Genderrollen und -hierarchien, die Männern die soziale Vorrangstellung einräumen, gibt es überall auf der Welt. Sie wurden und werden traditionell als naturgegeben und damit „zeitlos“ dargestellt. Diese Sichtweise wurde erst im 19. Jahrhundert wissenschaftlich in Frage gestellt.
Von Ianka Pigors, Hamburg
1877 veröffentlichte der amerikanische Anthropologe Lewis H. Morgan sein Buch „Ancient Society“, in dem er seine Theorie darlegte, wie sich menschliche Gesellschaften nach einem bestimmten Stufenschema entwickeln. Basierend auf Beobachtungen des Volkes der Irokes*innen beschrieb Morgan die Veränderungen von verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen in verschiedenen historischen Stadien. In diesem Zusammenhang thematisierte er auch die Veränderung der Geschlechterrollen.1
Engels und Morgan
1884 erschien Friedrich Engels’ Buch „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“2, in dem er eine Entwicklung von einem durch Gleichberechtigung der Geschlechter geprägten “Urkommunismus” zur patriarchalen Klassengesellschaft darstellte. Engels stützte sich maßgeblich auf die Erkenntnisse Morgans und versuchte mit der Methode des historischen Materialismus eine Erklärung der Entstehung der gesellschaftlichen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen.
Engels Arbeit stellte die zu seiner Zeit herrschenden Vorstellungen vom Wesen der Familie radikal in Frage – bis heute. Sein Buch gilt in der proletarischen Frauenbewegung deshalb noch immer als Standardwerk. Nach fast 140 Jahren stellt sich die Frage, ob Engels Theorie noch mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar ist.
Die gute Nachricht …
… oder warum wir Gruppenehen und Punaluafamilien nicht verstehen müssen.
Engels betrieb selbst keine anthropologischen oder archäologischen Forschungen. Er wertete die ihm zur Verfügung stehenden Quellen und Forschungsergebnisse aus. Im Detail sind viele der zeitgenössischen Theorien, auf die er sich stützte, überholt. Das gilt vor allem für seine Annahmen bezüglich der Familienstrukturen der frühesten Phasen der Menschheitsentwicklung, vor Entstehung der Klassengesellschaften.
Engels nahm an, dass Tiere nur zwei Formen der Paarungsgemeinschaft kennen: Die Monogamie und “Vielweiberei”. Dies verhindere durch die Konkurrenz der Männchen um die Weibchen (“Eifersucht”) die Entwicklung stabiler, kooperativer Sozialstrukturen. Den Frühmenschen sei es durch Überwindung dieser “Eifersucht” gelungen, die uneingeschränkte Gruppenehe, in der sich die Mitglieder einer Horde unabhängig von Alter und Verwandtschaftsgrad uneingeschränkt untereinander paaren konnten, einzuführen. Damit sei “…die Ersetzung der dem Einzelnen mangelnden Verteidigungsfähigkeit durch die vereinte Kraft und Zusammenwirkung der Horde“ möglich geworden – ein evolutionärer Fortschritt.
Da diese Form des familiären Zusammenlebens jedoch zwangsläufig zu Inzestschäden geführt hätte, seien mit der Zeit immer mehr Verwandte von der Fortpflanzung ausgeschlossen worden, zunächst durch den Ausschluss der Eltern, dann durch den der eigenen, leiblichen Geschwister. Die jeweils verbleibenden Personen lebten weiter in einer sogenannten “Gruppenehe”, in der die Fortpflanzung nicht reglementiert war.
Als Beleg für die Annahme der “Gruppenehen” betrachteten Engels und Morgan die Tatsache, dass es bei den Irokes*innen, wie bei vielen anderen Gruppen, üblich ist, Menschen der Elterngeneration formell als “Tante” oder “Onkel” anzusprechen, auch wenn gar kein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Sie gingen davon aus, dass hier Begriffe für reale, historische Verhältnisse in der Sprache überlebt haben, während sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten bereits geändert hatten.
Heute wissen wir, dass Engels Herleitung der Entwicklung der vorgeschichtlichen Familienstrukturen bis zum Entstehen der “Paarungsfamilie” so ziemlich in jeder Hinsicht falsch ist. Weder ist die “Überwindung der Eifersucht” und die damit einhergehende Zusammenarbeit unter Verwandten eine typisch menschliche Eigenschaft, noch gilt dies für die Vermeidung von Inzest. Im gesamten Tierreich gibt es ebenso viele Beispiele für Konkurrenz bei der Fortpflanzung, wie für Kooperation. Auch Inzestvermeidung ist sehr weit verbreitet. Engels Herleitung der verschiedenen Stadien der Gruppenehen entbehrt daher jeder Grundlage. Historisch sind solche Strukturen allenfalls als Ausnahmephänomene nachweisbar.
