Nach einer Urabstimmung haben 85,9% der ver.di-Mitglieder bei der Post gegen die Annahme des Tarifangebots vom Februar gestimmt. Die Zeichen standen auf unbefristeten Erzwingungsstreik. Kolleg*innen diskutierten bereits Strategien, um Leiharbeitende, Studierende und andere schwer zu organisierende Gruppen einzubinden. Die Stimmung in vielen Zentren war gut.
Doch es kam anders: Am 11. März führte die Tarifkommission von ver.di überraschend eine vierte Verhandlung durch und stimmte plötzlich doch einem Angebot zu, ohne dass es zum Vollstreik kam. Für das neue Angebot gibt es jetzt bis zum 30. März eine erneute Urabstimmung. Dabei reichen allerdings 25% Zustimmung für die Annahme aus.
Wir sind der Meinung, dass Kolleg*innen das Angebot und auch die Vorgehensweise der Tarifkommission ablehnen müssen – hier sind fünf Gründe, weshalb:
1. Es droht Reallohnverlust
Um das Ergebnis zu bewerten, müssen die Jahre 2022 bis 2024 insgesamt betrachtet werden. Verhandlungsführerin Andrea Kocsis hat erklärt, mit dem Abschluss sei ein Inflationsausgleich erreicht worden. Aber die Inflation ist schon seit 2021 höher als die Lohnerhöhungen aus der letzten Tarifrunde, und die Reallöhne sind seitdem schon um etwa 8% gesunken. Anfang 2022 gab es für die Postkolleg*innen eine Tariferhöhung von 2%. Die Inflation im gleichen Jahr betrug 6,9%. Viele Kolleg*innen sind aufs Auto angewiesen, um zu Verteilzentren und an andere Arbeitsstellen zu fahren, die Spritpreise sind explodiert.
Ist die Inflation höher als die optimistischen Prognosen, gibt es Reallohnverlust: Bei einer Inflation von 8% würden Kolleg*innen, die aktuell 3.000 Euro verdienen, 4,7% auf Dauer verlieren. Die tatsächliche Inflationsrate für die Gering- und Durchschnitts-Verdienenden liegt zudem höher als die offiziell angegebene. Es bleibt in jedem Fall ein Reallohnverlust. Eine Lohnsteigerung aufgrund gestiegener Arbeitsproduktivität gab es nicht, eine Umverteilung zugunsten der Beschäftigten ebenfalls nicht.
2. Die Einmalzahlung ist nicht tabellenwirksam
Über einen Zeitraum von April 2023 bis März 2024 werden insgesamt 3.000 Euro steuer- und abgabenfreie „Inflationssonderzahlung“ ausgezahlt. Auch wenn die Auszahlung über einen längeren Zeitraum verteilt wird, ist das letztlich eine nicht tabellenwirksame Einmalzahlung. Sie bringt zwar Geld aufs Konto, aber eben nur für einen kurzen Zeitraum.
Inflation bedeutet, dass das Preisniveau dauerhaft erhöht ist. Um es anschaulich zu machen: Der Preis der Butter steigt in einem Jahr von 2 Euro auf 2,20 Euro und die Beschäftigten bekommen einmalig einen Inflationsausgleich von 20 Cent. Selbst wenn die Inflationsrate in allen Folgejahren bei null Prozent liegt, würde das bedeuten, dass die Butter weiterhin 2,20 Euro kostet. Die Beschäftigten zahlen also Jahr für Jahr 20 Cent mehr, haben aber nur einmalig 20 Cent bekommen. Es gibt nichts Teureres für die Beschäftigten als Einmalzahlungen. Über die Jahre addiert sich der Verlust gegenüber einer prozentualen Lohnerhöhung auf mehrere tausend Euro.
Weil der Konzern für die Einmalzahlung keine Sozialabgaben zahlt, trägt sie auch nicht zur zukünftigen Rente bei und wird letzten Endes von allen steuerzahlenden Beschäftigten mitfinanziert. Zurecht wurde nach den ersten Verhandlungen erklärt, dass die Einmalzahlungen nur als Bonus zu den tabellenwirksamen Forderungen akzeptabel wären. Die Verhandlungsführerenden hätten dabei bleiben sollen, statt den Kolleg*innen jetzt Sand in die Augen zu streuen, und die 3.000 Euro, die schnell wieder weg sind, als echten Erfolg zu präsentieren.
3. Die Laufzeit ist mit zwei Jahren zu lang
Die eigentlichen Löhne steigen erst im April 2024 um 340 Euro brutto. Die Zahlen von 11% und 16% für die unteren Entgeltgruppen klingen hoch. Aber sie berechnen sich über eine Laufzeit von zwei Jahren! Auf ein Jahr gerechnet bedeutet das eine magere Erhöhung von 6,5 bis 8% bei einer aktuellen Inflationsrate von 8,7%. Gefordert hatte ver.di 15% auf ein Jahr. Bezogen auf die Tabellenlöhne (und damit auch Sonderzahlungen und Rentenbeiträge) wurde die Forderung also knapp zur Hälfte erfüllt. Fälschlicherweise wurden bei der Präsentation der Ergebnisse die Lohnerhöhungen nach zwei Jahren angegeben, während die Inflationsrate immer für ein Jahr angegeben wird. Mit der Annahme des Ergebnisses dürfte man zwei Jahre nicht streiken, und wäre gefangen in einem bestenfalls mittelmäßigen Tarifvertrag.
