Die Pflegekrise heißt Kapitalismus
Von Linda Fischer, Hamburg
Die Kolleg*innen aus dem Gesundheitsbereich haben in den letzten Jahren weltweit eine Schlüsselrolle bei Arbeitskämpfen gespielt. Der Widerspruch zwischen dem wachsenden Selbstbewusstsein der Beschäftigten und ihrer essentiellen Rolle in der Gesellschaft auf der einen und der sich zuspitzenden Ausbeutung und Versorgungskrise auf der anderen Seite führen zu einer explosiven Gemengelage. Die Pflegekrise ist die bittere Folge eines auf Gewinnmaximierung basierten Systems, das wir nur gemeinsam zerschlagen können.
In Deutschland bilden zwei wesentliche politische Entscheidungen die Grundlage der Ökonomisierung und damit der aktuellen Pflegekrise: Mitte der 1980er Jahre wurden die Selbstkostendeckung und das Gewinnverbot für Krankenhäuser abgeschafft. Krankenhäuser können seitdem Gewinne und Verluste machen und auch pleitegehen. Diese Entscheidung war kein Versehen unfähiger Politiker*innen. Aus Sicht der Kapitalist*innen und ihren Regierungen war sie notwendig, um vor dem Hintergrund einer Periode von Marktsättigung und Überanhäufung von Kapital neue profitable Anlagemöglichkeiten zu schaffen. Eine alternde Gesellschaft bietet Aussicht auf langfristige Profite im Pflege- und Gesundheitsbereich.
Ab 2004 wurden die Fallkostenpauschalen eingeführt (die sogenannten DRG, Diagnosis Related Groups). Versicherer refinanzieren nicht mehr die realen Kosten, sondern für die einzelnen Behandlungsfälle festgelegte Pauschalen, was zu einem permanenten Kostendruck führt.
In der Altenpflege fand mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 eine Gleichstellung privater, freigemeinnütziger und öffentlicher Träger statt. Die jahrzehntelange Vorherrschaft der freigemeinnützigen Träger wurde zurückgedrängt und private, multinationale Konzerne erreichen mitunter Umsatzrenditen von bis zu 17 %. Gesundheit, Krankheit und Alter werden auf dem Rücken von Beschäftigten und Patient*innen zur Ware, mit weitreichenden Folgen.
Das System gefährdet unsere Gesundheit
Das ganze Gesundheitssystem ist heute darauf ausgelegt, Therapieentscheidungen und Dauer des Aufenthalts nicht nur auf Grundlage des gesundheitlichen Nutzens auszuwählen, sondern entsprechend ihrer Profitabilität abzuwägen und Kosten gering zu halten. Die Amputation aufgrund eines diabetischen Fußsyndroms (DFS) bringt dem Krankenhaus beispielsweise deutlich mehr Geld als eine beinerhaltende, konservative Behandlung.
Systematischer Stellenabbau und Profitorientierung haben dazu geführt, dass die Belastung der Kolleg*innen drastisch gestiegen ist. Gefährdung von Beschäftigten und Patient*innen, Burnout, Berufsflucht und Nachwuchsmangel sind die Folgen. Es dauert aktuell 230 Tage, bis die Stelle einer Krankenpflegefachkraft besetzt werden kann, 210 Tage für die Stellenbesetzung einer Altenpflegefachkraft. Betten, die eigentlich zur Verfügung stehen, können nicht betrieben werden. Krankenpfleger*innen in Deutschland betreuen im Schnitt 13 Patient*innen. In den Niederlanden sind es nur 6,9 und in den USA sogar nur 5,3.
Kolleg*innen des Wirtschafts- und Versorgungsdienstes (Reinigung, Wäscherei, Küche etc.) arbeiten häufig unter besonders prekären Bedingungen, da diese Tätigkeiten in der Regel aus dem Krankenhausbetrieb ausgegliedert werden. Tarifverträge werden gekündigt, Arbeitsbedingungen verschlechtert, die Kampfkraft geschwächt.
Wird jetzt alles besser?
Vor dem Hintergrund der Arbeitskämpfe der letzten Jahre und der Folgeschäden der systematischen Stellenstreichungen wurden einige neue Stellen geschaffen und 2018 entschieden, die Personalkosten für am Krankenbett tätige Pflegekräfte ab 2020 aus den DRG auszugliedern. Sie müssen gesondert nach den tatsächlich in jedem einzelnen Krankenhaus entstehenden Kosten von den Kassen refinanziert werden.
Ein wichtiger Fortschritt, aber die Pflegebudgets der einzelnen Krankenhäuser sind für 2020 in den allermeisten Fällen noch immer nicht vereinbart und schon jetzt wird von immer mehr Lobbyist*innen, Gesundheitsökonom*innen, der Bertelsmann-Stiftung, dem Spitzenverband der Versicherer und anderen versucht die Reform rückgängig zu machen und vorgeschlagen, sogenannte „Pflege DRG“ einzuführen.
