Der „wilde“ Streik bei Ford im August 1973

Gastbeitrag von Reiner Schmidt, 1973 Arbeiter bei Ford Köln.

Für diejenigen, die dabei waren – unvergessen: Der Streik bei Ford im August 1973. Der sogenannte “wilde” Streik war einer von über 300 Streiks bundesweit im Jahr 1973 – gleichzeitig das Jahr des Anwerbestopps. Mit diesen und weiteren vorrangig von Arbeitsmigrant*innen angeführten Streiks, forderten die Beteiligten ihre Rechte ein. Aus „Opfern“ wurden endlich „Täter*innen“. Sie trugen somit zur Demokratisierung des Landes bei, in dem sie zunehmend unerwünscht waren.

Vier Tage und drei Nächte wurde das Werk besetzt. „Türken-Terror!“, „Die Gastarbeiter übernehmen die Macht“, titelte die Boulevard-Presse. „Das war das Ende des ‚Gastarbeiters’“, so der Eindruck eines damaligen Teilnehmers.

Vorgeschichte

1968 war mehr als eine Studierendenrevolte. Im Mai 1968 streikten in Frankreich 10 Millionen Arbeiter*innen, mit und ohne Gewerkschaftsunterstützung. In ganz Europa hatte das Folgen, auch in der BRD. Die „Septemberstreiks“ 1969 mit Schwerpunkt Metallindustrie im Ruhrgebiet waren sehr kämpferische „wilde Streiks“, weitgehend an den DGB-Gewerkschaften vorbei. Die Kölner Betriebe spielten bei den Septemberstreiks keine Rolle.

Die Folge der Septemberstreiks waren recht hohe Lohnabschlüsse in den folgenden Jahren. 1970 waren es 11%, 1971 waren es dann nur noch 7,5%, 1972 ca. 8%. Zu berücksichtigen ist aber, dass die Inflationsrate Anfang der 1970er Jahre sich – wie aktuell wieder – zwischen 7 und 8 % bewegte. Die ab Frühjahr 1973 aufflammenden „spontanen“ Streiks (bei Hoesch, Mannesmann, Pierburg Neuss, Hella Lippstadt usw.) wurden mit der Forderung nach einer vorgezogenen Tarifrunde noch im laufenden Jahr zur Durchsetzung einer „Teuerungszulage“ begründet. Teilweise wurden diese Streiks vom Gewerkschaftsapparat unterstützt, teilweise aber auch im Schulterschluss mit dem Kapital als verbotene „wilde“ Streiks bekämpft. Ergebnis dieser Streiks war meist eine Einmalzahlung als Teuerungszahlung in Höhe von 200 bis 300 DM.

Arbeitskämpfe bei Ford Köln

Ford Köln war ein Großbetrieb ohne Kampftradition. Es gab 1948 einen mehrtägigen Streik gegen die Wiedereinstellung eines Naziwerksarztes. In den 1950er und 60er Jahren blieb es bei Ford weitgehend ruhig. 1968 missglückte der Versuch des damaligen Betriebsratsvorsitzenden Günter Tollusch, eine Arbeitsniederlegung und Kundgebung gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze zustande zu bringen.

Auch die Septemberstreiks von 1969 erfassten den Betrieb nicht. 1970 dann entglitt ein von der Gewerkschaft initiierter „spontaner“ Warnstreik der Kontrolle der IG Metall. Die türkischen Kollegen übernahmen ihn weitgehend auf allen Ebenen. Er dauerte länger als geplant. Alle drei Schichten streikten. Wichtiger als die gewerkschaftlichen Geldforderungen wurden im Streikverlauf die Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen wie z.B. der Kontrolle der Bandgeschwindigkeit durch die Arbeiter. Auch die Kampfformen waren neu. Statt brav die Arbeit für kurze Zeit niederzulegen, demonstrierten die türkischen Kollegen vor der Verwaltung, gingen handgreiflich gegen Streikbrecher vor und beschädigten eine Reihe von Maschinen und Anlagen. Innergewerkschaftlich wurde für diesen Streik der Begriff „Türkenstreik“ kreiert. In den Tarifrunden 1971 und 1972 war wieder Ruhe bei Ford.

