Der 9. November 1918 ist vielen ein Begriff. Das war die deutsche Revolution, so die landläufige Meinung. In Wirklichkeit war es nur der Beginn einer revolutionären Phase. Bürgerliche Republik und Kapitalismus wurden nach der Niederschlagung des sogenannten „Spartakus-Aufstandes“ und der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts nur vorübergehend stabilisiert. Immer wieder unternahmen die organisierten Arbeiter*innen Versuche, mehr zu erreichen. Der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920 ist einigen noch bekannt. Fast völlig aus der Geschichtsschreibung und der kollektiven Erinnerung verschwunden ist die revolutionäre Zuspitzung des Herbstes 1923. Die Hyper-Inflation, die französische Ruhr-Besetzung und der gescheiterte Hitler-Putsch in München mögen noch bekannt sein, aber fast vergessen ist, dass die KPD sich auf ihrem Höhepunkt befand und Kommunist*innen in Deutschland und der Internationale einen „deutschen Oktober“, die revolutionäre Durchsetzung eines Räte-Systems nach Vorbild Russlands, für möglich hielten.
Von Claus Ludwig, Köln
Im März 1920 hatten die organisierten – sozialdemokratischen und kommunistischen – Arbeiter*innen den rechten Putsch unter Kapp und Lüttwitz durch einen Generalstreik zurückgeschlagen. Anschließend gingen kommunistische Arbeiter*innen zu offensiven Aktionen über. Doch der bewaffnete Aufstand der „Roten Ruhr Armee“ wurde militärisch niedergeschlagen, gefolgt von einer harten Repressionswelle.
Allerdings wuchs die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) nach einer kurzen Pause, weil die Politik der SPD-Führung die Arbeiter*innen zunehmend enttäuschte. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) entwickelten sich nach links. 1920 vereinigte die KPD sich mit der Mehrheit der USPD und wurde damit zur Massenpartei.
Besatzung und Inflation
Am 11. Januar 1923 marschierten französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet ein. Frankreich verlangte, dass Deutschland die Reparationen – Strafzahlungen für die Kriegsschuld am 1. Weltkrieg – vollständig bezahlen sollte. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Cuno verkündete den „passiven Widerstand“ – die Reparationszahlungen wurden eingestellt, die Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten wurde untersagt. Arbeiter*innen im Ruhrgebiet wurden von der Reichsregierung zur Arbeitsniederlegung aufgerufen, ihre Löhne würde der Staat weiterbezahlen.
Die KPD wandte sich gegen die französische Besatzung, aber ebenso gegen die arbeiterfeindliche Politik der Regierung Cuno, welche den 10-Stunden-Tag wieder einführen wollte und die Arbeiter*innen die Belastung des „Widerstandes“ tragen ließ, während die Kohlekapitalist*innen des Ruhrgebiets großzügig für französische Beschlagnahmungen entschädigt wurden. „Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree!“ war ihre Parole, sie arbeitete mit französischen Kommunist*innen zusammen, die sich an die Besatzungssoldat*innen wandten.
Die Besatzung und die daraus resultierenden Kosten ohne produktive Entsprechung – Entschädigungen an Unternehmen, Lohnfortzahlungen für Arbeiter*innen und Angestellte – ließ die Inflation außer Kontrolle geraten. Im Juni kostete ein britisches Pfund 500.000 Mark, im August 5 Millionen. Die Besitzer*innen von Gold, Devisen und Produktionsanlagen konnten ihr Vermögen vermehren, während die lohnabhängige Bevölkerung täglich ärmer wurde.
Im Mai begann eine Streikwelle im Ruhrgebiet, im Juni dehnte sie sich landesweit aus. Die Streikenden forderten höhere Löhne, um die Teuerung auszugleichen. Im August erreichte die Bewegung einen Höhepunkt: Der Generalstreik gegen die Regierung Cuno wurde vorbereitet. Eine der Forderungen: Die Einführung einer gleitenden Lohnskala, die automatische Anpassung der Löhne an die Inflation. Am Vorabend des Generalstreiks trat Cuno zurück, unter dem Nationalliberalen Stresemann wurde eine neue Regierung unter Beteiligung der SPD gebildet. Nicht alle Arbeiter*innen erfuhren das rechtzeitig, so dass noch Millionen streikten, als die Hauptforderungen bereits erfüllt waren, unter anderem die gleitende Lohnskala.