4. Es wäre mehr drin gewesen
Das vorliegende Angebot des Arbeitgebers ist dem ersten Angebot – gegen das sich sich die Mehrheit der Kolleg*innen kurz vorher ausgesprochen hatte – zum Verwechseln ähnlich. Der rasante U-Turn der Tarifkommission fällt den vielen in den Rücken, die an der Basis zwei Wochen lang Kolleg*innen überzeugt haben, bei ver.di einzutreten und für den Streik zu stimmen. Eine Verbesserung um etwa ein Viertel hat genügt, um aus einem Angebot, das die Forderung nicht einmal zur Hälfte erfüllt hatte, ein „ordentliches Ergebnis“ (Andrea Kocsis) zu machen.
An fehlenden Umsätzen bei der Post kann es jedenfalls nicht liegen: 2022 hat der Konzern einen Rekordgewinn von 8,4 Milliarden Euro erzielt mit der Arbeit der Kolleg*innen, die Überstunden gemacht, immer höhere Paketaufkommen bewältigt, mit hohen Belastungen und Krankenstand zu kämpfen hatten und in der Pandemie trotz Lockdown schuften mussten. Der hohe Jahresgewinn bei der Post war bereits Anfang 2023 allen Kolleg*innen bekannt und wäre ein gutes Argument gewesen, um öffentlichen Druck auf das Management zu erzeugen.
Die Forderung nach 15% Lohnerhöhung auf ein Jahr, die großen und teils mehrtägigen Warnstreiks, bei denen viele Kolleg*innen in ver.di eingetreten sind, und die erste Urabstimmung mit 85,9% für einen möglichen Erzwingungsstreik waren Schritte in die richtige Richtung und haben der Gewerkschaftsbewegung insgesamt gut getan. Die unerwartete Beendigung des Streiks wird diese Dynamik in Frust umwandeln und für eine erneute Austrittswelle bei der Post sorgen. Denn die Regeln für die Urabstimmung sind gesetzt: Über 75% müssten gegen das wenig verbesserte „neue“ Angebot stimmen. Angesichts dessen, dass ver.di vorschlägt, das Angebot anzunehmen, ist der Widerstand gegen das Vorgehen der Gewerkschaftsführung zwar nur bedingt erfolgversprechend – aber dennoch dringend notwendig.
5. Der Abschluss ist ein ein schlechtes Signal für die Kolleg*innen im öffentlichen Dienst
Für die Tarifrunde im öffentlichen Dienst ist der Abschluss kein gutes Vorbild. Wenn auch dort das miese erste Angebot um 25% verbessert und dann angenommen würde, gäbe es zwei Mini-Lohnerhöhungen um 3,75% und 2,5% bei 27 Monaten Laufzeit – also starken Reallohnverlust. Es bleibt zu hoffen, dass es durch starke Streiks und eine konsequente Verhandlungsführung nicht dazu kommt, dass hier ebenfalls in letzter Sekunde ein Erzwingungsstreik abgeblasen und hinter verschlossenen Türen dann doch einem mageren Angebot zugestimmt wird.
Die Motivation vieler Kolleg*innen im öffentlichen Dienst ist es nicht nur, für mehr Geld zu streiken, sondern auch für mehr Personal – was für Krankenhäuser und Kitas gilt, gilt auch für die Post. Dafür müssen aber die Löhne steigen, damit diese harten Berufe halbwegs attraktiv werden. Letztlich ist ein gut ausgestatteter öffentlicher Dienst besser für alle. Denn öffentlicher Dienst heißt eigentlich, dass nicht Profite, sondern die Bedürfnisse der Gesellschaft gedeckt werden. Wie übrigens auch der Bahnverkehr gehört der Brief- und Paketversand zu diesen gesellschaftlichen Bedürfnissen. Die Forderung der LINKEN, die Post wieder zu verstaatlichen, hat große Aufmerksamkeit erzeugt und würde laut einer Civey-Umfrage von einer knappen Mehrheit unterstützt. Mit dem Ende der Tarifrunde wäre das Thema in der öffentlichen Debatte erstmal wieder vom Tisch.
Fazit: Mit Nein Stimmen!
3.000 Euro und zweistellige Prozentzahlen sehen für viele erst einmal ordentlich aus. Die Tarifkommission empfiehlt die Annahme und die Medien haben die Tarifrunde schon für beendet erklärt. Das Ergebnis bleibt aber enttäuschend. Statt aus der Gewerkschaft auszutreten, sollten unzufriedene Postler*innen ein anderes Zeichen setzen: Überzeugt eure Kolleg*innen erneut, gegen das Ergebnis zu stimmen.
Auch wenn eine 75%ige Ablehnung schwer zu erreichen ist: Es ist wichtig zu zeigen, dass es viele Kolleg*innen gibt, die in Zukunft mehr erwarten und bereit sind, dafür zu kämpfen.
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