Seit Mitte Mai gibt es Berichte über ein „System Lindemann“. Mehrere junge Frauen berichteten, dass sie in Clubs, über Social Media oder auf Konzerten von Rammstein gezielt angesprochen wurden, auf Pre- oder Afterparties der Band zu kommen. Partner*innen oder Eltern durften nach diesen Aussagen nicht mitkommen. Fans sagten zu, um sich dann in Situationen wiederzufinden, die mit einer fröhlichen Party, in der sich alle wohlfühlen, nichts mehr zu tun hatten. Insbesondere berichteten junge Frauen davon, dass sie sich unter Druck gesetzt und manipuliert fühlten. Nach ihren Angaben wurden sie mehrfach ermuntert, Alkohol zu trinken und andere Drogen zu konsumieren, sie fühlten sich dazu gedrängt. Sie sollten das Handy abgeben und in einem speziellen Raum warten, dessen Ein- und Ausgang von Securities bewacht wurde, so beschreibt es Youtuberin Kayla Shyx.
Die Irin Shelby Lynn äußerte den Verdacht, am Rande eines Konzerts in in Litauen womöglich “gespiked”, mit KO-Tropfen betäubt worden zu sein. Sie hatte einen Filmriss und fand am nächsten Morgen auf ihrem Körper Spuren von gewaltvollen Handlungen.
Es besteht der Verdacht, dass es ein “Casting-System” gab, um junge Frauen für Sex mit dem Sänger Till Lindemann zu rekrutieren, allerdings nicht mit einer offenen Ansprache, sondern indem die Frauen zu “Partys” eingeladen und in Situationen gelotst wurden, in denen von freiwilligem Einverständnis nicht mehr die Rede sein kann.
In der gesamten Kulturindustrie ist systematischer Sexismus eng verwoben mit der Vermarktung von Musik und mit Machtstrukturen. Wenn sich die Vorwürfe gegen Lindemann bestätigen sollten, wäre das ein neuer Höhepunkt solcher Vorfälle, vielleicht aber auch nur die Spitze des Eisbergs.
Bitterer Ernst
Die Liedtexte Rammsteins, in denen Frauen überwiegend als Objekte oder Mütter vorkommen, sind gleichzeitig Ausdruck und Resonanzverstärker von gesellschaftlichem Sexismus – und offenbar nicht “ironisch gebrochen”, sondern Ausdruck der tatsächlichen Einstellung ihrer Verfasser. Mit Lindemanns Gedichtbänden machten Verlage wie Kiepenheuer & Witsch viel Geld und bügelten Kritik an missbrauchsverherrlichenden Texten mit dem Hinweis auf das “lyrische ich” ab – was ihnen jetzt ein bisschen peinlich ist, aber viel über die Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Sexismus aussagt.
Im Band „Till Lindemann – 100 Gedichte“ findet sich das Gedicht „Wenn du schläfst“, in dem eine Vergewaltigung beschrieben wird: „Ich schlafe gerne mit dir wenn du schläfst, wenn du dich überhaupt nicht regst … Und genauso soll es sein (so soll das sein so macht das Spaß), etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas).“ Nichts daran lustig, es klingt bitter Ernst und ist vielleicht nicht nur Phantasie.
Natürlich sind Rammstein nicht die Einzigen. In der HipHop-Szene dominierte lange das gut verkäufliche Gangster-Image, inklusive offenem Frauenhass. Auch Bands wie die Ärzte oder KIZ, die auch für linke und antikapitalistische Inhalte bekannt wurden, haben mit frauenverachtenden Texten Kohle gemacht. Zuletzt haben die Ärzte auf einem Konzert Witze über KO-Tropfen in direktem Bezug zu Rammstein gemacht. Die Versicherung, das sei ja alles “ironisch”, soll dazu führen, den Markt möglichst groß zu halten, so dass sowohl sexistische Rechte als auch feministische Linke die Musik guten Gewissens kaufen können. Die Folge solcher Texte ist aber auch, dass sich das gesellschaftliche Klima bezüglich Sexismus auch außerhalb der Konzerte verschlechtert, und es weiterhin akzeptiert bleibt, Frauen zu objektifizieren.
