Machtkampf bewaffneter Einheiten eskaliert gewaltsam
Von Sascha Rakowski
25.000 Soldat*innen der privaten Söldner-Armee Wagner unter der Führung des Milliardärs Jewgeni Prigoschin überquerten am 24. Juni die russische Grenze und marschierten scheinbar ohne jeden Widerstand in den zentralen Süden Russlands ein und weiter Richtung Moskau. Ihr Vormarsch stoppte am Abend des 24. Juni in der Region Lipezk, 200-400 km vor Moskau. Prigoschin und die russische Regierung berichteten übereinstimmend, es habe eine Einigung unter Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko gegeben, die Wagner-Einheiten würden den “Marsch für Gerechtigkeit” stoppen. Ob dieser Kompromiss das letzte Wort bleibt oder weitere gewaltsame ausgetragene Kämpfe zwischen verschiedenen Fraktionen der bewaffneten Einheiten drohen, ist offen.
Es handelte sich um eine Meuterei von einem der Hauptakteure und Kriegsherren des blutigen Krieges in der Ukraine. Als unmittelbare Ursache für den Aufstand nannte Prigoschin einen Raketenangriff auf eines der Militärlager von Wagner, für den er die militärische Führung der Russischen Föderation und den Verteidigungsminister Schoigu persönlich verantwortlich machte. Prigoschin erklärte, dass er sich als Nächstes mit denjenigen befassen werde, die russische Soldat*innen vernichten: “Diese Kreatur Schoigu wird gestoppt werden“.
Wagners Einheiten drangen in der Nacht zum 24. Juni in die Millionenstadt Rostow am Don ein und nahmen den Militärflughafen und das Hauptquartier des Militärbezirks Süd in Beschlag, in dem sich das Hauptquartier der kombinierten Truppengruppe befindet. Ein von Prigoschin selbst veröffentlichtes Video zeigt ihn im Gespräch mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Jewkurow und dem 1. stellvertretenden Generalstabschef, Generalleutnant Wladimir Aleksejew. Prigoschin hatte zuvor zahlreiche Videobotschaften verfasst, in denen er das russische Verteidigungsministerium für seine brutale Behandlung von Soldat*innen und das Verschweigen echter Verluste, Korruption und Inkompetenz kritisiert.
Der Staatsapparat ging in die Gegenoffensive. Nach einer Nacht des Schweigens und Gesprächen mit den Befehlshabern der russischen Armee gab Putin eine Erklärung ab, in der er Prigoschins Vorgehen „ein kriminelles Abenteuer, eine militärische Meuterei und einen Dolchstoß in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes” nannte. Er zog Parallelen zu den Zeiten des 1. Weltkriegs und der Revolution von 1917 und rief zur Konsolidierung der Nation auf.
Das “Nationale Antiterrorkomitee” erklärte, dass ein Strafverfahren gegen Prigoschin eingeleitet worden sei, der Geheimdienst FSB stürmte die Wagner-Zentrale in Moskau. Im Süden Russlands übernahmen Angehörige der Nationalgarde die Kontrolle über Einrichtungen der Sicherheitsbehörden. Die Generalstaatsanwaltschaft beschuldigte Prigoschin, einen bewaffneten Aufstand organisiert zu haben. Der FSB bezeichnete Prigoschins Aktion als Aufruf zum Beginn eines bewaffneten Bürgerkriegs in der Russischen Föderation.
Armeegeneral Sergej Surowikin und der 1. stellvertretende Generalstabschef der Armee, Wladimir Aleksejew, riefen die Wagner-Kämpfer auf, sich nicht an rechtswidrigen Aktionen zu beteiligen. Die dem tschetschenischen Präsidenten Kadyrow unterstellten Pro-Putin-Garden drangen teilweise in die Außenbezirke der Stadt Rostow am Don vor. Pioniereinheiten der russischen Armee und die Polizei blockierten Autobahnen und Brücken und versuchten, die Bewegung des Wagner-Konvois zu verlangsamen.
Was ist die Gruppe Wagner?
Wagner ist eines der größten privaten Militärunternehmen der Welt, es besteht seit 2014. Die Wagner PMC begann als eine relativ kleine Gruppe von Sicherheits- und Militärveteranen unter der Schirmherrschaft des russischen Militärgeheimdienstes. Ihre Trümpfe waren Anonymität, keine “offiziellen” Verluste, Unabhängigkeit von der schwerfälligen Militärbürokratie und Zugang zu Militärveteranen, die bereit waren, für ausreichend Geld überall auf der Welt zu arbeiten.
