Geleakte US-Dokumente zur Ukraine: Realität des Abnutzungskrieges

Jack Teixeira, Soldat einer Geheimdiensteinheit der US Airforce, teilte seit Oktober 2022 geheime Dokumente, darunter detaillierte Schlachtfeldkarten und Statistiken über den Ukraine-Krieg, amerikanische Spionageberichte über Verbündete sowie politisch-militärische Prognosen zunächst auf einem Discord-Server. Im Frühjahr 2023 geriet das Material u. a. über Twitter an die Öffentlichkeit. Die Inhalte und die Reaktionen der herrschenden Klasse auf diese Leaks geben interessante Einblicke in das Alltagsgeschäft der imperialistischen Politik und des Krieges.

Von Sascha Rakowski, Köln

Der Krieg in der Ukraine ist nur ein Teil der Leaks, die Informationen darüber sind allerdings von zentraler Bedeutung. Die Dokumente zeigen, wie tief die NATO involviert ist und belegen, dass das westliche Bündnis die ukrainische Armee als Stellvertreter nutzt. 12 Brigaden werden für die ukrainische Frühjahrsoffensive bereitgestellt. Neun dieser Einheiten werden von der NATO ausgerüstet, trainiert und vorbereitet, nur drei werden komplett unter ukrainischer Verantwortung vorbereitet.

Im Februar und März 2023 waren laut den Leaks britische, französische, lettische und US-amerikanische Spezialeinheiten – insgesamt 97 Soldaten, davon 50 Briten – in der Ukraine stationiert – und sind es wahrscheinlich noch. Aus den Dokumenten geht nicht hervor, welche Art von Aktivitäten diese Kräfte durchführen und wo genau sie sich in der Ukraine befinden, doch es handelt sich nicht um Berater*innen und Ausbilder*innen, deren Anwesenheit in der Ukraine schon länger bekannt ist, sondern um kampffähige Einheiten. Zudem kämpfen in der Ukraine tausende ehemalige Armeeangehörige mehrerer NATO-Länder in diversen Einheiten. Rund 186 der internationalen Kämpfer sind laut den US-Dokumenten bereits tot.

Munitionskrise

Die Leaks zeigen – wenig überraschend – dass US-Militär und die Geheimdienste eine realisterischere Sichtweise auf die Kriegsperspektive in der Ukraine haben als die optimistische Kriegsdarstellung, die von den bürgerlichen Medien monatelang bejubelt wurde. Die Leaks offenbaren, dass die USA der ukrainischen Regierung seit Monaten rät, den verlustreichen Kampf um Bachmut zu beenden und sich auf bessere Positionen zurückzuziehen.

US-Geheimdienste warnen vor „fortdauernden Rückständen“ bei der Ausbildung der ukrainischen Soldaten. Die Versorgung der Artillerie mit Munition sei sehr schlecht. Die ukrainische Luftabwehr habe nur noch eine begrenzte Anzahl Luftabwehrraketen. So könne die Ukraine ihren Bestand an Mittelstrecken-Lenkwaffen bis zum 13. April 2023 und den an S-300 Raketen mit großer Reichweite bis zum 3. Mai 2023 vollständig aufgebraucht haben. Die Folgen für die ukrainische Armee und die Industrieanlagen wären fatal.

Zudem ist durch die Dokumente durchgesickert, dass die Ukraine offenbar massive Probleme mit den amerikanischen JDAM-Bomben hat. Diese satellitengesteuerten Bomben haben normalerweise eine Reichweite von bis zu 72 Kilometern und können ihr Ziel autonom auf wenige Meter genau treffen. Allerdings scheint ihre Trefferquote fast 50 % geringer zu sein als erwartet, da sie anfällig für russische Störsender sind.

