Türkei: Warum fällt das Regime nicht?

Erdoğan hat mit 49,5% überraschend stark bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen abgeschnitten. Prozentual verlor er gegenüber der Wahl 2018, konnte durch die höhere Wahlbeteiligung aber seine 26 Millionen Stimmen halten. Auch bei den gleichzeitig stattgefundenen Parlamentswahlen erreichte das Bündnis aus Erdoğans islamistischer AKP, der ultranationalistischen MHP und kleineren rechten Gruppen über 49% und verteidigte damit die Mehrheit in der Nationalversammlung. Das Bündnis der kemalistischen CHP mit der nationalliberalen İyi-Partei bekam rund 35%, die linke Opposition aus kurdischer Bewegung und Arbeiter*innenpartei (TİP), das “Bündnis für Arbeit und Freiheit”, 10,5%. 

Von Claus Ludwig, Köln

Vor allem in den kurdischen Gebieten schüchterten Soldat*innen und Polizist*innen Menschen in den Wahllokalen ein. Viele Überlebende des Erdbebens, die wütend über die Verantwortung und das Missmanagement der Regierung im Zusammenhang mit der Katastrophe waren, konnten nicht ohne weiteres zum Wahllokal gehen, nachdem sie ihren ursprünglichen Wohnort, an dem für die Wahl registriert waren, verlassen mussten. Der eine oder andere Wahlzettel mag manipuliert gewesen sein, aber das hat das Ergebnis wohl nicht entscheidend beeinflusst. Es gibt keine Berichte über einen umfassenden Wahlbetrug. 

Aufgrund der hohen Inflation, des wirtschaftlichen Niedergangs, der unerträglichen Repression und des Versagens bei der Erdbebenhilfe gab es große Hoffnung und Erwartungen, dass das Regime endlich abgewählt wird. Staatliche, private und Unternehmensschulden sind auf einem Rekordhoch. Das Durchschnittseinkommen liegt auf dem Niveau des Mindestlohns (ca. 400 Euro), das reicht nicht, um das Überleben einer Familie zu sichern. Die Lebensmittelpreise sind noch höher als in anderen Ländern, befeuert durch die Folgen des Erdbebens und hoher Abhängigkeit von Importen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei über 10%, gleichzeitig arbeiten in keinem anderen OECD-Land so viele Menschen 60 Stunden oder mehr pro Woche. Was sind die Gründe dafür, dass Erdoğan stärker ist, als viele in der Türkei und im Ausland gedacht haben?

Ein Faktor ist die Kontrolle der Autokratie über Medien, Staatsapparat und das gesamte öffentliche Leben. Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu tauchte kaum in den Medien auf, der Präsident konnte hingegen seine Legenden, Versprechen und Drohungen 24/7 auf allen Kanälen verbreiten. Das Regime verteilte zudem Wahlgeschenke, unter anderem Steuerbefreiungen für Kleinunternehmer*innen und das Versprechen einer 45-prozentigen Erhöhung der Gehälter Hunderttausender Beschäftigter im öffentlichen Dienst nur wenige Tage vor der Wahl.

Dazu kam die Angst. Was würde das Regime machen, wenn es abgewählt wird? Die AKP hat bewusst die Furcht vor Unruhen, Rache und Bürgerkrieg geschürt. Die große Mehrheit der Wähler*innen hat nur Erdoğan als Präsidenten erlebt, er ist der „Teufel, den man kennt“.

Doch würde die große Mehrheit der Bevölkerung die eigene soziale Lage völlig anders erleben als dargestellt, wäre die Dauerbeschallung durch das Regime nutzlos. Die Propaganda würde als dreist empfunden und die Wut sogar anstacheln. Es geht nicht nur um Manipulation und Angst, das Regime verfügt nach wie vor über eine soziale Basis für seine Ideologie und Propaganda.

Anatolisches Aufstiegsversprechen

Zentral ist Erdoğans Ruf als “Macher”, der vor allem die wirtschaftlich unterentwickelten Regionen im anatolischen Binnenland nach vorne gebracht, Infrastruktur und Jobs geschaffen habe. Für beträchtliche Teile der arbeitenden Klasse und des Kleinbürgertums in der Schwarzmeerregion, in Städten wie Sivas, Konya und Kayseri sehen über 20 Jahre AKP-Herrschaft wie eine Erfolgsgeschichte aus, trotz der aktuell harten Inflation.