Nach anfänglichen Erfolgen im Syrien-Krieg expandierte Wagner nach Afrika und kombinierte dabei die Erbringung militärischer Dienstleistungen mit wirtschaftlichem Erfolg bei der Ausplünderung afrikanischer Bodenschätze. Die Aktivitäten von Wagner erstreckten sich über die Konfliktregionen von Libyen, Mali, Sudan, Mosambik, die Zentralafrikanische Republik Burkina Faso und andere Länder der Region. Der vorbestrafte Milliardär Jewgeni Prigoschin spielte eine immer wichtigere Rolle in dieser Struktur. Dank seiner Bekanntschaft mit Wladimir Putin erhielt er Zugang zu den höchsten Ebenen der russischen Bürokratie und zu den wichtigsten Ressourcen des Verteidigungsministeriums.
Krieg um die Ukraine
Die Gruppe Wagner erreichte ihren Höhepunkt in der Ukraine. Vor dem Hintergrund der Niederlagen im Sommer und Herbst 2020 wurde Wagner gestattet, Gefangene in russischen Gefängnissen zu mobilisieren. 60.000 ehemalige Gefangene wurden unter das Kommando von 20.000 Militärveteranen, ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren, untergeordnet. Nach sechs Monaten Kampf erhielten die ehemaligen Gefängnisinsassen einen Orden, eine Amnestie und die Demobilisierung als Kampfveteranen. Der Preis dafür war eine zwanzigprozentige Chance, auf dem Schlachtfeld getötet zu werden. Wagner erhielt Zugang zum Arsenal der russischen Armee und verfügte damit über eigene Artillerie, Panzer und Flugzeuge. Im Herbst und Winter 2022-23 war jeder fünfte Soldat der russischen Armee an der ukrainischen Front Mitglied der Wagner-Gruppe.
Militärische Doppelherrschaft
Durch Disziplin und die Unmöglichkeit eines Rückzugs gezwungen, gewannen Wagners Soldat*innen Schlachten und besetzten mehrere ukrainische Städte, darunter Popasnja und Bachmut. Schon bald begannen die russischen Generäle, die sich ausbreitende Wagner-Struktur als Konkurrenten zu betrachten. Wagner hatte sich zu einem erfolgreichen, hochprofitablen kapitalistischen Unternehmen mit einem Umsatz von mehreren Milliarden Dollar pro Monat entwickelt, das über zehntausende Bewaffnete verfügte. Der Unternehmer Jewgeni Prigoschin wurde zu einem Star des russischen Internets, der Zugang zu den Privatgemächern von Wladimir Putin und die Aufmerksamkeit von Millionen patriotischer Russen hatte.
Der Zustand der militärischen “Doppelherrschaft” im wichtigsten Apparat des bürgerlichen Staates konnte nicht ewig andauern. Der Konflikt musste auf die eine oder andere Weise gelöst werden. Das Verteidigungsministerium begann, die Ressourcen und Arsenale der Wagner Armee schrittweise zu beschneiden, was zu zunehmenden Verlusten von Wagners Ressourcen – den Mittellosen in Uniform – führte. Die Appelle Prigoschins an Putin blieben ergebnislos.
Nach der Einnahme von Bachmut zogen sich Wagners ausgeblutete Einheiten in die hinteren Lager zurück. Prigoschin wurde verboten, neue Gefangene in russischen Gefängnissen zu rekrutieren, und seine Soldat*innen wurden verpflichtet, Verträge mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen. Der Staatsapparat beschloss, ein relativ erfolgreiches privates Tötungsunternehmen unter staatliche Kontrolle zu stellen. Verärgert über die Aussicht, ihr wichtigstes Geschäft zu verlieren, versuchen Prigoschin und seine Mitarbeiter*innen offenbar, ihren wichtigsten Rivalen – Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerasimow – einen Schlag zu versetzen. Prigoschin scheint sich dabei auf den reaktionärsten und rechtsgerichteten Teil des Militärapparats und auf die nationalistisch gesinnte Frontkämpfer*innen zu stützen. Gleichzeitig isolierte er sich von von anderen Hardlinern wie Kadyrow und Girkin.
Wofür steht Prigoschin?
Das riesige, aber nur scheinbar unzerstörbare Bauwerk des russischen militärisch-bürokratischen Kapitalismus ist plötzlich ins Wanken geraten. Unsere Vorhersage, dass Putins Staat instabil ist und der wahnsinnig aufgeblähte militärisch-polizeiliche Apparat nur die Schwäche von Putins bonapartistischem Russland widerspiegelt, hat sich bestätigt.