Der Konzern Eventim hat im letzten Jahr fast zwei Milliarden Euro Umsatz mit dem Verkauf von Tickets gemacht, Universal Music Groups macht einen Umsatz von sieben Milliarden Dollar. Populäre Bands sind Goldesel, die von der Musikindustrie umworben und verwöhnt werden. Booking-Agenturen lesen den Künstler*innen alle Wünsche von den Lippen ab, um sie bei Laune zu halten. Egal, ob dabei nur Narzissmus gefüttert wird, Drogenkonsum oder eben die massenhafte Objektifizierung und Zurverfügungstellung von Frauen.
Frauen in der Musikindustrie
Die Musikindustrie ist von Männern geprägt: Männer dominieren die Charts, die Bühnen, die Vorstände der großen Labels. Im Lineup des “Rock am Ring” 2022 lag der Frauenanteil unter den Künstler*innen bei 5,6 %. Musikerinnen verdienen 24% weniger als Musiker. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewusstsein und beides ist von patriarchalen Ausbeutungsstrukturen durchdrungen. Künstlerische Positionen, wie die einer Band, sind mit sehr viel gesellschaftlicher und finanzieller Anerkennung und Macht verknüpft. Frauen und queere Personen kommen auf Bühnen kaum vor und hinter der Bühne oft nur als sogenannte „Groupies“. Selbst junge Musiker*innen, die vielleicht eher Bock auf Jammen oder einfach nur eine nette Zeit haben, werden von älteren Typen oft in die „Groupie“-Rolle gedrückt und zum Objekt gemacht. Musiker*innen kriegen Backstage Wagenladungen von sexistischen Kommentaren ab. Außerdem lassen sich weibliche Acts eben auch vor allem durch Sexismus vermarkten. Auch erfolgreiche Künstlerinnen werden häufig vor allem über Image und Sexiness verkauft. Wer darauf keinen Bock hat, kommt im Musikbusiness, das immer noch hauptsächlich von weißen Typen mit viel Geld dominiert wird, nicht weiter.
Schuldzuweisung
In der Debatte um Rammstein und Co. tauchen immer wieder die vier apokalytischen Reiter der Täter-Opfer-Umkehr auf: 1) “Die Frauen sind selbst schuld”, 2) “Was Backstage passiert ist konsensual,” 3) “Die Frauen wollen nur Aufmerksamkeit” und 4) “Es gibt keine Beweise”.
In keinem Raum oder Kontext sollten Menschen zu irgendetwas genötigt werden oder Gewalt ausgesetzt sein, egal ob sie einen Bikini oder Kartoffelsack anhaben, egal ob sie betrunken sind oder nüchtern. Es ist eigentlich verrückt, dass man das immer wieder betonen muss. Betroffene brauchen oft viel Überwindung, um über ihre Erfahrung zu sprechen, wenn sie es überhaupt tun. Sie glauben zu machen, dass das, was sie erlebt haben, sei “ganz normal” in diesem oder jenem Event oder “nicht so schlimm”, schützt die Täter und hält sexistische Strukturen aufrecht. Es bringt Betroffene zum Schweigen.
Sexuelle Gewalt ist schwer nachzuweisen, sonst gäbe es die ganze Diskussion nicht. Den Betroffenen geht es in erster Linie nicht darum, den Täter an den Pranger zu stellen. Sie wollen vor allem einfach heilen, weiterleben und verhindern, dass es anderen ebenso geht wie ihnen. Sie gehen vom Erlebten aus. Für “handfeste Beweise” interessieren sich oftmals die Medien, welche die Vorwürfe ausschlachten und vermarkten, einzelne Täter in Visier nehmen, ohne die patriarchalen Strukturen zu hinterfragen und diese damit selbst zu stabilisieren.
Ein Beispiel, welches plakativ klar macht, dass es vielen Betroffenen nicht um Rache geht ist der Track „The shame should not be mine” der Metalband GGGOLDDD. Darin verarbeitet die Sängerin die eigene Erfahrung von sexueller Gewalt durch eine Person, der sie vertraute. In einem dazugehörigen Videoclip spielt sie sich selbst, wie sie in eine Talkshow geht und der Moderator sie nötigt, über ihre Erfahrung zu sprechen. Als „Überraschung“ übergibt er ihr eine Waffe und offenbart einen Pranger, an dem der mutmaßliche Täter der Sängerin steht, den sie nun erschießen kann. Am Ende erschießt sie stattdessen den Showmaster.
