Die Krise der LINKEN ist existenziell. Wagenknechts „Populäre Linke“ auf der einen Seite, die neu geschmiedete Allianz „Progressive Linke“ auf der anderen: Zwei Lager stehen sich gegenüber, beide wollen nicht mehr miteinander. Aber können sie ohne einander?
Von Sebastian Rave, Bremen
Mittlerweile gibt es keine öffentliche Wagenknecht-Aussage ohne Gegenwind aus der LINKEN. Keine parteiinterne Wahlanalyse, bei der nicht darüber diskutiert wird, wie viele Stimmen Wagenknecht gekostet hat. Eins hat sie geschafft: Ihre zerstrittene Partei ist mittlerweile geeint – gegen sie und ihre Anhänger*innen, die sich in der klaren Minderheit befinden.
Häufig wird gegen sie der Vorwurf der „Querfront“-Ambitionen ins Feld geworfen, der FDP-Fraktionsvize verglich sie sogar mit dem früheren RAF-Anwalt und späteren Neo-Nazi Horst Mahler. Bei aller notwendigen Kritik an ihrem Anknüpfen an reaktionäre Narrative: Ihr politisches Konzept ist eigentlich nicht viel rechter als ein rechts-sozialdemokratisches. Als sie davon redete, dass der Staat angesichts größerer Zahlen geflüchteter Menschen „die Kontrolle verlieren“ würde, war das reaktionär, aber nicht reaktionärer als der ohnehin bestehende staatliche Rassismus mit seinen tödlichen EU-Außengrenzen.
Populäre Linke vs. Progressive Linke:
Ihre Rhetorik ist dabei populistischer als die von anderen rechten Sozialdemokraten. Die Gemeinsamkeit ist der politische Gestaltungsrahmen, der sich strikt im bürgerlichen Nationalstaat bewegt, in dem alles Gute „von oben“ kommt: Von vernünftigen politischen Entscheidungsträgern. Wagenknecht wird von vielen als Stimme des Protests wahrgenommen – tatsächlich betreibt sie aber populistische Stellvertreterpolitik, jede wirkliche soziale Bewegung ist ihr fremd.
Scheinbar im direkten Gegensatz dazu steht die „Progressive Linke“. In einem gemeinsamen Aufruf wurde formalisiert, was sich schon beim letzten Bundesparteitag andeutete: Teile der „Bewegungslinken“ und der „Reformer*innen“ schließen sich zu einem Anti-Wagenknecht-Bündnis zusammen. Hier wächst zusammen, was eigentlich nicht zusammengehören sollte: Diejenigen, die fast um jeden Preis regieren wollen und sich dabei den Spielregeln der bürgerlichen Herrschaft unterordnen, und diejenigen, welche die Partei in Bewegung sehen und „weg von der Dominanz der Parlamentsarbeit, hin zur organisierenden, bildenden und verbindenden Partei“ (Selbstverständnis Bewegungslinke) wollen .
Wer ist wer im Spaltungsprozess?
Sahra Wagenknecht: Jeder kennt sie, viele mögen sie, viele nicht. Es geht in diesem Text aber nicht um Wagenknecht als Person, vielmehr nennen wir sie stellvertretend für eine ganze Strömung in der LINKEN und darüber hinaus, die ähnlich argumentiert.
„Populäre Linke“ ist der Titel eines Aufrufs, der vor dem Erfurter Parteitag 2022 kursierte und Unterstützung über die Grenzen des Wagenknecht-Lagers hinaus fand.
„Konservative Linke“ ist eine Eigenbezeichnung von Sahra Wagenknecht aus ihrem Buch „Die Selbstgerechten“.
Sozialistische Linke (SL) ist die ehemals größte Strömung in der LINKEN, gewerkschafts- und sozialstaatsorientiert. 2019 spaltete sich die Strömung in Pro- und Anti-Wagenknecht.
Die Bewegungslinke (BL) ging aus der Spaltung der SL hervor, ist Anti-Wagenknecht und mittlerweile die größte Strömung.
Reformer*innen sind, kurzgefasst, die mit dem größten Regierungswillen. Im Spaltungsprozess sind sie auf beiden Seiten zu finden – in der Bundestagsfraktion gab es jahrelang ein Bündnis zwischen Wagenknecht und dem Reformer Bartsch, das sogenannte „Hufeisen“. Es gab aber auch schon immer Wagenknecht-Gegner*innen unter den Reformer*innen, in der Partei zuletzt „Progressive Reformer“ genannt.
„Progressive Linke“ ist der strömungsübergreifende Aufruf, der im Grunde genommen die Abspaltung von Wagenknecht fordert.