Das scheint sogar für die Erdbebenregion rund um Adıyaman und Kahramanmaraş zu gelten, zumindest legen die Wahlergebnisse diesen Schluss nahe. Die regionalen Unterschiede haben sich verfestigt. In vielen Wahlkreisen erzielt das islamistisch-nationalistische Bündnis bei den Parlamentswahlen stabil zwischen 60 und 70%, die liberale Opposition um die CHP lediglich zwischen 20 und 30%. Im gesamten Nordosten taucht die linke Opposition gar nicht auf, erreicht 1% oder weniger, trotz landesweit 10%. In Istanbul und Ankara kommt die gesamte Opposition auf fast 50%, in İzmir auf 65%, in Antalya auf 53%, im kurdischen Diyarbakır auf über 70%.

Sultan des 21. Jahrhunderts

Diese Unterstützung basiert nicht nur auf den wirtschaftlichen Hoffnungen. Sie ist verbunden mit einer starken ideologischen Komponente. Nach dem Militärputsch von 1980 analysierten türkische Linke, dass die Junta unter General Kenan Evren den aggressiven Nationalismus mit islamischen Ideen ergänzte und nannten dies “türkisch-islamische Synthese”. Die Generäle, die sich als Hüter*innen des laizistischen Charakter des Staates gebärdeten, förderten massiv religiöse Erziehung und Institutionen, vor allem in den Armenvierteln. Erst zerschlugen sie die Linke und die Arbeiter*innenbewegung gewaltsam, dann füllten sie das entstandene ideologische Vakuum mit religiösen Ideen. 

In den 2010er Jahren knüpfte Erdoğan daran an. Seine Strategie des islamischen Nationalismus wird neo-osmanisch genannt. Der Krieg in Kurdistan sowie die türkischen Militäroperationen im Irak und Syrien schufen das Gefühl ständiger Spannung, stärkten den aggressiven Nationalismus und vertieften die Spaltung zwischen türkischer und kurdischer Bevölkerung. Im Syrien-Krieg verbündete sich das Regime mit islamistischen Terrorgruppen und unterhielt zeitweise auch Verbindungen zum sogenannten Islamischen Staat (IS). Gleichzeitig wurde im Inland die Islamisierung verstärkt.

Bei seinen außenpolitischen Abenteuern als imperialische Regionalmacht ist das Regime vergleichsweise erfolgreich. Die Besatzung in Nordsyrien hat die kurdische Bewegung in die Defensive gedrängt. Erdoğan spielt im Ukraine-Konflikt den Vermittler und markiert in der NATO den starken Mann, der Schweden und Finnland in die Innenpolitik hineinregiert. Die Inbetriebnahme des ersten Hubschrauber- und Flugzeugträgers der türkischen Marine im April 2023 konnte das Regime vor dem Hintergrund dieser Bilanz als Triumph inszenieren.

Das Gift des Nationalismus und des rechtsgerichteten politischen Islam ist tief in das Kleinbürgertum, die Beamt*innenschaft und nicht organisierte Teile der arbeitenden Klasse eingesickert.

Anti-AKP reicht nicht

Kılıçdaroğlu setzte darauf, dass die wachsende Unzufriedenheit über die heftige Inflation und die Wirtschaftskrise ihm Rückenwind verschaffen würden. Gerade die Schärfe der Krise war jedoch möglicherweise ein Faktor, der Wähler*innen aus der Arbeiter*innenklasse angesichts der Unklarheit über das ökonomische Programm der Opposition in die Arme des scheinbar “stabilen” Regimes trieb. Für die Krise werden – ähnlich wie bezüglich der Energiepreise in Westeuropa – externe Faktoren wie der Ukraine-Krieg verantwortlich gemacht. Das Regime hatte es in der Vergangenheit geschafft, Krisen zu überwinden, warum sollte man sich also der wirtschaftlichen Wundertüte der Opposition anvertrauen?

Ein weiterer Grund für das relativ gute Abschneiden von Erdoğans Bündnis ist die inhaltliche Schwäche der Opposition. Dem CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu gelang es zwar, sich als Gegenspieler des Despoten zu inszenieren, das reichte aber nicht. Die Oppositionsliste um die CHP war eine reine Anti-AKP-Front mit einem sehr begrenzten Programm. Das Bündnis steht für ein Ende der Alleinherrschaft und die Wiederherstellung demokratischer Rechte, aber beinhaltet widersprüchliche sozial- und wirtschaftspolitische Vorstellungen — hart neoliberal, gemäßigt sozialdemokratisch, aggressiv nationalistisch und scheinbar “pro-kurdisch”. Letzteres steht im krassem Gegensatz zur wiederholten öffentlichen Unterstützung der Repression gegen kurdische Aktivist*innen und der militärischen Kampagnen des Regimes gegen die kurdischen Regionen in Rojava (nördliches Syrien) durch die CHP und die İyi-Partei.

