Das war Mord – schon wieder.
Soziale, rassistische und polizeiliche Gewalt: Das gesamte System ist schuld!
Lasst uns die Wut in eine Massenbewegung verwandeln, aus den Stadtvierteln und Betrieben heraus!
Der schreckliche rassistische Mord an dem jungen Nahel durch einen Polizisten in Nanterre am 27. Juni hat eine Welle der Empörung und des Aufbegehrens gegen den systemischen Rassismus und die endlose Polizeigewalt ausgelöst, die sich insbesondere gegen Jugendliche mit nordafrikanischen oder subsaharischen Wurzeln richtet. Die starke soziale Bewegung gegen die Rentenreform muss als Grundlage für die Organisation und den Aufbau massenhaften Widerstandes gegen rassistische und polizeiliche Gewalt dienen, gegen das kapitalistische System.
Erklärung von Alternative Socialiste Internationale – Frankreich (Schwesterorganisation der SAV)
Die Ereignisse sind bekannt. Bei einer Polizeikontrolle wurde der 17-jährige Nahel Merzouk vom Schuss eines Polizisten tödlich getroffen. Dieser hatte ihn wenige Sekunden zuvor mit seiner Waffe bedroht und ihm gesagt, er solle den Motor abstellen, sonst „schieße ich dir in den Kopf“. In Panik startete Nahel sein Fahrzeug. Er wurde direkt von einer Kugel getroffen, die durch seine Schulter und den Brustkorb ging und ihm keine Überlebenschance ließ. Die Geschichte hätte hier enden können, wie so viele Male in der Vergangenheit. Die Polizei hätte sich angesichts eines Fahrzeugs, das auf einen Polizisten „zufährt“, auf Notwehr berufen. Doch ein Video hielt die Szene fest und entlarvte die Lüge der Polizei sofort.
Nahel reiht sich ein in die lange Liste junger Männer mit nordafrikanischem oder subsaharischem Hintergrund, die bei einem Polizeieinsatz getötet wurden. Zwei Wochen vor Nahel wurde ein anderer junger Mann, der 19-jährige Alhoussein, in Angoulême von der Polizei getötet, als er zur Arbeit ging.
Für diese Jugend ist Ungerechtigkeit nicht nur ein Gefühl. Die Fälle werden häufig nicht weiter verfolgt und die mörderischen Polizist*innen selten verurteilt. Die Angst, in eine Polizeikontrolle zu geraten, wird nur von ihrem Hass auf die Institutionen eines Systems übertroffen, das nur dazu da ist, diese Schichten von Jugendlichen aus den Arbeitervierteln zu unterdrücken und zu erniedrigen.
Diese Revolte ist die Stimme derer, die nicht gehört werden. Ihnen und allen anderen Opfern von Polizeigewalt Gehör zu verschaffen und Gerechtigkeit zu erlangen, erfordert den Aufbau einer Massenbewegung. Die gewerkschaftliche und politische Linke muss sich zu tatkräftiger Solidarität verpflichten.
Macron: Immer neue Krisen
Der Mord an Nahel stellt eine neue Krise für die Regierung Macron dar, die gezwungen ist, zuzugeben, dass es ein Problem gibt. „Unerklärlich“ und „unentschuldbar“ musste Macron den gefilmten Mord an dem jungen Mann nennen. Das hat den reaktionären Gewerkschaften der Polizei, wie der Alliance, die sich vom Präsidenten im Stich gelassen fühlte, eindeutig nicht gefallen. Eine weitere Krise, die Macron bewältigen muss.
Der Mord an Nahel hat auch die extreme Rechte in Schwierigkeiten gebracht. Im Programm von Marine Le Pens Rassemblement National findet sich zum Beispiel die Formulierung, dass Polizist*innen und Gendarmen unter der Annahme der Selbstverteidigung Gewalt anwenden dürfen. Eine solche Vermutung gibt es eigentlich schon in vielen Fällen, aber der RN will sie in allen Fällen unanfechtbar machen, ebenso wie zum Beispiel die Unmöglichkeit, gegen Polizist*innen Anzeige zu erstatten. Als die Journalist*innen ihr also nach Nahels Tod das Mikrofon reichten, zeigte sich Le Pen eher verlegen und antwortete, sie werde sich später äußern, da sie angeblich „das Video noch nicht gesehen“ habe…
Aber für die Rechte und die extreme Rechte liegt in jeder Krise oft eine Chance. Und diese Gelegenheit für sie hat nicht lange auf sich warten lassen: die Instrumentalisierung der Aufstände, die in den Stadtvierteln nach diesem neuen Polizeimord begonnen haben.