Die Antikapitalistische Linke (AKL) hat sich von Beginn an inhaltlich klar gegen Wagenknechts Kurs positioniert, lehnt jedoch ebenso die Anpassung an die „Reformer*innen“ ab. Die SAV ist Teil der AKL.
So argumentieren beide Strömungen aus ganz verschiedenen Richtungen gegen Wagenknecht und ihre „Populäre Linke“: Der Bewegungslinken schmeckt die nationalstaatlich orientierte Politik nicht und ein Populismus, der sich an den konservativen Teilen der Klasse orientiert, und Fragen wie Geschlechter- oder Klimagerechtigkeit als „woke, linksliberale“ Marotten einer urbanen Szenelinken abtut. Die „progressiven Reformer“ hingegen stören sich daran, dass Wagenknecht vor allem eins ausdrückt: Protest, auch und vor allem gegen die ersehnten Koalitionspartner*innen SPD und Grüne.
Dieser Widerspruch kann nicht überbrückt werden, und so bleibt der gemeinsame Aufruf der „Progressiven Linken“ phrasenhaft, wenn über eine „glaubwürdige, gefestigte und dadurch einflussreiche, zeitgemäße linke, progressiv-demokratische Tendenz“ geschrieben wird oder von „Neuanfang“.
DIE LINKE und das Regieren
An anderen Stellen geht es darüber hinaus: „Da ist zunächst die Tatsache, dass die Differenzen über die Frage, ob Linke regieren sollen oder nicht, und andere, oft im Zusammenhang stehende, lange höher gewertet wurden als der Kampf um den progressiven Charakter der Partei und die Grundwerte des Programms“. Hier rächt sich die Haltung der Bewegungslinken, keine Haltung zur Regierungsfrage zu haben. Dies ist nicht einfach nur eine taktische Frage, sondern eine grundsätzliche: Wie steht man zum bürgerlichen Staat, seinen Parteien, seinen Institutionen? Will man im Rahmen der Marktwirtschaft bleiben oder den Kapitalismus abschaffen?
In dieser entscheidenden Frage, der nach Regierung, Staat und Wirtschaftssystem, sind sich Reformer*innen und Wagenknecht-Linke tatsächlich einig: Die „Populäre Linke“ möchte vielleicht mehr Protestpartei sein, aber stellt diesen Rahmen von Marktwirtschaft und bürgerlichem Staat ebenso wenig infrage wie die Befürworter*innen von Regierungsbeteiligungen der LINKEN mit prokapitalistischen Parteien.
Alle Landesregierungen mit linker Beteiligung behaupten von sich, irgendwie progressive Politik zu machen. In Wirklichkeit gibt es im besten Fall nur weniger Verschlechterungen, und wenn es überhaupt Verbesserungen gibt, sind diese so klein, dass die meisten Menschen nichts davon merken.
Weder Klarheit noch Einheit
Wenn diese entscheidende Frage jetzt als weniger wichtig als die Frage „LINKE mit oder ohne Wagenknecht“ gewertet wird, und Kritik am bürgerlichen Staat und seinem Parlamentarismus einem Wagenknecht-Rausschmiss geopfert wird, wird die immer wahrscheinlicher werdende Spaltung destruktiv. Am Ende einer solchen Spaltung wird es möglicherweise eine Partei mehr geben, aber keinen Erkenntnisgewinn. Der linke Flügel der Partei wird nach der Spaltung stärker marginalisiert sein als zuvor, die Mehrheit der Regierungsbefürworter*innen wäre gefestigt.
Die Sorge vieler Mitglieder darum, am Ende in einer Partei aufzuwachen, die sich noch weiter an SPD und Grüne anbiedert oder antimilitaristische Grundsätze wie die Ablehnung der NATO über Bord wirft, trägt wiederum zur Stärkung des Wagenknecht-Flügels bei. Einige der Genoss*innen, die sich jetzt gegen Wagenknecht organisieren, haben auf dem Parteitag im Juni noch für Waffenlieferungen an die Ukraine argumentiert.
Eine Spaltung scheint unter diesen Umständen unausweichlich. Am 4. Dezember tagt die Konferenz der „Progressiven Linken“. Ebenfalls für den Herbst angekündigt war eine Konferenz der „Populären Linken“, etwas Konkretes gibt es aber noch nicht, hier will man die Spaltung möglicherweise aus taktischen Gründen aufschieben.
Spaltung: Was kommt danach?
