der Hand haben.

Der immense Druck, unter dem die Arbeiter*innen bei der Bahn nach jahrelangem Personalabbau stehen, ist gut dokumentiert. Dennoch behauptete Präsident Biden mit geübter Heuchelei, im Namen der Millionen Arbeiter*innen zu handeln, die durch diesen Streik geschädigt werden könnten.

Trotz der Tatsache, dass die Regale der Einzelhändler*innen bereits für Weihnachten gefüllt sind, haben die Demokraten angedeutet, dass das Bedürfnis anderer Arbeiter*innen, „ihren Urlaub zu genießen“, über dem Bedürfnis der Eisenbahner*innen steht, über ihr Leben, ihre Familien oder ihre Gesundheit zu bestimmen. Doch diese Logik ist völlig verkehrt. Ein Sieg für die Eisenbahner*innen wäre ein Sieg für Arbeiter*innen in den gesamten USA gewesen, die zunehmend von Überarbeitung und dem Wissen erdrückt werden, dass sie leben, um zu arbeiten, und nicht arbeiten, um zu leben.

Nach der heutigen Abstimmung schrieb ein pensionierter Eisenbahner und Gewerkschaftsfunktionär:

„Es geht nicht nur um Geld. Es geht um die Lebensqualität. Die Presse lässt einen glauben, dass eine Lohnerhöhung von 25 % über 5 Jahre viel ist. Das ist es nicht, nicht wenn die Inflation zwischen 8 und 10% pro Jahr liegt. Das ist nicht einmal kostendeckend. Aber das größere Problem ist die Lebensqualität.

Güterbahnen arbeiten 24/7/365. Fast alle Bahnangestellten arbeiten auf Abruf, mit nur 2 Stunden oder weniger Vorlaufzeit, bevor sie zur Arbeit gehen, die Reisezeit nicht eingerechnet. Aufgrund der massiven Kürzungen in der letzten Zeit müssen alle auf Abruf leben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Angestellte bei einigen Eisenbahnen drei oder mehr Wochen arbeiten, ohne wirklich frei zu haben, abgesehen von den staatlich vorgeschriebenen Ruhezeiten zwischen den Schichten (von denen die meiste Zeit zum Schlafen genutzt wird). Viele Beschäftigte wurden disziplinarisch belangt, d. h. sie wurden ohne Bezahlung suspendiert. In einigen Fällen wurde ihnen unter Androhung der Suspendierung und/oder Entlassung sogar die Teilnahme an Familienbegräbnissen verweigert. Deshalb wehren sich die Beschäftigten dieses Mal. Genug ist genug.“

Vor diesem Hintergrund ist Bidens ausgehandeltes TA (tentative agreement [vorläufige Vereinbarung]) zu sehen, dessen einzige Verbesserung ein einziger bezahlter persönlicher Tag ist, der durch absurde Bedingungen ausgehöhlt wird: Er kann nur an einem Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag genommen werden und muss 30 Tage im Voraus geplant werden.

Auch wenn einige Linke zu einem illegalen wilden Streik aufriefen: Das absolute Versagen der Anführer*innen der Gewerkschaften, zu mobilisieren oder einen Streik vorzubereiten, macht das zu einer äußerst schwierigen Option für ihre Mitglieder, trotz der lodernden Wut Tausender Arbeiter*innen über diesen brutalen Angriff auf ihre Rechte. Die Anführer*innen der Gewerkschaften zogen es stattdessen vor, auf die bewährte und gescheiterte Strategie zurückzugreifen, Politiker*innen der Demokratischen Partei anzuflehen, sich für sie einzusetzen.

Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Arbeiter*innen der Bahn angesichts dieses Verrats selbstständig Maßnahmen ergreifen, und die Socialist Alternative [Schwesterorganisation der SAV in den USA] und mein Büro werden sie bei der Umsetzung solcher Maßnahmen auf Schritt und Tritt unterstützen. Die erfolgreiche Durchführung von wilden Streiks in dem erforderlichen Umfang würde voraussetzen, dass sofort unabhängige und demokratische Organisationsstrukturen geschaffen werden, dass in den verschiedenen Betrieben Streikführer*innen gewählt werden und dass ein Streikfonds eingerichtet und schnell aufgebaut wird.