„Türkenstreik“ und Betriebsbesetzung

Die „wilden“ Streiks in der ersten Hälfte des Jahres 1973 wurden auch bei Ford Köln heiß diskutiert, jedoch erst einmal ohne Konsequenz. Nach den Werksferien im Sommer (2.- 27. Juli) 1973 aber platzte der Kessel. Wie jedes Jahr kamen viele türkische Kolleg*innen (ca. 500) ein bis zwei Wochen zu spät aus dem Urlaub zurück. Unbezahlten Urlaub durften die Kollegen nicht nehmen. Teilweise hatten sie Reisezeiten bis zu einer Woche pro Fahrt bis in die entlegenen Dörfer Anatoliens. In Köln lebten sie das ganze Jahr getrennt von ihren Familien. Sie forderten schon seit längerem sechs  Wochen Urlaub. Ford hatte sowieso eine Absatzkrise, reagierte knallhart und feuerte rund 500 Leute.

Das machte nicht nur die Entlassenen und ihre Freunde im Betrieb wütend. Durch die Entlassungen verschärfte sich die Arbeitsbelastung der anderen. Schon seit Anfang des Jahres kam die Diskussion über eine Teuerungszulage immer wieder auf. Träger der Agitation im Betrieb waren die „Kölner Ford Arbeiter“, Zusammenschluss von vor allemder Kölner Sponti-Gruppe „Arbeiterkampf“, der KPD/ML und Einzelnen aus dem Anarcho-Syndikat, GIM, KPD und politisch unorganisierten Arbeiter*innen und die „türkischen Ford Arbeiter“, eine Gruppe unter dem Einfluss der maoistischen “Patriotischen Einheitsfront”. 

Nach dem Urlaub war auch die Lohndiskussion voll im Gange. In der Woche vor dem Streik war auf den Betriebsversammlungen im Hauptwerk und im Ersatzteillager in Merkenich die „60 Pfennig mehr“-Forderung der „Kölner Fordarbeiter“ und der „türkischen Ford Arbeiter“ in mindesten zehn Redebeiträgen propagiert worden. Schon im Mai waren diese Forderungen immer wieder auf Flugblättern im Betrieb angesprochen worden. Ab Dienstag, den 21.8., wurde im Betrieb in den Abteilungen über Streik diskutiert. Am Donnerstag wurden im Werk Streikaufrufe geklebt und ein Flugblatt der “Kölner Fordarbeiter” verteilt, in dem zum Streik für 60 Pfennig mehr und Rücknahme der Entlassungen aufgerufen wurde.

Seitens der “Kölner Fordarbeiter” und den „türkischen Fordarbeitern“ wurde verabredet, den Streik am Montag um 12:15 Uhr im Ersatzteillager in Merkenich in verschiedenen Abteilungen organisiert zu beginnen. Hier waren die beiden Gruppen zusammen organisiert, trafen sich seit einem Jahr regelmäßig und machten Gewerkschaftsarbeit im IGM-Vertrauensleutekörper. Sie hatten schon ein Jahr vorher eine mehrstündige Arbeitsniederlegung gegen eine Verschärfung des Arbeitstempos erfolgreich hinter sich gebracht. Von Merkenich sollte es dann eine Demo zum Hauptwerk nach Niehl geben, um dort mit Beginn der Mittagsschicht den Betrieb lahm zu legen. Doch daraus wurde nichts, denn bereits am Freitag in der Spätschicht begann in der Y-Halle spontan die Arbeitsniederlegung und veränderte alle Planungen der deutschen und türkischen Betriebskader.