Viele Betroffene zeigen Übergriffe nicht an, weil das oft Menschen sind, denen sie vertraut haben, die sie vielleicht sogar geliebt und bewundert haben. So zu tun, als wäre auf den Afterparties alles konsensual, weil die “Groupies” es ja mit sich machen lassen, blendet die Machthierarchie aus, die zwischen dem Idol, das reich, berühmt, und im Fall von Lindemann auch deutlich älter ist, und dem Fan. Es gibt unzählige Fälle, in denen Künstler ihre Machtpositionen ausgenutzt haben, und weibliche Fans ausgebeutet und missbraucht wurden.
Viele Opfer bringen die Taten aber nicht zur Anzeige, weil sie Angst haben, selbst verurteilt zu werden, gezwungen sind, Einzelheiten aus dem Vorfall zu schildern, retraumatisiert werden. Gleichzeitig werden die meisten Täter schnell rehabilitiert. Jonny Depp durfte dieses Jahr die Cannes Filmfestspiele eröffnen, Marilyn Manson und auch Rammstein touren weiter. Protestierende Feminist*innen vor dem Konzert in München mussten sich von einigen Fans Anfeindungen oder sogar sexistische Sprüche anhören.
Rammstein fährt inzwischen schwere Geschütze auf. Die auf Medienrecht spezialisierte Anwaltskanzlei Schertz und Bergmann bezeichnete die Vorwürfe, Frauen seien durch Alkohol oder KO-Tropfen betäubt worden, in einer Pressemitteilung als “unwahr” und drohte: „Wir werden wegen sämtlicher Anschuldigungen dieser Art umgehend rechtliche Schritte gegen die einzelnen Personen einleiten“. In den Medien gäbe es eine „unzulässige Verdachtsberichterstattung“, dagegen würde man juristisch vorgehen. Im Klartext: die Rammstein-Anwälte halten schon das Zitieren von Berichten von Betroffenen und den daraus abgeleiteten Verdacht, es stecke System dahinter, für rechtlich unzulässig. Solche Erklärungen verfolgen die Absicht, sowohl die Zeug*innen als auch Medien einzuschüchtern. So viel zu Transparenz und Aufklärungswillen.
Wie weiter?
Die Diskussion um Rammstein muss der Beginn einer längst überfälligen Aufarbeitung von strukturellem Sexismus in der profitablen Film- und Musikindustrie sein. Aufklärung über Machtstrukturen, wie auch unlängst im Podcast Boysclub, der über den Springer-Konzern und Bild berichtet, ist ein guter Anfang. Aber dabei können wir nicht stehen bleiben.
Wir müssen uns selbst organisieren, gemeinsam besprechen, wie wir dieses System durchbrechen können. Kunstschaffende in Gewerkschaften können die Debatte über sexistische Strukturen anstoßen, ihre Reichweite nutzen, um über die Profite, die dadurch immer noch gemacht werden, aufklären. In keinem Ort sollten Solo- und Bandtouren von Lindemann mehr ohne Proteste stattfinden. Gleichzeitig brauchen wir sichere Orte auf Konzerten.
Sexismus schreibt die Ungleichheit des Kapitalismus als Ungleichheit zwischen den Geschlechtern fort, die patriarchale Dominanz von Männern über Frauen ist notwendig, damit die kapitalistische Herrschaft aufrecht erhalten bleibt. Um Sexismus in der Kulturindustrie zu überwinden, müssen wir die Profitorientierung bekämpfen. Um eine Kultur zu schaffen, die Gleichheit und Gleichberechtigung fördert, muss die Kulturindustrie aus den Händen einer Handvoll superreicher Labelchefs, Plattenfirmen und Ticket- und Bookingunternehmen gerissen und vergesellschaftet werden. Künstler*innen brauchen ein gesichertes Einkommen, auch wenn sie kein Millionenpublikum haben. Alle, die an der Produktion von Kultur beteiligt sind (Crews, Techniker*innen, Security- und Awarenessmenschen…), brauchen Tariflöhne.
Es braucht demokratisch gewählte Strukturen, die Sicherheitskonzepte für Konzerte und Veranstaltungen ausarbeiten, geschult sind, Machtstrukturen zu durchdringen und Gefahrensituationen zu erkennen.
Wir wollen eine Gesellschaft, in der nicht nur eine, sondern viele weibliche und genderqueere Acts in Metallbands, HipHop usw. gefeiert werden, und in der sich alle Fans auf Konzerten und in Aftershowparties sicher fühlen können.