Zu diesen Mängeln kommt, dass die russischen Truppen trotz aller Schwächen über viel Material und große Schlagkraft verfügen. Das führe dazu, dass ukrainische Fortschritte während der Offensive begrenzt und von hohen Verlusten begleitet sein könnten. Anscheinend erwarten die amerikanischen Militäranalytiker*innen eine blutige Pattsituation und erwägen einen durch die Verluste erzwungenen Waffenstillstand als eine Option. Die Verluststatistik der Leaks entspricht den Daten der privaten Open-Source-Intelligence Unternehmen wie Oryx. Einem Dokument zufolge haben die russischen Truppen 189.500 bis 223.000 Verluste erlitten, darunter bis zu 43.000 Gefallene. Amerikanische Beamt*innen haben die russischen Verluste zuvor auf etwa 200.000 Soldaten geschätzt. Gleichzeitig war die amerikanische Regierung bei der Frage der ukrainischen Verluste vorsichtiger und schätzte sie auf etwa 100.000.

Propaganda und Realität

In den geleakten Dokumenten heißt es, dass die Ukraine bis Februar 2023 zwischen 124.500 bis 131.000 Opfer zu beklagen hatte, von denen bis zu 17.500 im Kampf gefallen sind. Dabei bewegt sich die Anzahl von vermissten Ukrainer*innen von offiziellen 7000 bis inoffiziellen 35.000 Soldaten. Geheimdienstmitarbeiter*innen haben wiederholt betont, dass ihre Opferzahlen bestenfalls grobe Schätzungen sind. Das Dokument verweist auch auf die geringe Zuverlässigkeit der Angaben und besagt, dass die Vereinigten Staaten versuchen, ihre Einschätzung der Kampfkraft des russischen Militärs und seiner Fähigkeit, künftige Operationen durchzuführen, überarbeiten würde.

Den Dokumenten zufolge haben die USA Wolodimir Selenskyj sowie die südkoreanische und israelische politische Führung ausspioniert. Daher erfuhren die USA, dass Selenskyj Ende Februar in einer Beratung mit der Armeeführung Drohnenangriffe auf Standorte der russischen Armee im südrussischen Gebiet Rostow vorgeschlagen habe.

Die südkoreanische Führung äußerte Bedenken, dass die USA in Südkorea gefertigte Waffen an die Ukraine liefert. Es gehe um mehr als 300.000 Artilleriegeschosse. Dies wäre eine Verletzung der südkoreanischen Waffenexportpolitik, nach der Seoul keine Rüstungsgüter in Kriegsgebiete liefert. Die Dokumente belegen, dass diejenigen irren, die behaupten, dass eine Aufrüstung der Ukraine zu einem schnelleren Kriegsende führen würde. Eine schnelle Entscheidung war nie möglich, weder militärisch-technisch noch ökonomisch. Mehr Waffen führen zur „Bachmutisierung“, zur Ausdehnung des blutigen Abnutzungskrieges auf den Knochen der ukrainischen und russischen Soldat*innen. Berichte verweisen darauf, dass auch die zunächst hoch motivierten ukrainischen Soldat*innen die Art der Kriegsführung zunehmend in Frage stellen.  Dieser Krieg würde dann schnell enden, wenn die Kämpfenden auf beiden Seiten das Töten und Sterben verweigern und sich gegen ihre Offiziere und ihre Herrschenden richten.

Abnutzungskrieg

Die Herrschenden i

n den USA und in Europa wollen die Erkenntnisse über die Schwächen der ukrainischen Armee allerdings für ihre Zwecke nutzen: Es sollen noch schneller noch mehr Waffen in die Ukraine geliefert werden, der bisher ausgebliebene Erfolg läge an der zu zögerlichen Lieferung. Doch auch ein weiterer Schub würde die Lage nicht grundsätzlich ändern.

Es überrascht nicht, dass die amerikanischen Behörden ihre Feinde und Alliierten ausspionieren. Der heutige Feind ist morgen dein Freund, der heutige Freund ein zukünftiger Konkurrent. Der Imperialismus kennt keine Freunde und keine Werte.

Die geleakten Dokumente zeigen die Mechanismen hinter den Kulissen der öffentlichen Politik. Sie bestätigen die marxistische These, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik und die Politik eine Fortsetzung der Wirtschaft ist.