Vier Legenden über Entstehung und Verlauf

Bei den Veranstaltungen zum 40 jährigen „Jubiläum“ ging ich noch von drei Legenden aus: Legende 1:
Die KPD/AO (AO = Aufbauorganisation, von den Genoss*innen der konkurrierenden K-Gruppen, auch „liebevoll“ A-Null genannt) stellte in ihrer “Roten Fahne“ großmäulig klar, dass ihre Partei den Streik initiiert und den Verlauf weitgehend bestimmt hätte. 

Legende 2: Vor allem die Geschäftsleitung von Ford behauptete, dass in den Betrieb eingesickerte “kommunistische Chaoten” ihre lieben türkischen Arbeiter zum Streik verführt hätten. Einige der Gemeinten – u.a. auch ich – hörten das insgeheim nicht ungern, sprach das doch für die ungeheuren Fähigkeiten von ca. 30 Menschen, die seit Mitte 1970 sich zumeist aus dem ehemaligen Uni-SDS gezielt in den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital begeben hatten. Legende 3: Von Leuten, die vor allem den Streik von außen erlebt hatten sowie von der Hard-Core-Sponti-Fraktion der Gruppe Arbeiterkampf (der Autor gehörte nicht zu dieser Fraktion, schon vor dem Streik nicht) gab es die Erzählung, dieser Streik sei absolut spontan ohne irgendwelche Planungen entstanden und auch weitgehend spontan verlaufen, wie es auch im Film “Dieser Streik war nicht geplant” beschrieben war.

Zum 50-Jährigen hat der Kölner DGB-Vorsitzende und Historiker Witich Roßmann nach Sichtung der Archive der IG Metall Köln eine weitere Legende geliefert: Dass der Streik schon am Freitag in der Spätschicht und nicht erst wie von „Kölner Ford Arbeiter“ und „Türkische Ford Arbeiter“ geplant am Montag losging, sei einer linken Fraktion des Ford-Vertrauensleutekörper und -Betriebsrats zu verdanken. Sie hätten sich agitierend am Freitagnachmittag in die Produktionshallen begeben und in der Y-Halle die erste Arbeitsniederlegung organisiert. Dort bildete sich dann der erste Streikumzug, der die Kollegen in den anderen Hallen einsammelte. Nachdem am Samstag und Sonntag die gut bezahlten Sonderschichten wieder stattfanden, entglitt den IGM-Aktivisten am Montag die Streiksituation.

Wie immer bei Legenden stimmt daran nicht alles, aber meist ist auch was Wahres dran. Zu Legende 1): Baha Targün, der charismatische Streikführer, der perfekt Deutsch und türkisch ebenso sprach, stand unter dem Einfluss eines studentischen Praktikanten namens Kühne bei Ford, mit dem er eng befreundet war. Kühne war Mitglied der KPD/AO und handelte auch in ihrem Auftrag bei Ford.

Zu Legende 2: Die zum Teil gemeinsamen Treffen der linksradikalen/kommunistischen „Kölner Ford Arbeiter“ und „Türkischen Ford Arbeiter“ hatten schon seit Anfang des Jahres 1973 schriftlich mit Flugblättern und mündlich durch Agitation in den Hallen und Bereichen und mit Reden auf den Betriebsversammlungen für eine Teuerungszulage geworben und zur Durchsetzung für einen Streik plädiert. Durch sie war lange vor den Werksferien der Streik ein Thema im gesamten Werk. Schließlich hatten sie auch einen konkreten Plan für den Streikausbruch entwickelt.

Zu Legende 3: Die Planungen wurden jedoch am Freitag von den Entwicklungen überholt. Auch ab Montag waren beide Organisationen keine echten Akteure mehr im Hauptwerk, anders im Ersatzteillager in Merkenich. Lediglich ein Mitglied der „Kölner Ford Arbeiter“ wurde in die Streikleitung gewählt. Die Besetzungskultur des Werkes entwickelte sich tatsächlich spontan mit allen Vorteilen und Nachteilen spontaner Prozesse.