„Ein Aufstand ist die Sprache derer, die man nicht hört.“ – Martin Luther King
Bereits in der ersten Nacht nach dem Mord an Nahel begannen Tausende von Jugendlichen, mehrheitlich mit Migrationshintergrund, in den Arbeiter*innenvierteln der Großstädte zu revoltieren. Es gibt viele Parallelen zum Aufstand von 2005 nach dem Tod der Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Traoré bei einem Polizeieinsatz in Clichy-sous-Bois.
Bei diesen Vergleichen wird jedoch oft ein wichtiger Aspekt vergessen: Seit 2005 hat sich viel verändert, nicht nur die Allgegenwärtigkeit sozialer Netzwerke.
In den letzten 20 Jahren wurde von Jahr zu Jahr immer weniger in öffentliche Dienstleistungen investiert, und zwar exponentiell. Die Kürzungspolitik, die den Neoliberalismus seit den frühen 1980er Jahren prägt, hat unermesslichen Schaden angerichtet. Dies gilt insbesondere für die wirtschaftlich schwächsten Menschen. In manchen Stadtvierteln werden Rentner*innen, die in Sozialwohnungen wohnen und zu wenig Einkommen haben, um die Miete zu bezahlen, von jüngeren Menschen finanziell unterstützt, damit sie weiterhin in der Siedlung leben können.
Bereits 2005 wurde festgestellt, dass es keine positiven Zukunftsperspektiven für große Teile der in diesen Vierteln lebenden Jugendlichen gibt, insbesondere derjenigen mit Migrationshintergrund. Aber von welchen Perspektiven sprechen wir heute? Alles ist noch schlimmer geworden. Frustrationen und Wut sind größer und weiter verbreitet als je zuvor. Wenn man den derzeitigen Wutausbruch auf die sozialen Netzwerke oder „Videospiele“ (so Macrons lächerlicher Kommentar) reduziert, zielt das vor allem darauf ab, seine sozialen Ursachen herunterzuspielen. Und wenn sich diese Wut so schnell auf ganz Frankreich ausgebreitet hat, übrigens nicht nur auf die größten Städte, dann deshalb, weil diese sozialen Ursachen systeminhärent und überall zu sehen sind.
Bei den Revolten, die wir in den Stadtvierteln heute erleben, steht die Polizei vor jungen Männern, die von klein auf diskriminiert und gedemütigt wurden, ein Prozess, der während der Covid-19-Pandemie noch verstärkt wurde. Diese jungen Männer sind sicherlich erst vor kurzem einer polizeilichen Gesichtskontrolle unterzogen worden.
Doch die Antwort der Behörden läuft auf ein verschärftes „Weiter so“ hinaus. Wieder mehr „Sicherheit“, mit Rekordmobilisierungen von Polizist*innen, dem Einsatz von Wasserwerfern, die protzig durch die Straßen der Stadtviertel defilieren, und sogar der Entsendung von Einheiten, die für Geiselnahmen oder Terrorismusbekämpfung vorgesehen sind (BRI, GIGN, RAID). Außerdem wurden Ausgangssperren verhängt und der öffentlichen Nahverkehr abends eingestellt. Gleichzeitig verschickte der Siegelbewahrer (Justizminister) Éric Dupond-Moretti ein Rundschreiben an die Staatsanwaltschaften, in dem er „eine schnelle, entschlossene und systematische strafrechtliche Reaktion“ gegen die Jugendlichen forderte, die bei den Demonstrationen der Revolte aufgegriffen wurden.
Nichts wäre geeigneter, um das Feuer anzufachen, obwohl der Tod des jungen Nahel gerade einmal eine paar Tage zurückliegt. Als ob mehr Sicherheit einen explosiven Cocktail aus institutioneller Diskriminierung und rassistischer Demütigung sowie Orientierungs- und Zukunftsverlust verdampfen lassen könnte.
Mit der Polizeigewalt zielen die Behörden ganz bewusst darauf ab, weitere Gewaltausbrüche seitens der rebellierenden Jugendlichen zu provozieren, um die Aufmerksamkeit abzulenken und zu versuchen, Zwietracht in unserer sozialen Klasse zu stiften.