Die Kapitulation von „The Squad“ und der DSA

Als klar wurde, dass der Kongress aufgefordert werden würde, einzugreifen, um einen Streik zu verhindern, suchte Bernie Sanders nach Verfahrensmöglichkeiten, um den Schlag dieser Niederlage für die Arbeiter*innen abzuschwächen. Seine Lösung bestand darin, einen Änderungsantrag einzubringen, der den Arbeiter*innen sieben Tage bezahlte Krankheitszeit zugesteht – etwas weniger als die Hälfte der ursprünglichen Forderung der Arbeiter*innen. Bernie war von Anfang an klar, dass er ohne diesen Zusatz nicht für die Durchsetzung der TA stimmen würde, und als sein Änderungsantrag scheiterte, stimmte er mit „Nein“.

Es ist äußerst beschämend, dass dies nicht auch von AOC und der Mehrheit von „The Squad“ im Repräsentantenhaus gesagt werden kann – die mit einer Ausnahme alle für die Niederschlagung des Streiks stimmten.

AOC rechtfertigte ihr Abstimmungsverhalten mit der Behauptung, sie kämpfe „mit Zähnen und Klauen“ für die zusätzlichen Krankheitstage. Jamaal Bowman behauptete, er habe „immer in Solidarität mit den Arbeiter*innen gekämpft“. Doch was der Congressional Progressive Caucus veranstaltete, war ein Betrug, und zwar ein ziemlich plumper. Sie haben sich mit Pelosi abgesprochen, um die Abstimmung in zwei Teile aufzuteilen, und versprachen ihre rund 100 Stimmen für den faulen TA. Im Gegenzug bekamen sie eine getrennte Abstimmung über den Änderungsantrag zu Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, von dem sie genau wussten, dass er im Senat zu Fall gebracht werden würde. Es brauchte nur einen Tag, um die brutale Realität zu bestätigen: dass die Mehrheit von „The Squad“ in Abstimmung mit den Anführer*innen des Congressional Progressive Caucus die Arbeiter*innen im Stich gelassen hat, während sie über bezahlte Krankheitstage schwadronierten.

Am 30. November veröffentlichte die Bundeszentrale der Demokratischen Sozialist*innen von Amerika (DSA) eine Unterstützungserklärung für die Arbeiter*innen der Bahn, die diesen Satz enthielt:

„Jedes Mitglied des Kongresses, das für das vorläufige Abkommen stimmt, stellt sich auf die Seite der Milliardär*innen und zwingt den Arbeiter*innen einen Vertrag auf, der ihre dringendste Forderung nach bezahlten Krankentagen nicht berücksichtigt.“

Was ist dann mit ihren eigenen Mitgliedern und den von ihnen unterstützten Abgeordneten im Kongress, die mit Ja gestimmt haben? Was diese Aussage impliziert und was die Aktionen von „The Squad“ definitiv beweisen, ist, dass diese gewählten Volksvertreter*innen Teil des kapitalistischen Staates sind und sich selbst als solche sehen, als Vertreter*innen eines Staates, der für die Milliardär*innen und gegen die Interessen der Mehrheit, der Arbeiter*innen, handelt.

Ein Sozialist*in kann kein Streikbrecher sein. Es muss Schluss sein mit der Behauptung der DSA, „The Squad“ sei sozialistisch, und sie sollten aus der Organisation ausgeschlossen werden. Andernfalls wird der Verrat von „The Squad“ an der Arbeiter*innenklasse zu einem Verrat der DSA selbst.

Abgesehen von der offensichtlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität der Eisenbahner*innen selbst besteht die Gefahr dieses Ausverkaufs darin, dass er die Arbeiter*innen in die Arme des rechten Flügels treibt, der sich als politische Alternative der Arbeiter*innen zu den Demokraten aufspielen kann. Die Tatsache, dass mehr republikanische Senatoren gegen die Durchsetzung der TA gestimmt haben als Demokraten, ist ein schlagender Beweis dafür.

Die Aufgabe, eine linke Alternative aus der Arbeiter*innenklasse zur „progressiven“ Politik der Demokratischen Partei des Großkapitals aufzubauen, war noch nie so dringend wie heute.