Prigoschin vertritt in seinen Informationskanälen ein schwammiges und eklektisches politisches Programm. Einerseits setzt er sich für das “einfache russische Volk” ein, für die Soldat*innen, die an der Front sterben. Als „Retter des Vaterlandes“ stellt er sich in seinen Botschaften der „verkommenen und korrupten Elite“ gegenüber, die in Rublevka, dem elitären Viertel der Moskauer Millionär*innen und Milliardär*innen, lebt.
Lange Zeit agierte er als Hardliner und rief zu einem konsequenten und brutalen Krieg gegen die Ukraine auf. Im Juni änderte er seine Argumentation. Die Ukraine hätte keineswegs einen Angriff auf Donbass und Krim vorbereitet, die offiziellen Gründe für den Krieg gegen die Ukraine seien gelogen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist offen, ob Prigoschin eine Eskalation des Krieges mit Wehrpflicht unterstützen würde, oder ob er als früherer “Falke” die Interessen jenes Teils der russischen herrschenden Klasse zum Ausdruck bringt, der bereit ist, den Status quo ante vor dem 24. Februar 2022 wiederherzustellen.
Bemerkenswert ist, dass seinem Vorstoß kaum militärischer Widerstand entgegen gesetzt wurde. Es scheint, dass einfache Soldat*innen nicht bereit waren, gegen ihre kampferfahrenen Kamerad*innen vorzugehen, angeführt von einem charismatischen Populisten, der von “korrupten Eliten”, “Gerechtigkeit” und der schlechten Behandlung der Soldat*innen sprach. Auch ist möglich, dass es Absprachen mit Teilen der russischen Generälität gab. Zumindest setzte Prigoschinfrüher bewusst auf eine Konfrontation zwischen General Surowikin, mit dem er zusammengearbeitet hatte, und dem Generalstabschef Gerasimow.
Ein solcher Versuch, Generäle gegeneinander auszuspielen, ist in der russischen Geschichte nicht neu: In den 1990er Jahren waren die eigentlichen politischen Rivalen von Präsident Jelzin die Generäle Rochlin und Lebed, die sich in den postsowjetischen Militärkonflikten hervorgetan hatten. Die beiden gescheiterten Putschisten starben unter mysteriösen Umständen.
Wir sollten auch nicht vergessen, dass der Milliardär Prigoschin auch Teil der herrschenden Klasse ist, die Ambitionen hat und mit der schleppenden und erfolglosen Einführung des Krieges durch Präsident Putin unzufrieden ist.
Richtung Zerfall?
Prigoschin schien darauf zu hoffen, dass die Einnahme Rostows Putin unter Druck setzen würde, gegen Schoigu und Gerasimow vorzugehen. Als das fehlschlug, marschierte er Richtung Moskau. Möglicherweise setzte er darauf, dass sich Teile der herrschenden Elite anschließen und gegen Putin positionieren würde. In diesem Fall wäre ein ernsthafter Putschversuch möglich gewesen. Als er realisierte, dass dies nicht der Fall sein würde, war der Boden für einen Deal bereitet. Eine andere Interpretation wäre, dass es Prigoschin reichte, das Gespenst von Putsch und Bürgerkrieg mit einer kalkulierten Provokation nach Moskau zu holen, um aus der Sackgasse zu kommen, in der er sich mit seiner Kritik und der Isolation von anderen nationalistischen Kräften gebracht hatte.
Trotz des Deals, der die Meuterei beendete, markiert der Wagner-Aufstand eine deutliche Schwächung Putins, dessen “unbesiegbares” Bild Risse hat. Putin galt als der derjenige, der den Laden zusammenhielt, aber konnte die offene Rebellion seines Zöglings Prigoschin nicht verhindern.
Auch zukünftig können Konflikte zwischen bewaffneten Fraktionen außer Kontrolle geraten. Es könnte eine unübersichtliche Situation entstehen, in der nicht nur zwei Lager, sondern diverse bewaffnete Kräfte Russlands mit- und gegeneinander kämpfen, was zu Desorganisation der Truppen in der Ukraine und zum Zusammenbruch der Front führen würde. In einer solchen Situation könnte die ukrainische Armee nicht nur versuchen, die Oblasts Cherson, Saporischija, Donezk und Luhansk zurück zu erobern, sondern auch versuchen, die Krim einzunehmen und sogar in die südrussischen Regionen Belgorod oder Rostow vorzustoßen. Zuallermindest wäre die Ukraine in der Lage, einen Waffenstillstand zu günstigen Bedingungen zu schließen.