Diese autoritäre Reaktion der Regierung beflügelt die rechtsextremen Organisationen. Die reaktionären Gewerkschaften Alliance und Unsa Police haben noch mehr Öl ins Feuer gegossen, indem sie am 30. Juni in einer rassistische Erklärung zu härterer Repression aufriefen: „Angesichts dieser wilden Horden reicht es nicht mehr aus, um Ruhe zu bitten, man muss sie erzwingen“; „dies ist nicht die Stunde gewerkschaftlicher Aktionen, sondern des Kampfes gegen diese ‚Schädlinge’“; „Heute sind die Polizisten im Kampf, weil wir uns im Krieg befinden. Morgen werden wir im Widerstand sein, und die Regierung wird sich dessen bewusst sein müssen“ (anzumerken ist, dass UNSA Éducation und der Generalsekretär der UNSA das Kommuniqué verurteilten). Dies spiegelt eine Polarisierung wider, die tatsächlich existiert und gefördert wird: Ein Spendentopf zur Unterstützung des Polizisten, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, wurde von mehr als 50.000 Spender*innen mit mehr als 1 Million Euro gefüllt (Stand 3. Juli); er wurde von dem rechtsextremen Politiker Jean Messiha, ehemaliges Mitglied des RN und späterer Unterstützer von Éric Zemmour, ins Leben gerufen.
Rassistische und soziale Gewalt, Polizeigewalt und Gewalt der Bewegung
Zu den Aufständen in den Stadtvierteln gehören auch Phasen von Zerstörung, Brandschatzung und Plünderungen. Es ist wichtig, vorab klarzustellen: Die erste Gewalt ist die rassistische und sozioökonomische Gewalt, die von der Politik ausgeht, die das System hervorbringt und die Macron heute betreibt. Sie sind es, die die Wut und ihren Ausdruck auf unterschiedliche Weise stimulieren und somit auch die Gewalt seitens eines Teils der Revoltierenden anregen.
Zweitens geht die Gewalt von den Ordnungskräften aus, rassistische Polizeigewalt. All dies heizt die Gewalt an, die von der Revolte in den Stadtvierteln ausgeht.
Die Regierung und die extreme Rechte profitieren heute davon, aber es ist zu einfach, die Probleme des Systems hinter diesen Ausschreitungen zu verstecken. Sie sind auch eine Folge der Politik, die in den letzten Jahrzehnten betrieben und von Macron verschärft wurde, und damit des Hasses, der gegenüber den Institutionen besteht. Die Hauptziele sind die repräsentativsten Gebäude der Institutionen des Systems, wie Rathäuser und Polizeiwachen, sowie die Gebäude großer Handelsketten, und einige andere Dinge, die zerschlagen oder angezündet werden.
Dass Gewalt von einem Teil der revoltierenden Jugend ausgeht, ist weitgehend verständlich; es ist Ausdruck blinder Wut gegen das System, aber natürlich nicht die Lösung. Für diese Viertel, die unter sozialem Abstieg und Armut leiden und bereits von den öffentlichen Dienstleistungen verlassen sind, ist das eine doppelte Strafe: Oft sind es Güter der Allgemeinheit, die betroffen sind, wie Busse, Gemeindehäuser, Schulen, Apotheken, aber auch Autos, die den Bewohner*innen derselben Viertel gehören. Leider ist es unsere Klasse, sind es unsere Nachbarschaften, die die Folgen von Angriffen auf Eigentum, das der gesamten Gemeinschaft zugute kommen kann, zu spüren bekommen, was zur Spaltung in unseren Reihen einführt.
Solche Elemente wie Vandalismus, Brandstiftung und Plünderungen können auch von der Gegenseite aufgegriffen werden, um uns zu spalten und ihre freiheitsfeindlichen Agenda und den repressiven Staatsapparat zu verschärfen. Die herrschende Klasse kann dann genau diese Schwächen der Revolte nutzen, ihr gesamtes Arsenal und insbesondere die herrschenden Medien mobilisieren, um sie gegen den Aufstand zu richten, was zu Spaltung und sogar zum Vergessen seiner eigentlichen Ziele führen kann.
Letztendlich schwächen dieser Akte der Zerstörung, Brandstiftung und Plünderungen die Proteste. Echte Lösungen können wir nur durch zahlenmäßige Stärke und die Einheit der gesamten Arbeiter*innenklasse und Jugend erringen.
Wenn der Staat sich um diese Jugend kümmert, dann nur, um sie zu erniedrigen
Nach seinem Amtsantritt als Präsident 2017 hat Macron die Arbeiter*innen und die Jugend sofort frontal mit einer Sparpolitik und der Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte angegriffen. Aber er begleitete diesen Klassenkrieg auch mit einer Zunahme des Autoritarismus des Staates und seiner Ordnungskräfte und förderte gleichzeitig den systemischen Rassismus, der dem kapitalistischen System innewohnt. Wenn du die Mehrheit der Bevölkerung angreifst, ist es besser, sie zu spalten, um besser herrschen zu können.