Es ist vorstellbar, dass eine Wagenknecht-Linke unter den bestehenden Voraussetzungen Chancen hätte, Wahlerfolge zu erzielen. Sie hat immerhin eine stringente Erzählung anzubieten: Die „andere“ Linke kümmere sich nur um Quatschthemen – wie den von Wagenknecht als „linksliberal“ diffamierten Kampf gegen Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus – während die arbeitende Klasse unter der Inflation leide, die die NATO-Grünen mit ihrer aggressiven Haltung gegenüber Russland zu verantworten hätten.
Ob es Wagenknecht und ihren Anhänger*innen gelingt, eine neue Partei zu gründen, ist offen, sie selbst hält das für „nicht so einfach“. Nach Umfragen hätte eine solche Partei ein großes Potenzial, aber es bleibt offen, ob sie dieses auch materialisieren und gleichzeitig Stimmen der LINKEN und der AfD ziehen könnte. Letztere ist aktuell im Aufschwung und zumindest für die klar rassistischen Wähler*innen der AfD gibt es wenig Gründe zum Wechsel.
War die Spaltung unausweichlich?
DIE LINKE hatte sich zu ihrer Gründung eine Mammutaufgabe gestellt: Die Linke links der SPD zu vereinen. Dabei sind viele verschiedene Strömungen zusammen gekommen, die sonst nicht zusammengekommen wären: Linke Sozialdemokraten und Revolutionär*innen, Linkspopulist*innen und gewerkschaftliche Organizer*innen, alte SED-Kader und junge Feminist*innen. Unter dem Eindruck von größeren sozialen Bewegungen (gegen die Agenda-2010-Politik von Rot-Grün 2003-2005) und einem Aufschwung linker Ideen nach der Wirtschaftskrise 2008 ging das auch eine Zeit lang gut.
Doch inhaltliche Debatten wurden selten zu Ende geführt. Der Druck des Parlamentarismus führte dazu, dass auf Bundesparteitagen Kontroversen kaum inhaltlich ausgetragen wurden, die Parteitage waren stattdessen von Wahl- und Abstimmungsmarathons geprägt. Es ist außerdem kein Zufall, dass es ausgerechnet in der Bundestagsfraktion zur Bildung des „Hufeisenbündnisses“ aus Bartsch und Wagenknecht kam, dessen Grundlage eine Beutegemeinschaft war statt eines gemeinsamen Verständnisses. Die Fraktion hat große Geldmittel, kann Personal einstellen, bekommt deutlich mehr Öffentlichkeit als der von der Partei gewählte Vorstand. Eine linke Partei hätte von Anfang an deutlich bewusster mit der Verselbstständigung der Fraktion umgehen müssen.
Große Teile der Partei DIE LINKE waren politisch nicht in der Lage oder willens, klare Positionen gegen die populäre Sahra Wagenknecht zu beziehen. Spätestens seit 2017 wäre ein politischer Bruch mit ihr nötig gewesen, auf der Grundlage einer klaren Strategie, die Klassenfrage mit dem Kampf gegen alle Formen von Diskriminierung zu verbinden, mit einer gleichzeitigen Kritik an dem Kurs der LINKEN auf Regierungsbeteiligungen und Anpassung an Staat, Parlamentarismus und bürgerliche Parteien.
Heute bestimmen die Reformer*innen Takt, Tempo und Richtung des Anti-Wagenknecht-Lagers. Sie nutzen Wagenknechts Provokationen, um ihre eigenen Positionen in der Partei zu festigen. Sie erhoffen sich eine weniger kontroverse LINKE, eine, die nicht ständig SPD und Grüne kritisiert, sondern „konstruktiv“ von links ergänzt und von ihnen auch selbstverständlich in Regierungskoalitionen eingeladen wird. Eine solche LINKE braucht aber – außer einigen Berufspolitiker*innen – kein Mensch. Wenn DIE LINKE ihren Charakter als Protestpartei vollständig aufgibt, kann die AfD weiter profitieren. Eine Wagenknecht-Protestpartei, die wichtige linke Grundsätze wie „Solidarität gegen jede Form von Unterdrückung“ aufgibt, braucht allerdings auch niemand.
Möglicherweise stünden am Ende der LINKEN zwei Parteien, die zwei Varianten einer rechts-reformistischen Politik verfolgen und ihre Tauglichkeit als Instrument im Klassenkampf weitgehend verloren hätten. Im besten Fall geht der Klärungsprozess in der LINKEN auch nach einer Spaltung weiter, und die grundsätzlichen Fragen werden mit ebenso offenem Visier debattiert wie die, ob Wagenknecht dabei ist oder nicht.