Einige Analyst*innen sind der Meinung, dass die Russische Föderation balkanisiert werden könnte und ein Bürgerkrieg zwischen diversen Regionen, Teilrepubliken, Warlords und Fraktionen der herrschenden Klasse ausbrechen könnte. Eine solche Entwicklung wäre aufgrund der historischen Schwäche der russischen herrschenden Klasse nicht auszuschließen. Auch mit dem Kompromiss ist diese Gefahr nicht vom Tisch. Prigoschins Putschversuch bleibt straffrei, die Schwäche des Regimes ist offensichtlich geworden. Andere potenzielle Warlords könnten sich ein Beispiel daran nehmen.
Gleichzeitig ist es möglich, dass sich bald herausstellt, dass trotz Prigoschins “friedlicher” Rhetorik der letzten Wochen eine Intensivierung und Brutalisierung des Krieges ein Ergebnis des Kompromisses ist. Prigoschins Logik war bisher: der Krieg muss konsequent mit voller Wucht geführt werden. In den letzten Wochen ergänzte der dies durch: wenn wir das nicht tun, können wir es auch ganz sein lassen.
Weder das Regime noch die Wagner-Gruppe verfügen über eine breite Unterstützung oder gar begeisterte Zustimmung in der Bevölkerung. Prigoschin repräsentiert die Stimmung eines großen Teils der Soldat*innen und Offizier*innen an der Front, die über die Korruption und Passivität der Militärbürokratie und der herrschenden Klasse empört sind.
Die Wagner-Meuterei war weder ein revolutionärer Aufstand im fortschrittlichen Sinne noch ein faschistischer Putsch. Ein Russland unter Prigoschin wäre eine offene Militärdiktatur. Eine Niederschlagung des Wagner-Aufstandes hätte zur Intensivierung der Repression durch Polizei und Geheimdienste durch das Putin-Regime geführt. Der Deal mag beide Elemente miteinander vereinen.
Die Eskalation markiert den Anfang vom Ende des putinistischen Staatsapparates. Keine der sich bekämpfenden bewaffneten Fraktionen agiert im Interesse der arbeitenden Menschen. Sie bieten sämtlich nur reaktionäre Lösungen – Autokratie, Unterwerfung unter militärische Gewalt, Fortführung des Krieges und Abwählzung der Kosten auf die breite Bevökerung. Der russische Revolutionär Lenin erklärte, dass eine Voraussetzung für eine revolutionäre Situation sei, dass die herrschende Klasse gespalten sei und nicht mehr so regieren könne wie zuvor. Dies ist in Russland gegeben. Das allein reicht nicht für eine Revolte der arbeitenden Klasse. Diese muss die Dinge selbst in die Hand nehmen, sich organisieren, aktiv werden, eine politsche Alternative aufbauen, um den Krieg beenden und das derzeitige korrupte Regime von der Macht verdrängen zu können. Die offensichtliche Schwäche Putins und die Leichtigkeit, mit der die Söldner-Armee 1000 km von der Ukraine Richtung Moskau marschierte, die Reaktionen der Bevölkerung in Rostow – all das sind Faktoren, welche einen Prozess der Politisierung in der russischen Jugend und der arbeitenden Klasse beschleunigen können.
In diesem Krieg ist ein großer Teil der arbeitenden Menschen bereits bewaffnet und wurde in Kasernen und Schützengräben hineingetrieben. Die Stimmung in der Armee ist wichtig. Linke und Gewerkschafter*innen sollten die Soldat*innen an der Front und im Hinterland sowie die Wagner-Truppen aufrufen, nicht aufeinander zu schießen und ebenso die Kampfhandlungen gegen die ukrainischen Truppen einzustellen. Die Forderung nach einem Ende des Krieges ohne Annexion en, das Einstellen der Kriegshandlungen zwischen Ukrainer*innen und Russ*innen und stattdessen die Verbrüderung wäre eine Initiative, die, wenn sie von größeren Teilen der Fronttruppen getragen würde, eine Wirkung erzielen würde. Die Soldat*innen müssten sich dafür organisieren, Soldat*innenräte bilden, ihre Offiziere entmachten und Kontakt zu den arbeitenden Menschen vor Ort aufnehmen. Trotz aller Bitterkeit des Krieges und der Wut der Ukrainer*innen über die Besatzung und Krieg könnte das Fehlen sprachlicher und kultureller Barrieren diese Aufgabe wesentlich erleichtern.
Es ist dringend nötig, eine sozialistische, internationalissche Alternative zu den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Elite aufzubauen.