Macrons brutale Politik gegenüber Arbeiter*innen und Jugendlichen wurde regelrecht zu einer Leiter für den Aufstieg der RN. Der staatliche Rassismus und die ständigen Stigmatisierungen haben zugenommen: vom umfassenden Sicherheitsgesetz über das Separatismusgesetz bis hin zur Jagd auf „Links-Islamisten“ … Macron und seine Regierungen haben die Spaltung immer weiter vertieft und Keile für die extreme Rechte geschaffen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Marine Le Pen in den Umfragen vorne liegt, und das trotz der starken sozialen Bewegung gegen die Rentenreform. Dass die RN als „wahre“ Opposition gesehen wird, ist das Ziel von Macron und seinen Minister*innen. Deshalb sind es übrigens vor allem sie, die heute viel mehr als die RN bewusst Rassismus und Spaltung verbreiten, insbesondere mit dem Olympia-Gesetz 2024, dem künftigen Einwanderungsgesetz und der rassistischen Militäroperation gegen komorische Migranten in Mayotte („Operation Wuambushu“), und natürlich auch heute mit der autoritären und rassistischen Antwort von Darmanin (frz. Innenminister, Anm. d. Übers.) und seiner Polizei auf die Aufstände in den Arbeiter*innenvierteln.
Die neoliberale Politik, die insbesondere seit Mitterrands „Wende zum Sparen“ 1983 und in den darauffolgenden Jahrzehnten verfolgt wurde, hat die öffentlichen Dienste ausgehöhlt, mit konkreten Folgen, die überall zu spüren sind, vor allem aber in den Arbeiter*innenvierteln, wo die Armut wächst. Unhygienische Wohnungen, schlechte Beschäftigungsaussichten, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung und grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen: Dort macht sich mehr als irgendwo sonst die Desinvestition in allen Bereichen des Lebens auf grausame Weise bemerkbar. Fehlende Zukunftsperspektiven sind der gemeinsame Nenner großer Teile der in diesen Vierteln lebenden Jugend. Um diese Armut und Perspektivlosigkeit zu verschleiern, bedient sich das System umso mehr der Waffe der Spaltung, insbesondere der rassistischen Spaltung.
Das aggressive Vorgehen der Polizei in den Armenvierteln, in denen Menschen mit Migrationshintergrund überrepräsentiert sind, soll die Menschen in unterdurchschnittlichen Wohnungen und Schulen gefangen und sie in einer Form der Segregation halten. Und rassistische Politiker*innen versuchen, diese Bevölkerungsgruppen als Bedrohung für die „weißen“ Schichten der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschicht darzustellen, um eine breitere Unterstützung für ihre repressive Politik zu erhalten.
„Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus“ – Malcolm X
In dieser Gesellschaft ist der Rassismus systemisch. Wie andere Unterdrückungsmechanismen in der Gesellschaft (insbesondere Sexismus und LGBTQIA+-Feindlichkeit) ist Rassismus eine Waffe, die von der herrschenden Klasse und ihren politischen Instrumenten bewusst eingesetzt wird, um ihre Politik leichter durchsetzen zu können, da sie sich nicht mit einer geeinten Arbeiter*innenklasse auseinandersetzen muss.
Diese Übung hat der französische Staat schon immer bravourös gemeistert: Von der Einführung der Sklaverei auf Grundlage des Dreieckshandels mit den Westindischen Inseln bis zur Ermordung Nahels haben die französischen Behörden stets eine Politik verfolgt, die „farbige“ Menschen in einen Status der Minderwertigkeit einschließt – lange Zeit offen, heute nicht mehr in Worten, aber immer noch in der Praxis.
Racial profiling ist kein Mythos: In Frankreich ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine schwarze Person oder eine Person nordafrikanischer Herkunft kontrolliert wird, sechs- bis siebenmal höher als bei einer weißen Person. Wenn man dazu noch berücksichtigt, dass junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren siebenmal häufiger kontrolliert werden als der Durchschnitt der Bevölkerung, zeigen die Statistiken, dass es bei einem jungen Mann mit schwarzer Hautfarbe oder nordafrikanischer Herkunft eine 20-mal höhere Wahrscheinlichkeit gibt, kontrolliert zu werden. Und diese Prozentzahlen liegen wahrscheinlich noch unter den realen Werten.
