Britannien: Klassenkämpfe spitzen sich zu
Statt mit den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes zu verhandeln, hat die britische Regierung angekündigt, das Streikrecht einzuschränken. Der Gewerkschaftsdachverband TUC will dagegen klagen. Am 1. Februar soll es zum landesweiten Aktionstag kommen.
Von Anne Engelhardt, Kassel
Rishi Sunak, der neue Tory-Premier, ging gleich in den ersten drei Tagen des neuen Jahres in die Vollen: In sechs Branchen, darunter Pflege, Feuerwehr, Bahn und Bildung sollen Gewerkschaften gezwungen werden, sich bei Streiks an feste Mindestbesetzungen zu halten, andernfalls könnten sie verklagt und Kolleg*innen fristlos entlassen werden. Während solche Mindestbesetzungen in vielen Ländern zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen verhandelt werden, sollen sie hier gesetzlich festgelegt sein. Dieser Angriff kommt, nachdem die Regierung bereits im Sommer 2022 durchgesetzt hatte, dass Unternehmen legal Leiharbeiter*innen zum Streikbruch anheuern können.
2015 wurde beschlossen, dass sich mindestens 50 % einer Belegschaft an einer Urabstimmung für einen Streik beteiligt haben müssen, damit der Streik legal ist. Außerdem müssen Gewerkschaften Streiks bereits jetzt mindestens zehn Tage vorher ankündigen und in einem Zeitraum von einigen Monaten die Urabstimmung wiederholen. Die Gewerkschaft PCS fand über geleakte Dokumente aus der Regierung heraus, dass sogar geplant war, in einigen Bereichen wie Grenzschutz und Küstenwache, wo sie selbst Kolleg*innen organisiert, Gewerkschaften komplett zu verbieten.
Tories bleiben Thatcher treu
Die Regierung will nicht ernsthaft verhandeln. Stattdessen haben private Anteilseigner*innen bei den Bahnen bisher über 300 Millionen Pfund (ca. 340 Millionen Euro) vom Staat erhalten, um Ausfälle durch Streiks zu kompensieren. Der Konflikt zwischen der Bahngewerkschaft und etwa 14 Unternehmen ist seit Juni 2022 eskaliert. Es geht um vieles: den Inflationsausgleich, aber auch den Erhalt von Stellen sowie um die steigende Überlastung durch Mehrarbeit. Es geht auch um Barrierefreiheit: Mehrere Gremien und Verbände von Menschen mit Behinderungen haben die Unternehmen davor gewarnt, noch mehr Personal in den Zügen und auf den Bahnhöfen zu streichen, da dadurch vielen Menschen mit Einschränkungen der Zugang zur Bahn verwehrt bliebe. Die Gewerkschaft RMT (Railway Maritime Transport Union) und ihr Vorsitzender Mick Lynch stehen weiterhin an vordester Front der britischen Streikwelle, auch gegen das neue Anti-Streik-Gesetz. Am 16. Januar organisierte die Gewerkschaft bei der zweiten Lesung des Gesetzes einen Protest vor dem Sitz des Premiers in London.
Neben den Bahnkolleg*innen sind die Krankenpfleger*innen und Sanitäter*innen in die erste Reihe der Streikwelle aufgerückt. Ende Dezember begannen ihre Streikaktionen. Der Regierungssprecher behauptete, dass ein Streik der Pfleger*innen Putin in die Hände spielen würde. Er wäre außerdem zu Verhandlungen mit den Sanitäter*innen und Ambulanzwagenfahrer*innen nur bereit, wenn diese ihre Produktivität steigern würden. Darauf konnte der Verhandlungsführer der Gewerkschaft UNITE nur den Kopf schütteln und fragte in einem Interview, wie denn mehr als 18 Stunden pro Schicht noch verträglich seien. Die Regierung verstehe nicht, dass der Gesundheitssektor keine Fabrik sei. Weitere Streiks sind angekündigt. Insbesondere die prekäre Lage während der Pandemie, die weiteren Versuche, das Gesundheitssystem zu privatisieren, und die Kürzungen des Personals, treiben die Kolleg*innen in den Arbeitskampf. Die Solidarität innerhalb der Bevölkerung ist groß, über 70 % sind laut einer Umfrage für bessere Löhne für Pfleger*innen, selbst, wenn diese dafür streiken müssten.