Zu Legende 4: Was die Vorgänge in der Y Halle angeht, haben unsere Genoss*innen, die dort arbeiteten, in unserem Buch eine andere Version über die Genese der Arbeitsniederlegung dort geliefert. Danach begann der Streik dort durch die spontane Arbeitsniederlegung eines türkischen Kollegen – „von seinen Kollegen recht isoliert und als Kommunist verschrien“. Ihm schlossen sich dann nach und nach andere türkische Kollegen an, auch alle, die unter der Mehrarbeit litten, die durch die Entlassungen entstanden waren. Allerdings haben mir Kolleg*innen aus der W-Halle berichtet, dass dort IGM-Vertrauensleute und einzelne Betriebsräte am Freitagnachmittag für eine Teuerungszulage agitierten und dabei auf die vorangegangenen erfolgreichen wilden Streiks in anderen Betrieben verwiesen.

Resümee

Es war ein Streik in der Automobilindustrie, einem Herzstück bundesdeutscher Kapitalverwertung. Es war ein wilder, überwiegend spontaner Streik, ein brachialer Bruch des Tariffriedens. Was es an Organisierung gab, egal ob vorher geplant oder spontan, kam vielleicht am Anfang auch von einer linken Fraktion der IGM. Danach aber gab es nur noch das vollständige Gegenteil: Der Streik wurde von der Gewerkschaft bekämpft. Es war mehr eine Fabrikbesetzung als ein Streik. Der Streik fand eine frühkapitalistisch anmutende Beendigung durch den Staatsapparat und einen rassistischen Mob aus dem Werk und von außen. Ökonomisch war der Streik eine Niederlage. Aber… und das ist das allerwichtigste Ergebnis: Es war der erste Streik, in dem das neue migrantische Proletariat das Heft sichtbar in der Hand hielt, die damals besonders Prekären und Gedemütigten.

Kölner Veranstaltungsreihe “Streikultur”

Aus dem Ankündigungstext der Veranstaltung zum 50. Jahrestag des Streiks: „Gastarbeiter“, das Wort war eine Verhöhnung: Wir waren keine Gäste. Wir hatten die schlechteste und schwerste Arbeit, wir lebten zu sechst in einem Zimmer mit Etagenbetten. Behandelt man so seine Gäste? Der Streik hat uns Respekt eingebracht und war ein großer Schritt in Richtung Gleichberechtigung. Das wollen wir feiern! Im 50. Jahr des Streiks – mit unseren Kindern und Enkelkindern. Und wir wollen uns an der aktuellen Diskussion um das Auto im Rahmen „Klimabewegung trifft Gewerkschaften“ zum Thema „Mobilitätswende und Individualverkehr“ beteiligen.

Zum Autor

Reiner Schmidt, OStR i.R., Jg. 1946. Seit 1966 in Köln. Überzeugter linksradikaler Vereinsmeier. Stationen: Basisgruppe Volkswirtschaft an der Uni Köln, SDS Köln, Gruppe „Arbeiterkampf“ – von 1971 bis zum Ford Streik 1973, Picker im Ersatzteillager bei Ford Merkenich, beim Streik Mitglied der Streikleitung, Kommunistischer Bund (KB), Bunte Liste wehrt Euch, „Kölner Alternative“ – für diese Mitglied der BV Innenstadt 1979 bis 1984, Ini: „Bürger beobachten die Polizei“, Kölner Südafrikakomitee, Mitglied im Polizeibeirat und Messeaufsichtsrat auf grünem Ticket, „Neues linkes Plenum Köln“, „Radikale Linke Köln“  „bundeswehr wegtreten!“. Heute ruhendes Mitglied (aus privaten Gründen“) von „Interventionistische Linke (IL)“.