Rassismus ist systemisch, nicht nur bei Polizeikontrollen: Diskriminierung bei der Einstellung und beim Zugang zu Wohnraum, Unterrepräsentation bei Studiengängen und Ausbildungen, die zu Arbeitsplätzen mit besseren Arbeitsbedingungen und Gehältern führen, Überrepräsentation bei weniger gut bezahlten ungelernten Tätigkeiten, …
Rassistische und polizeiliche Gewalt – das Versprechen der Ungerechtigkeit
Es ist eine Tatsache, dass der Schusswaffengebrauch durch die Polizei und die Mordrate unter Macron gestiegen sind, obwohl das Gesetz zum Einsatz von Schusswaffen bei der Polizei im Februar 2017 unter Hollande von Premierminister Bernard Cazeneuve eingeführt wurde, kurz bevor Macron an die Macht kam. Von 2017 bis 2021 hat der Einsatz von Waffen durch die Polizei im Vergleich zu 2012-2016 um 26 % zugenommen. Bei der Verwendung von Waffen gegen ein Fahrzeug betrug der Anstieg sogar 39 %.
Die Gesetzesänderung ist jedoch nicht der einzige Beschleuniger der Polizeigewalt. Wie das Online-Magazin Basta! berichtet, hat sich seit 2020 die Zahl der Menschen, die durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet wurden, verdoppelt, und dreimal so viele Menschen starben nach einer Festnahme.
Verurteilungen von Polizist*innen als Mörder*innen sind äußerst selten. Es ist gut vorstellbar, dass Nahels Mörder angesichts des Videos und des Drucks verurteilt werden könnte. Zumal er von einem Teil seiner Vorgesetzten und von den politischen Behörden fallen gelassen wird, die die Karte des „isolierten Einzeltäters“ spielen, um zu verhindern, dass die gesamte Institution schlecht dasteht. Die Jugendlichen in den Arbeiter*innenvierteln sind sich jedoch sehr wohl bewusst, dass es sich nicht um ein Problem mit Einzelpersonen innerhalb der Polizei handelt, sondern um weit verbreitete rassistische Gewalt, die von den politischen Behörden und sogar innerhalb der Polizei gefördert wird.
Die Regierung mag sich zwar hinter dem ständigen „Lasst die Justiz ihre Arbeit machen“ verstecken, aber viele von uns wissen, dass die Justiz in solchen und vielen anderen Fällen nicht das tut, was man von ihr erwartet. In einer Gesellschaft, die sich aus verschiedenen sozialen Klassen mit gegensätzlichen Interessen zusammensetzt, spielen die verschiedenen Institutionen in letzter Instanz die Rolle, die herrschende Klasse zu verteidigen. In unserer Gesellschaft ist dies die Kapitalist*innenklasse. Und es ist in der Tat eine Klassenjustiz, mit der wir es zu tun haben.
Die Rolle des Staates, die Rolle der Ordnungskräfte
Wie Friedrich Engels vor über hundert Jahren erklärte, spiegelt die Entstehung des staatlichen Unterdrückungsapparats, bestehend aus Armee, Polizei, Gefängnissen usw., historisch die Spaltung der Gesellschaft in soziale Klassen mit gegensätzlichen Interessen wider, die unmöglich unter einen Hut zu bringen sind. Der Staat besteht, in den Worten von Engels, aus „Sondereinheiten bewaffneter Männer“, die den Klassenkonflikt „in den Grenzen der Ordnung“ halten, aber letztlich die Interessen der herrschenden Klasse verteidigen (Lektüre zur Vertiefung: Lenin, Staat und Revolution). Unterdrückung und die Androhung von Gewaltanwendung sind in einer so ungleichen Gesellschaft wie der unseren ein integraler Bestandteil des Schutzes des Reichtums und der Herrschaft der herrschenden Klasse.
Deshalb geht der bewaffnete Arm des kapitalistischen Staates mit scharfer Repression gegen jede soziale Bewegung vor, die die Interessen der herrschenden Klasse bedroht. Die wahnsinnige Polizeibrutalität gegen die Gelbwestenbewegung Ende 2018 und 2019 führte zu 25.000 verletzten Demonstrant*innen, davon 353 mit Kopfwunden, 30 wurden geblendet und 6 die Hände abgerissen; außerdem wurde Zineb Redouane, eine 80-jährige Algerierin, die in Marseille lebte, getötet.