Einige Konflikte in der Kommunikationsbranche sind beigelegt worden. Allerdings plant das Management der Post weiterhin einen Generalangriff auf die Post- und Paketzusteller*innen. Diese sollen zu prekären Plattformarbeitenden umgeschult werden, die spontan über Apps angeworben werden können – wie Lieferando für die Post. Der Kampf richtet sich deshalb auch gegen die Regierung, da die Gewerkschaft die Rückverstaatlichung der Post fordert, um den Plänen ein Ende zu setzen. Die CWU (Communication Workers Union) organisierte kürzlich auch den Bruch des Streikbruchs: Als zum ersten Mal legal Leiharbeiter*innen während der Streiks über die Plattform Ryde als Streikbrecher*innen angeworben wurden, bewarben sich hunderte Postbot*innen auf ihre Jobs – und erschienen dann nicht zur Arbeit, sondern wie geplant am Streikposten. Andere Kolleg*innen aus anderen Branchen sahen die Streikposten und weigerten sich daraufhin, ihren Auftrag zu auszuführen, sie solidarisierten sich mit dem Streik.
Ende Januar werden die Feuerwehrleute ihre Urabstimmung beenden und ebenfalls in die Streikfront eintreten. In den letzten Wochen wurden Studien veröffentlicht, die belegten, dass viele Kolleg*innen, die 2017 bei dem Hochhausbrand in Grenfell im Einsatz waren, inzwischen an Krebs erkrankt sind, in einem Dutzend Fällen ohne Aussicht auf Heilung. Es gibt unter den Kolleg*innen eine große Wut auf die Unterbesetzung und Unterfinanzierung dieses für die Gesellschaft lebenswichtigen Bereiches.
Auch an Schulen und Hochschulen brodelt es weiter. Die Hochschulgewerkschaft UCU hat angekündigt, am 1. Februar zu streiken und ab März 18 Tage in den Vollstreik zu gehen und die Bewertung der Sommerexamen auszusetzen. Im Dezember fand der landesweit bisher größte Uni-Streik mit etwa 70.000 Beteiligten an 150 Hochschulen statt. Es geht um die Kürzung der Renten und neue Pläne, dem Personal bei Forschung und Lehre mehr Arbeit aufzudrücken und Stellen abzubauen.
Aktionstag 1. Februar – oder Generalstreik?
Gegen das neue Anti-Streikgesetz soll am 1. Februar landesweit dezentral demonstriert werden. Doch nicht nur das: Die PCS – die Gewerkschaft für Grenzschutz und Küstenwache – will ca. 100.000 Mitglieder zum Streik aufrufen. Das ist besonders brisant, denn die Gewerkschaft organisiert auch die Kolleg*innen, die in den aktuell sehr umstrittenen Lagern für Geflüchtete arbeiten. Im November war ein Boot im Ärmelkanal gekentert, vier Menschen kamen ums Leben. Die Gewerkschaft hat der Regierung ein Konzept für die sichere Einreise und Überfahrt von Geflüchteten vorgelegt. Die Innenministerin Suella Braverman will stattdessen alle Menschen in Flüchtlingslagern nach Ruanda abschieben und träumt nach eigener Aussage davon, selbst so einen Flug nach Ruanda abheben zu sehen.
Am 1. Februar mobilisieren auch andere Gewerkschaften. Es wäre wichtig, dass die einzelnen Arbeitsstätten ihre Streik- und Protestleitungen selbst wählen, um im Falle eines Umkippens der Gewerkschaftsführung auch in der Lage zu sein, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Momentan sieht es jedoch danach aus, dass die Regierung auch reformistischen Gewerkschaftsführer*innen keinen Spielraum lässt, als die Kämpfe weiter zuzuspitzen und zu koordinieren. Dazu braucht es am 1. Februar und in den Folgemonaten mehr als koordinierte Aktionen. Ein Generalstreik gegen die Tory-Regierung könnte der Anfang sein.
Keine Alternative im Parlament
Allerdings ist allen völlig klar, dass die Labour-Partei keine Alternative bietet. Seit der Niederlage Jeremy Corbyns wurden sämtliche Linken aus der Partei geworfen oder sind angesichts des desolaten Zustands der Partei freiwillig geflohen. Keir Starmer, der aktuelle Vorsitzende, beweist dem Kapital, dass es im Falle seines Wahlsieges vor ihm keine Angst haben muss. Er ist gegen die Streiks, gegen Migration und auch sonst eher eine harte als softe Tory-Version. Es braucht neben der Wiederbelebung der Arbeiter*innenbewegung auch eine Wiederbelebung der politischen, unabhängigen Strukturen von Arbeiter*innen, eine sozialistische Massenpartei, die die aktuellen Kämpfe vereinen und ein gemeinsames politisches Programm und eine gemeinsame Strategie entwickelt; eine Partei, die bereit ist, nicht nur an Kapital und Politik zu appellieren – wie es die Gewerkschaften tun – sondern auch radikal mit ihnen und ihrem System zu brechen.