Engels bezeichnete John Ferguson McLennan, der 1865 das Buch “Primitive Marriage” veröffentlicht hatte, als “pedantischen Schotten”, da McLennan annahm, dass die von Morgan erwähnten Bezeichnungen älterer Personen als „Onkel“ oder „Tante“ keine Abstammungsverhältnisse, sondern eher “Ehrentitel” darstellen würden. McLennan mag ein pedantischer Spießer gewesen sein, trotzdem lag er aller Wahrscheinlichkeit nach richtig.
Altsteinzeit – egalitär und pragmatisch
Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass die sozialen Regeln für sexuelle und reproduktive Beziehungen zwischen Menschen sehr flexibel sein können und viel komplexer sind, als die von Engels und Morgan vermutete Stufentheorie nahelegt. Bei sammelnden und jagenden Gemeinschaften, wie sie für die Altsteinzeit typisch sind, überwiegen Strukturen, die am ehesten mit Engels „Paarungsfamilie“ vergleichbar sind: Wenig formalisierte, egalitäre und häufig seriell monogame Beziehungen, in denen die wichtigste Verbindung zwischen den Partner*innen die gemeinsamen Kinder sind und die beidseitig ohne größere Formalitäten aufgelöst werden können.
Wo Engels richtig lag …
Erst mit der Entstehung gesellschaftlicher Hierarchien entwickeln sich vielfältige Familienstrukturen, die die Gemeinsamkeit aufweisen, dass sie die Frau von der Entscheidung, eine Beziehung einzugehen oder zu beenden, weitgehend ausschließen und sie im Laufe der Entwicklung zum Eigentum des Vaters oder Ehemannes machen.
Hier liegt die bleibende historische Bedeutung von Engels‘ Werk, denn bei allen wissenschaftlichen Missverständnissen bringt er diese Entwicklung erstmals mit der durch die Einführung von Ackerbau und Viehzucht zunehmenden genderspezifischen Arbeitsteilung während der neolithischen (jungsteinzeitlichen) Revolution und dem gleichzeitigen Beginn der Entstehung von Klassengesellschaften und Privateigentum in Verbindung.
Engels schrieb über diesen Prozess: „Die Arbeitsteilung in der Familie hatte die Eigentumsverteilung zwischen Mann und Frau geregelt; sie war dieselbe geblieben; und doch stellte sie jetzt das bisherige häusliche Verhältnis auf den Kopf, lediglich weil die Arbeitsteilung außerhalb der Familie eine andre geworden war. (…), die Hausarbeit der Frau verschwand jetzt neben der Erwerbsarbeit des Mannes; (…) Hier zeigt sich schon, daß die Befreiung der Frau, ihre Gleichstellung mit dem Manne, eine Unmöglichkeit ist und bleibt, solange die Frau von der gesellschaftlichen produktiven Arbeit ausgeschlossen und auf die häusliche Privatarbeit beschränkt bleibt.4„
Gleichzeitig zeigt er auf, dass die kapitalistische Klassengesellschaft selbst die Produktionsverhältnisse geschaffen hat, die die Voraussetzungen dafür bilden, Klassenherrschaft und Patriarchat endgültig zu überwinden: „Die Befreiung der Frau wird erst möglich, sobald diese auf großem, gesellschaftlichem Maßstab an der Produktion sich beteiligen kann und (…) dies ist erst möglich geworden durch die moderne große Industrie, die nicht nur Frauenarbeit auf großer Stufenleiter zuläßt, sondern förmlich nach ihr verlangt, und die auch die private Hausarbeit mehr und mehr in eine öffentliche Industrie aufzulösen strebt.“
Diese Erkenntnis ist für die heutigen feministischen Kämpfe so aktuell wie vor 140 Jahren.
Foto: TimJN1, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons
1 Lewis H. Morgan, Ancient Society Or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization, https://www.marxists.org/reference/archive/morgan-lewis/ancient-society
2 Friedrich Engels, die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft,19_210.htm
3 „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 49, http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_036.htm4 ebd., S. 158