Auch die starke soziale Bewegung gegen die Rentenreform wurde von der Polizei massiv unterdrückt. So hat ein Eisenbahnergewerkschafter der SUD Rail in Paris durch den Schuss einer Entschärfungsgranate die Augen verloren; einer Arbeiterin, die in Rouen Schüler*innen mit Behinderungen betreut (AESH), wurde durch eine Granate ein Daumen abgerissen. In den Sektoren und Unternehmen, in denen sich die Belegschaft in einem unbefristeten Streik befand (Raffinerien, Müllabfuhr und -aufbereitung, …), zeigte sich auch die Gewalt des kapitalistischen Staates durch seine Justiz und Polizei, indem er Streikposten auflöste und Personal zwangsrequirierte, damit die Arbeit wieder aufgenommen wird.
Während der Pandemie beklatscht die Regierung das Pflegepersonal offiziell, wenn es aber für mehr Mittel und Personal demonstrierte, wurde unweigerlich mit Schlagstöcken und Tränengas geantwortet.
Auch die Jugend ist, insbesondere in den letzten Jahren, ein bevorzugtes Ziel polizeilicher Repression. Die herrschende Klasse kennt das Risikopotential einer aufbegehren Jugend, die ganze Schichten der Arbeiter*innenklasse hinter sich herziehen kann. Wenn sie gegen die anti-ökologische Politik oder gegen Macrons antidemokratische Arroganz anlässlich der Bewegung gegen die Rentenreform protestiert, wird sie direkt angegriffen – mit Tränengas, Polizeiknüppeln, Gummigeschossen, Entschärfungsgranaten, Angriffen auf Demonstrationszüge, Kesseln sowie willkürlichen Verhaftungen und Ingewahrsamnahmen…
Im März belegte eine Tonaufnahme, wie verhaftete junge Demonstrant*innen von Polizist*innen der BRAV-M (Brigade de répression de l’action violente – motorisée) geschlagen, eingeschüchtert, beleidigt (auch rassistisch) und körperlich bedroht wurden. Andere Zeugenaussagen berichteten von sexuellen Übergriffen gegen junge Frauen, die in eine Polizeistation gebracht worden waren. Das Ziel all dessen ist es, Angst zu verbreiten und die sozialen Bewegungen zum Schweigen zu bringen.
Die Polizei kann im Rahmen einer kapitalistischen Gesellschaft nicht „abgeschafft“ werden. Solange die Kapitalist*innen an der Macht sind, müssen sie einen Weg finden, ihre Interessen und ihr Eigentum zu schützen. Es ist auch nicht möglich, eine „nicht-rassistische“ Polizei zu schaffen, solange der institutionelle Rassismus und die Segregation in der Gesellschaft intakt bleiben. Kleine Verbesserungen können manchmal erkämpft werden, aber die Lösung ist, den Kapitalismus selbst loszuwerden.
Für eine Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse und der Jugend gegen die Gewalt des Systems!
All die Wut und Energie, die in Vandalismus und Plünderungen gesteckt wird, sollte von der Arbeiter*innenbewegung organisiert und kanalisiert werden. Diese Wut sollte sich nicht gegen öffentliche Gebäude und große Handelsketten richten, sondern gegen das, was dahinter steht: das System selbst, das die Bedingungen für die Gewalt schafft und sich von ihr nährt.
Mitte Juni hat die Intersyndicale (Gewerkschaftsbündnis, Anm. d. Übers.) das Ende der Bewegung gegen die Rentenreform festgeschrieben. Eine starke soziale Bewegung, die zwar nicht die Rücknahme der Reform erreicht hat, aber die soziale und politische Atmosphäre während der vierjährigen Amtszeit, die Macron noch bleibt, schwer belastet hat und belasten wird. In Wirklichkeit ist der Kampf um die Renten noch nicht vorbei, und der September könnte die Wiederbelebung des gewerkschaftlichen Kampfes einläuten, sei es zu den Renten oder zu anderen Themen. Das Kampfpotenzial wird riesig bleiben, mit einer quantitativ und qualitativ gewachsenen Avantgarde an der Seite breiter Schichten von Beschäftigten, die durch diese historische Bewegung bereichert wurden und wieder Vertrauen in die Kraft kollektiver Kämpfe gefasst haben. Dieses gesamte Potenzial muss in einer Massenbewegung gegen rassistische und polizeiliche Demütigungen und Gewalt eingesetzt werden.