Das Regime verliert an Einfluss mit der Krise des türkischen Kapitalismus. Doch angesichts dessen enormer repressiver und medialer Macht, angesichts der tiefen Verankerung der reaktionären islamistisch-nationalistischen Ideen und der Schwäche der Opposition ist dieser Prozess noch nicht so weit fortgeschritten, dass es durch Wahlen, auch so polarisierte wie diese, einfach abgelöst werden kann. Das heißt nicht, dass es noch viele weitere Jahre dauern muss, bis das Regime fällt. Der Fall  kann durch ökonomische und soziale Entwicklung enorm beschleunigt werden.

In den letzten Monaten gab es einen Aufschwung von Klassenkämpfen und der Frauenbewegung. Diese Kämpfe haben noch nicht die ganze Gesellschaft erfasst. Um das Regime zu Fall zu bringen, müssen die sozialen Kämpfe eskalieren. Es reicht nicht aus, dass die arbeitende Bevölkerung Inflation und Krise passiv erleidet. Größere Teile der Klasse müssen aktiv in den Kampf treten, um selbst die Erfahrung zu machen, dass das Regime auf der Seite der Kapitalist*innen steht. Die Allianz aus CHP, der İyi-Partei und kleineren bürgerlichen Gruppierungen, fußend auf den mit der AKP verfeindeten Teilen der städtischen Eliten, ist programmatisch und strategisch allerdings nicht in der Lage und nicht willens, eine Perspektive für diese sozialen Kämpfe zu entwickeln. 

Nachdem Kılıçdaroğlu bereits während seiner Kampagne versprochen hatte, alle 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge nach Syrien zurückzuschicken, hat er diese Zahl nun auf „10 Millionen“ erhöht, falls er die Stichwahl gewinnt. Dieser noch fremdenfeindlichere Ton ist ein verzweifelter Versuch, um nationalistische Stimmen zu werben. Es wird deutlich, dass die Linke ihren eigenen Präsidentschaftskandidaten hätte präsentieren sollen, anstatt nach der Logik „alle außer Erdoğan“ zur Wahl des Kemalisten aufzurufen.

Arbeiter*innenpartei

Die Stimmen der politisch bewussten Arbeiter*innen und der Linken gingen bei den letzten Wahlen in erster Linie an die kurdischen Parteien. Dieses Mal haben die Kandidat*innen der HDP wegen der starken Repression gegen die Partei und eines drohenden Verbotsverfahrens auf der Liste der kleinen Grün-Linken Partei kandidiert und YSP 8% bei den Parlamentswahlen erreicht. Allerdings war und ist die HDP politisch beschränkt. Sie vertritt zwar allgemeine linke soziale und ökologische Forderungen, stellt aber nicht die Klassenfrage und die nötige Einheit der türkischen und kurdischen Arbeiter*innen in den Vordergrund. Selbst mit einem klareren sozialistischen Programm bliebe ihr Potenzial begrenzt, weil sie vor allem als kurdische Partei wahrgenommen wird.

Daher ist es ein nicht zu unterschätzender Fortschritt, dass die TİP (Arbeiter*innenpartei der Türkei) – im Bündnis mit der YSP – eigenständig antrat, landesweit 1,7% (930.000 Stimmen) erzielte und somit vier Abgeordnete ins Parlament schickt. Die TİP wurde nicht flächendeckend gewählt. In Kurdistan trat sie nicht an, in Zentralanatolien und am Schwarzen Meer blieb sie unter 0,5%. Allerdings ist sie in einigen wichtigen Küstenstädten zu einem Faktor geworden. Allein in Istanbul bekam sie 420.000 Stimmen (= 4%), in Izmir 2,8%, in Antalya 4,6% und in der vom Erdbeben betroffenen Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien 8,75%.

Der Name stellt einen Bezug zur historischen TİP dar, die in den 1960er Jahren zentral für die Popularisierung sozialistischer Ideen war. Die TİP hat ein Selbstverständnis als sozialistische Klassenpartei. Sie wurde 2017 in einem Prozess der Umgruppierung von Teilen der TKP gegründet, inzwischen haben sich weitere Tendenzen angeschlossen. Innerhalb eines Jahres wuchs sie von 8000 auf 45.000 Mitglieder und war aktiv bei Kämpfen von Arbeiter*innen und Frauen. Sie tritt gegen Unterdrückung ein, für die Rechte der Kurd*innen, von Frauen und LGBTQ+-Personen, scheint sich als aktivistische und nicht überwiegend als Wahlpartei zu sehen. Sie ist zum jetzigen Zeitpunkt ein wichtiger Ausdruck des Potenzials für den Aufbau einer so dringend benötigten kämpfenden sozialistischen Massenpartei der arbeitenden Klasse.

Titel Bild: Randam, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons