Liebe. Sie ist ein Gefühl, mit dem wir uns unser ganzes Leben beschäftigen. Manche finden sie einmal, manche sind ihr ganzes Leben von ihr umgeben, manche verbringen ihr ganzes Leben erfolglos auf der Suche. Manche wissen überhaupt nicht, was Liebe ist. Mehr denn je fühlen sich Menschen aktuell einsam und ohne Liebe.
Von Sammy, z.Zt. Boston
Laut einer Studie, die Dr. Susanne Bücker 2021 für den Bundestag durchführte, fühlen sich 17% aller befragten Personen „ständig oder häufig einsam“ und weitere 30% der Befragten gaben an, sie fühlten sich „manchmal einsam“. Das entspräche fast 50% der deutschen Bevölkerung. Verglichen mit den älteren Ergebnissen der Studie von 2017 haben sich die „ständig oder häufig”-Angaben fast verdoppelt: von 10% auf 17%. Manche nennen dies die „Einsamkeitsepidemie“.
Dieser Mangel an Liebe ist jedoch kein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches. Die Aktivität in Gruppen, in denen Einsamkeit überwunden wird, wie Gewerkschaften, Parteien, Sportvereinen und Kirchen sinkt. Social Media überdeckt echte soziale Begegnungen und verkauft uns verfälschte, geschönte Versionen echter Beziehungen. Unterbezahlte Jobs mit zu viel Arbeitsstress lassen uns keine Zeit für Liebe. Die wachsende Zahl einsamer Menschen zeigt eine kranke Gesellschaft: eine Gesellschaft, in der viele entfremdet, überlastet, deprimiert sind.
Die russische Marxistin Alexandra Kollontai hat gesagt, Menschen der Arbeiter*innenklasse seien deshalb einsam, weil die Liebe, die wir kennen, die Liebe der kapitalistischen Klasse ist. In ihrem Text Weg frei für den geflügelten Eros! (Vierter Brief an die arbeitende Jugend, online verfügbar in der englischen Übersetzung: Make Way for Winged Eros) von 1923 analysiert sie die soziale Rolle der Liebe in allen Klassengesellschaften aus marxistischer Perspektive. Demnach sei Liebe keine feste, universale zwischenmenschliche Emotion, sondern ein vielfältiger sozialer Faktor. Es gebe viele Arten von Liebe, sexuelle Liebe, Liebe zur Arbeit, intellektuelle Liebe und freundschaftliche Liebe. Je nach Klassengesellschaft herrschen unterschiedliche Vorstellungen von Liebe vor, zugunsten der jeweiligen herrschenden Klasse. Im antiken Griechenland seien die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Männern der herrschenden Klasse besonders wichtig gewesen, weil diese die damals schwache Klassengesellschaft am Besten stärkten. Nach Kollontai ist Liebe immer ein integraler Bestandteil der Kultur, der die bereits bestehenden herrschenden Machtstrukturen bewahre.
Die Liebe des Kapitalismus
Die herrschende Vorstellung von Liebe im Kapitalismus ist, dass alle Arten von Liebe von einer*m Ehepartner*in erfüllt sein sollen. Der Hauptzweck der bürgerlichen Kernfamilie ist, Kapital zu akkumulieren. Liebt man ausschließlich die*den Ehepartner*in, wird das Familieneigentum mit Sicherheit den legitimen Kindern vererbt. Dabei gilt es, die Sexualität der Frau besonders zu beschränken. Kollontai schreibt, „Die bürgerliche Ideologie hat darauf bestanden, dass die Liebe, die gegenseitige Liebe, das Recht auf den absoluten und unteilbaren Besitz der geliebten Person verleiht. Eine solche Exklusivität war die natürliche Folge der etablierten Form der Paarehe und des Ideals der ,allumfassenden Liebe’ zwischen Mann und Frau.“
Diese ideale Liebe der herrschenden Klasse ist natürlich sehr idealistisch und einschränkend, und kaum ein Mensch findet dieses Ideal der “einzigen wahren Liebe“. Warum ist dieses Ideal dennoch so weit verbreitet? Dieses bürgerliche Liebesideal wird uns überall in den Medien gezeigt. Wir wurden fast ausschließlich mit dieser einen Idee von Liebe sozialisiert. In Rom-Coms, Romanen, Serien oder Songtexten, aber auch in der Werbung und sogar in den Gesetzbüchern gibt es nur eine Vorstellung von Liebe. Die bürgerliche Vorstellung von Liebe lässt sich gut verkaufen: als Film, Schönheitsprodukt, „romantisches“ Geschenk oder als Dating-App. Tinder erwirtschaftete 2021 allein 1,4 Milliarden Dollar. Und wer gibt Geld für sowas aus? Einsame Menschen und Menschen in instabilen Beziehungen – Zustände, die der Kapitalismus verursacht, wovon er profitiert.
Die Liebe der Arbeiter*innenklasse
Die Arbeiter*innenklasse braucht eine neue Form von Liebe – eine Form, die besser zu unserem Lebensstil und unseren Interessen passt. Wir wollen die bereits vorhandene Liebe nicht abschaffen, sondern sie erweitern, um eine Liebe auf Grundlage von Solidarität und der Stärke des Kollektivs statt Erbschaftssicherung. In ihrem Text nannte Kollontai diese proletarische Form der Liebe kameradschaftliche Liebe. Sie schreibt,
„Die blinden, allumfassenden, fordernden Leidenschaften werden sich abschwächen; der Sinn für Eigentum, der egoistische Wunsch, den Partner „für immer“ an sich zu binden, die Selbstgefälligkeit des Mannes und die Selbstverleugnung der Frau werden verschwinden. Gleichzeitig werden sich die wertvollen Aspekte und Elemente der Liebe entwickeln. Die Achtung vor dem Persönlichkeitsrecht des anderen wird zunehmen, eine gegenseitige Sensibilität wird erlernt werden; Männer und Frauen werden danach streben, ihre Liebe nicht nur in Küssen und Umarmungen, sondern in gemeinsamer Kreativität und Aktivität auszudrücken. Die Aufgabe der proletarischen Ideologie besteht nicht darin, den Eros aus dem gesellschaftlichen Leben zu vertreiben, sondern ihn entsprechend der neuen gesellschaftlichen Formation neu aufzurüsten und die sexuellen Beziehungen im Geiste der großen neuen psychologischen Kraft der kameradschaftlichen Solidarität zu erziehen.“
Mit der Arbeiter*innenklasse als „herrschender Klasse“ in einem sozialistischen Staat wäre das Ziel eine möglichst starke, gut funktionierende und solidarische Gesellschaft aufzubauen. Die Liebe, die dieser Gesellschaft am besten entspricht, ist eine viel breitere Liebe. Im Sozialismus könnten die vielen Seiten des Gefühls der Liebe entfesselt und in der Gesellschaft verbreitet werden. Ich könnte eine Person nur aus intellektuellen Gründen lieben, eine andere Person, weil wir uns emotional sehr gut verstehen, meine Arbeitskolleg*innen wegen unseres gemeinsamen Interesses für unsere Arbeit, eine andere Person, weil ich sie einfach sexy finde und wieder eine andere, weil wir beide Herr der Ringe-Nerds sind. Solch eine Gesellschaft wäre nicht nur liebevoller, sondern auch produktiver und besser für das Kollektiv, weil ihre Mitglieder überall stärkere Bindungen untereinander hätten. Das ist die Liebe der Arbeiter*innenklasse.
Liebe besteht aus Kampf
Diese Idee lässt sich nur verwirklichen durch gemeinsamen, organisierten Kampf. Die Arbeiter*innenklasse muss mehr Zeit und Kapazitäten für Liebe haben. Wir müssen die 30-Stunden-Arbeitswoche erkämpfen. Niemand sollte sich Sorgen um menschliche Grundbedürfnisse machen müssen, wir müssen u.a die Enteignung und Vergesellschaftung der Immobilienkonzerne, der Energiekonzerne, die komplette Verstaatlichung des Gesundheitswesens, massiven Ausbau des ÖPNV und Überführung der Banken in öffentliches Eigentum erkämpfen. Letztendlich brauchen wir unabhängige Medien, kontrolliert von Arbeiter*innen und normalen Menschen statt von Milliardär*innen. Nur wenn die Arbeiter*innenklasse Staat und Gesellschaft übernimmt, kann “kameradschaftliche Liebe“ durch Bildung, neue Medien, eine solidarische Kultur und die Beseitigung des vom Kapitalismus verursachten Mangels langsam die vorherrschende Form der Liebe werden.