Ende Mai 2020 hatte der rassistische Mord an George Floyd durch die Polizei in den USA die BlackLivesMatter-Bewegung neu entfacht. Als Reaktion darauf und um sich dem systemischen Rassismus und der Polizeigewalt in Frankreich entgegenzustellen, gingen Zehntausende von Menschen auf die Straße, insbesondere nach dem Aufruf des Komitees „Die Wahrheit für Adama“. Ein Jahr später waren es immer noch 150.000 Menschen, die in ganz Frankreich auf die Straße gingen. Der strukturelle Charakter von Rassismus und Polizeigewalt wird zunehmend sichtbar und weithin anerkannt. Die Bewegung Black Lives Matter hat es ermöglicht, die offizielle Propaganda ins Wanken zu bringen. Dies ist eine Grundlage, auf der man aufbauen kann, um weiterzukommen.
Die Tausenden von Menschen, die am 29. Juni in Nanterre am Weißen Marsch zu Ehren von Nahel teilnahmen, zeigen den Willen, für Wahrheit und Gerechtigkeit aktiv zu werden und die Dinge zu ändern. Solche Mobilisierungen können als Beispiel dienen. Die organisierte Arbeiter*innenbewegung muss sich an diese oft nicht gewerkschaftlich organisierten Teile der Jugend wenden, um den Kampf auf alle Schichten der Arbeiter*innenklasse auszuweiten, Kampfmethoden zu vermitteln und Perspektiven aufzuzeigen, wie die Behörden und die extreme Rechte zurückgedrängt und Siege errungen werden können.
Um ein gutes Kräfteverhältnis aufzubauen, müssen wir versuchen, alle, die gegen Rassismus kämpfen wollen, zusammenzubringen und zu organisieren, denn Siege können nur durch kollektives Handeln und Massenmobilisierung erreicht werden. Und was uns eint, ist, dass wir in unterschiedlichem Maße Opfer sozialen Mangels (Mangel an Sozialwohnungen, Mangel an menschenwürdigen Arbeitsplätzen, Mangel an Mitteln im öffentlichen Dienst, …) und der Ausbeutung sind, die sich aus dem kapitalistischen Profitsystem ergeben.
Ein Programm, das niemanden außen vor lässt
Die Gewerkschaften haben noch zu oft die Haltung, sich auf ihre „Hochburgen“ zu konzentrieren, aber auch wenn diese die treibende Kraft sein können und müssen, ist es absolut entscheidend, zu versuchen, die weniger aktiven Sektoren und Schichten der Arbeiter*innenklasse einzubeziehen, insbesondere die Jugend, vor allem in den Stadtvierteln. Dies war eine der Schwächen des Widerstands gegen die Rentenreform und ist auch die Herausforderung für einen ehrgeizigen antirassistischen Kampf.
Während der Bewegung gegen die Rentenreform hatten wir übrigens vorgeschlagen, überall Anti-Macron-Kampf- und Streikkomitees zu gründen, in den Betrieben, in den Schulen und Universitäten, aber auch in den Arbeiter*innenvierteln. Breite, für alle offene Komitees, die es ermöglichen, den Kampf basisdemokratisch aufzubauen, indem sie alle aktiv in seine Vorbereitung und Organisation einbeziehen. Wenn solche Komitees eingerichtet worden wären, könnten sie heute als Sprungbrett dienen, um die Revolte gegen den staatlichen Rassismus auf eine andere Ebene zu heben.
Heute setzen sich viele Gewerkschaftsaktivist*innen für die Solidarität mit den Opfern rassistischer Polizeigewalt ein. Bei den Gewerkschaftsorganisationen selbst ist dies jedoch weit weniger der Fall. Die Gewerkschaftsorganisationen und ihre Aktivist*innen spielen eine wichtige Rolle beim Aufbau einer Massenbewegung, die alle Schichten der Arbeiter*innenklasse, die Jugend und die unterdrückten Bevölkerungsgruppen aktiv einbezieht.
Wir müssen auf jeden rassistischen Angriff mit Mobilisierung reagieren: eine Massenmobilisierung, die sich faktisch gegen alltägliche rassistische Politik richten muss, der vor allem die Arbeiter*innenviertel sowie die Bevölkerung in „Übersee-Frankreich“ zum Opfer fallen, dessen Verwaltung durch den französischen Staat ein direktes Überbleibsel seines Kolonialreichs ist. „Ein Aufstand ist die Sprache derer, die man nicht hört“, sagte Martin Luther King. Geben wir denjenigen, die nicht gehört werden, eine Stimme durch aktive Solidarität und den Aufbau einer Massenbewegung gegen die strukturelle rassistische Politik. Es ist unmöglich, das Problem zu lösen, indem man sich auf die staatlichen Institutionen verlässt, die den systemischen Rassismus aufrechterhalten.