Richtung „deutscher Oktober“
Die KPD hatte im Jahr 1923 enorm an Einfluss gewonnen, im Sommer hatte sie die SPD überholt und war zur stärksten Abeiter*innenpartei geworden. Nach dem siegreichen Generalstreik sah die Führung der KPD und der Kommunistischen Internationale (Komintern) die Möglichkeit eines neuen revolutionären Anlaufs. Der Parteivorsitzende Heinrich Brandler, der vielen Aktiven als Zögerer und „Rechter“ galt, zweifelte, erklärte sich jedoch bereit, in Richtung der Vorbereitung des revolutionären Aufstandes zu gehen.
Das Problem war jedoch, dass die beste Gelegenheit bereits verstrichen war. Die Lage im August, direkt nach dem Generalstreik, war günstig gewesen. KPD und Komintern setzten darauf, dass sich die Situation weiter zu ihren Gunsten verändern würde, aber es lief in die andere Richtung. Die Regierung Stresemann setzte auf die Stabilisierung der Währung. Dies verteuerte die deutschen Waren auf dem Weltmarkt, die Arbeitslosigkeit stieg. Viele Arbeiter*innen fürchten den Jobverlust. Gleichzeitig schien sich der Kapitalismus wieder zu stabilisieren. Die Stimmung schwankte.
Die KPD und die Vertreter*innen der kommunistischen Internationale einigten sich darauf, den 9. November, den Tag eines Betriebsräte-Kongresses, als Termin für den allgemeinen Aufstand festzulegen. Zuvor trat die KPD in die SPD-geführten Landesregierungen in Sachsen und Thüringen ein, um „Arbeiterregierungen“ zu bilden. Die Begründung dafür war, zunächst Bollwerke gegen eine angenommene Gefahr faschistischer bzw. monarchistischer Staatsstreich-Versuche zu bilden, um dann zur Offensive überzugehen.
In den Koalitionsverträgen war die Bewaffnung von 50.000 bzw. 60.000 Arbeiter*innen vorgesehen. Allerdings kam es nicht dazu, weil die Reichsregierung gegen die Landesregierungen vorging und die SPD gehorchte. Die KPD saß in den Landesregierungen, aber in Sachsen und Thüringen wurden sämtlichen kommunistischen Publikationen verboten, ebenso die „Proletarischen Hundertschaften“, die parteiübergreifenden Arbeiter*innen-Wehrverbände. Viele Arbeiter*innen sahen zudem den Eintritt in die Regierungen nicht als Auftakt zu einer revolutionären Offensive, sondern interpretierten dies als Signal für eine gesellschaftliche Stabilisierung.
Erst wollte die KPD den Aufstand vorziehen und dafür einen Kongress der Arbeiter*innen-Organisationen in Chemnitz am 21. Oktober nutzen. Die SPD drohte daraufhin mit Absage ihrer Teilnahme am Kongress. Die KPD-Führung entschied, den Aufstand zu verschieben. Diese Nachricht erreichte die KPD in Hamburg nicht. Dort kam es zum bewaffneten Aufstand, an dem sich allerdings nur rund 300 KPD-Aktive beteiligten. Dieser wurde von der Polizei niedergeschlagen, 23 Kommunist*innen und 17 Polizist*innen starben.
Danach verhängte Reichspräsident Ebert (SPD) die „Reichsexekution“ gegen Sachsen und ließ die Reichswehr einmarschieren. Wenig später wurde die Landesregierung abgesetzt, das thüringische Kabinett löste sich frewillig selbst auf.
Niederlage mit Folgen
Schwerer wog allerdings die landesweite kampflose Niederlage. Der „deutsche Oktober“ fand nicht statt.
Das ermutigte den Hitler-Putsch vom 9. November 1923, als bewaffnete Faschist*innen im Stile Mussolinis in München marschierten und von Bayern aus die gewaltsame Konterrevolution einleiten wollten. Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle hatte was Operettenhaftes, doch schon bald wurde klar, dass die faschistische Gefahr keineswegs lächerlich war.
Es ist nicht eindeutig, ob ein revolutionärer Aufstand 1923 erfolgreich gewesen wäre, wenn die KPD rechtzeitig gehandelt hätte. Sie wurde im Sommer von ihrem eigenen Erfolg überrascht und verpasste den Moment. Auch im Oktober gab es Ansätze, aber die allgemeine Lage wurde nicht vorteilhafter. Die Niederlage von 1923 beendete den revolutionären Zyklus, der 1918 begonnen hatte. Danach kam es zur Stabilisierung des Kapitalismus in Deutschland, zu den „Goldenen Zwanziger“, die spätestens 1929 jäh beendet wurden und zur erneuten Zuspitzung zwischen den revolutionären und brutal konterrevolutionären Kräfte führte.