Auch die aktuelle Regierungskommission, die sich großspurig die Reform der Krankenhausfinanzierung auf die Fahnen schreibt, macht bereits in der Präambel ihrer Stellungnahme von Ende 2022 klar, dass die DRG´s nicht grundsätzlich überwunden werden sollen. Eine bedarfsorientierte Selbstkostendeckung ist nicht vorgesehen. Die systematische Abwertung von Care-Arbeit als vermeintlich dem „natürlichen Geschlechtscharakter der Frau“ entsprechende Tätigkeit ist Ausdruck der sexistischen Gesellschaft.
Gesundheit statt Kapitalismus und Patriarchat
Gesundheits- und Pflegearbeit zusammen mit anderer notwendiger Care-Arbeit (Sozialarbeit, Bildung, Betreuung, Sorge- und Hausarbeit) sind für das Überleben einer Gesellschaft unerlässlich. Die Verlagerung von Sorge- und Hausarbeit in den Privathaushalt dient dazu, die kapitalistische Arbeitsorganisation und die Profite der Konzerne zu sichern.
Die entschlossenen Kämpfe im Pflegebereich sind daher auch feministische Kämpfe, die die Abwertung weiblich dominierter Berufe und die dahinterstehenden sexistischen Geschlechterrollen hinterfragen. Sie werfen die Frage auf, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Eine Gesellschaft, in der es um Profitmaximierung geht, oder eine, in der die Bedürfnisse nach Gesundheit und ein gutes Leben für alle im Mittelpunkt stehen?
12. Mai – International auf die Straße!
International gibt es beeindruckende Streiks und Proteste von Krankenhausbeschäftigten: Von Großbritannien, Belgien, Spanien bis Indien, Brasilien, Südkorea und den USA. Als Gewerkschafter*innen und sozialistische Aktivist*innen müssen wir uns international organisieren und unsere Bewegungen koordinieren.
Am 12. Mai, dem internationalen Tag der Pflegenden, unterstützt und initiiert die Internationale Sozialistische Alternative (ISA) größere und kleinere Proteste in mehreren Ländern. Für massive Investitionen in ein kostenloses und hochwertiges öffentliches Sozial- und Gesundheitssystem für alle, Finanziert durch die Superreichen und die Gewinne der Banken und Konzerne, die seit jeher von der Abwertung von Pflegeberufen und der individualisierten Care-Arbeit profitieren. Für mehr Personal und Ressourcen, bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten ohne Lohneinbußen. Für einen gemeinsamen Kampf der Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesens aus allen Bereichen und in allen Berufen. Für eine Gesellschaft, die sich auf die Gesundheit von uns allen und nicht auf die Profite der Wenigen stützt – eine sozialistische Alternative zur kapitalistischen Krise!
Breite Bewegung aufbauen
Die Kolleg*innen im Pflegebereich sind seit Jahren immer wieder im Aufstand. In Jena, Mainz, Homburg, Augsburg, beim Berliner Klinikkonzern Vivantes, der Uniklinik Charité und in den Unikliniken in NRW konnten in den letzten Jahren Tarifverträge zur Entlastung erkämpft werden. Letztes Jahr waren die Beschäftigten in NRW allein 11 Wochen dafür im Streik.
Um sicherzustellen, dass Schritte zur Entlastung konsequent durchgesetzt werden, muss die Unterfinanzierung und Profitorientierung im Gesundheitssystem ein Ende haben.
Es wird eine breite, entschlossene, bundesweite Bewegung notwendig sein. Wenn Beschäftigte im Pflegebereich zusammen mit Kolleg*innen in den Kitas, im Bildungs-, und Sozialwesen streiken, würde das die potenzielle Macht von Streiks aufzeigen, um die Gesellschaft zum Stillstand zu bringen. Sich in seinem eigenen Betrieb zu organisieren, von den bisherigen Kämpfen zu lernen und sich mit anderen zu vernetzen, ist ein Anfang. Um die zum Teil verknöcherte Gewerkschaftsbürokratie herauszufordern, müssen wir kämpferische Gewerkschaftsstrukturen von unten aufbauen.
Wir können gewinnen, wenn es darüber hinaus gelingt, eine breite, gesellschaftliche Solidaritätsbewegung zu entfachen. Solidaritäts-Netzwerke können Öffentlichkeit in den Stadtteilen schaffen, Unterschriften für die Forderungen der Kolleg*innen sammeln und Demonstrationen für ein öffentliches, nach Bedarf finanziertes Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen organisieren. Eltern können sich zusammentun und Druck auf die Kita-Arbeitgeber ausüben, usw