Die Wut muss um die Arbeiter*innenbewegung herum gesammelt werden, durch ein Programm, das Austerität und Rassismus durch Solidarität bekämpft: eine gemeinsame Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse, der Jugend und der unterdrückten Bevölkerung, bewaffnet mit einem Programm offensiver Forderungen, um das durchzusetzen, was das Lager auf der anderen Seite nicht umsetzen will: Wahrheit und Gerechtigkeit für alle Opfer rassistischer Polizeigewalt; die Entmilitarisierung der Polizei, die Auflösung der reaktionärsten Einheiten wie der Anti-Kriminalitätsbrigaden (BAC) und der BRAV-M, und die Unterstellung der Polizei unter demokratische Kontrolle durch die Gremien der Arbeiter*innen und der Menschen in den benachteiligten Stadtvierteln, den Schlüsselbetrieben und Gewerkschaften, um der Polizeibrutalität ein Ende zu setzen.
Eine entscheidende Forderung ist die nach massiven öffentlichen Investitionen in den benachteiligten Stadtvierteln: in öffentliche Dienstleistungen, Wohnraum und den Zugang zu gut bezahlter Arbeit für alle; in Bildung, Zugang zu Gesundheit, Kultur und Sport; in Vereine und soziale Zentren. France Insoumise hat Recht, wenn sie eine solche Forderung aufstellt, die in ihrem Notfallplan „Gerechtigkeit überall“ aufgegriffen wird.
Die Arbeitsbedingungn und Lohnhöhen müssen sich ändern. Wir müssen mindestens für eine sofortige Erhöhung aller Löhne um 10 % und die Rückkehr zur gleitenden Lohnskala eintreten, die Mitterrand 1983 abgeschafft hatte, um der Inflation zu begegnen. Zugang zu Bildung für alle zu gewährleisten bedeutet auch die Einführung eines Studierendenlohns in Höhe des Mindestlohns (SMIC). Der Niedriglohnsektor sollte unter öffentliche Kontrolle gestellt werden, um den Beschäftigten einen echten Status mit guter Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen zu verschaffen. Wir brauchen garantierte Arbeitsplätze und Zeit zum Leben, also eine kollektive Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich und geringerem Arbeitstempo.
Die Aktivist*innen der FI und die Gewerkschafter*innen müssen eine Rolle beim Aufbau einer gemeinsamen Kampfbewegung spielen. Mélenchon hatte übrigens bei den Präsidentschaftswahlen 2022 in den Arbeiter*innenvierteln außergewöhnlich gute Ergebnisse erzielt, auch wenn das anschließende NUPES-Bündnis einen Teil der Unterstützung zunichte gemacht hat, ein Bündnis, das vor allem in den Arbeiter*innenvierteln nicht von allen unterstützt wurde, da sich einige seiner Elemente bei der Verwaltung des Systems hervorgetan und auf lokaler Ebene Politik gegen die Interessen der Bewohner*innen dieser Viertel betrieben haben.
Für einen revolutionären sozialistischen Kampf
In einer Gesellschaft zu leben, in der niemand staatliche Repression und Rassismus fürchten muss, setzt voraus, dass wir den Kapitalismus überwinden. Die einzige Möglichkeit, die sozialen Bedürfnisse aller ohne Diskriminierung zu erfüllen, ist, die Macht wieder an die gesellschaftliche Mehrheit zu übergeben.
Beenden wir die kapitalistische Ausbeutung der beiden Quellen allen Reichtums, der Arbeiter*innen und der Natur, indem wir die Schlüsselsektoren der Wirtschaft unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung verstaatlichen. Auf diese Weise wäre es möglich, den Weg zu einer demokratisch geplanten Wirtschaft zu beschreiten, welche die Grundlage zur Abschaffung jeglicher Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt, Ungleichheit und Ungerechtigkeit legt. Das ist das Projekt des revolutionären Sozialismus: den Kapitalismus zu stürzen und Rassismus, Sexismus, LGBTQI+-Feindlichkeit und andere Formen von Diskriminierung und Unterdrückungen auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.
Titelbild: Toufik-de-Planoise, Violences urbaines Nahel Besançon-Planoise 29-06-2023 oufik-de-Planoise 1, CC BY-SA 4.0