Ukraine: Grausame Kämpfe, wenig Bewegung

Fast täglich bringen deutsche Medien Beispiele für Erfolge, doch nach drei Monaten Sommeroffensive ist der ukrainischen Armee kein operativer Durchbruch gelungen. Die Geländegewinne liegen überwiegend im Vorfeld der russischen Befestigungen. Die Washington Post zitiert am 17. August Geheimdienstquellen, nach denen die Offensive nicht das Ziel erreichen wird, die Landbrücke zur Krim einzunehmen.

Von Claus Ludwig, Köln

Die BILD-Zeitung verkündete Mitte August im Stil des Oberkommandos der Wehrmacht “Deutsche Marder durchbrechen Russen-Verteidigung”. Andere Medien berichten nicht so enthusiastisch über den Einsatz der Schützenpanzer. So heißt es, die Ukraine habe mit der 82. Luftlandedivision, die mit “Mardern” und britischen Kampfpanzern “Challengern” ausgerüstet ist, bereits die letzte für die Offensive aufgestellte Reserve an die Front geworfen. Gleichzeitig mit dem ukrainischen Vorrücken bei Robotyne (Oblast Cherson) und Uroschajne (Oblast Saporischija) laufen russische Entlastungsangriffe bei Kupjansk (Oblast Charkiw). Mitte August wurden die Evakuierung von Kupjansk angeordnet und ukrainische Verstärkungen an diesen Frontabschnitt geschickt.

Die Meldungen in den Nachrichten klingen technisch und abstrakt. Doch es geht um große Mengen Toter und Verwundeter. Das ZDF berichtet, dass die Zahl der Särge steigt, die den Familien übergeben werden. Auf den Friedhöfen der ukrainischen Städte wehen immer mehr Fahnen, sie markieren die Gräber getöteter Soldat*innen. Die meisten Opfer seien zwischen 20 und 30 Jahren, eine ganze Generation junger Männer drohe, vernichtet zu werden. Über die russischen Verluste gibt es wenig verlässliche Zahlen, aber es ist davon auszugehen, dass sie ähnlich hoch sind wie die der ukrainischen Einheiten.

Veränderte Stimmung

Noch immer sieht wahrscheinlich die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung den militärischen Sieg als einzigen Weg zur Befreiung, wenig verwunderlich angesichts der Besatzung und der russischen Angriffe auch auf zivile Ziele. Doch der Enthusiasmus scheint zu bröckeln. Junge Männer versuchen, sich der Einberufung zu entziehen, weil sie Angst haben, an der Front verheizt zu werden. Rekrutierungs-Teams fangen zum Teil Menschen gewaltsam auf der Straße ab. Im August startete eine neue Werbekampagne, mit der erfahrene Soldat*innen junge Leute zur Armee holen sollen. Selenskyj sah sich gezwungen, die Bezirkschefs sämtlicher Rekrutierungsbüros abzuberufen, denn durch Bestechungsgelder konnten sich wohlhabende Wehrpflichtige freikaufen. 

Schon vor der Offensive waren viele ukrainische Einheiten ausgedünnt, die getöteten erfahrenen Frontkämpfer*innen wurden durch Rekruten ersetzt. Ein Kommandeur bei Bachmut schätzte, dass aufgrund der hohen Verluste seiner Einheit vier von fünf Soldaten neu rekrutiert seien: “Das sind Zivilisten ohne Erfahrung. Von zehn Leuten können wir froh sein, wenn drei kämpfen können, (…) viele (…) geraten in Panik.”

Die Anklage gegen Juri Scheliaschenko zeigt die wachsende Nervosität der Regierung Selenskyj. Dem Geschäftsführer der “Ukrainischen Pazifistischen Bewegung” wird „Rechtfertigung der russischen Aggression“ vorgeworfen, obwohl er den russischen Angriff klar ablehnt, sich aber für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und eine Verhandlungslösung ausspricht.

Die Linke in der Ukraine

Nach US-Berichten sollen auf beiden Seiten 500.000 Soldat*innen gefallen oder verwundet worden sein, die ukrainische Armee soll 70.000 Tote erlitten haben. Natürlich wollen die Menschen ihre Unabhängigkeit verteidigen, doch die Frage wird lauter, ob der korrupte ukrainische Staat es wert ist, dass dafür Hunderttausende sterben, zumal ein militärischer Sieg nicht sichtbar ist. Die Klassenwidersprüche in der Ukraine wurden durch den Einmarsch russischer Truppen und die Wucht der nationalen Einheit überdeckt. Doch jetzt kollidiert das Interesse der arbeitenden Klasse der Ukraine, zu überleben, ohne zerstörte Städte und ohne Verstümmelungen und Traumata, mit dem Interesse der ökonomisch Mächtigen im Land und deren Staatsapparat, diesen Krieg um jeden Preis gewinnen zu wollen.

Teile der ukrainischen Linken, zum Beispiel die in westlichen linken Medien stark vertretene Gruppe Sotsyalni Rukh (Soziale Bewegung), positionieren sich als linker Flügel des Patriotismus und vertreten faktisch die These, dass die Interessen der arbeitenden Klasse nur eingebracht werden können, wenn man sich der Kriegsstrategie von Regierung und Kapital unterordnet, samt Zustimmung zu NATO-Waffenlieferungen. Ihr “Sozialpatriotismus” wird im Abnutzungskrieg und den gescheiterten Offensiven zermahlen.

Die ISA (International Socialist Alternative) hat hingegen eine internationalistische Position eingenommen: gegen den Angriff Russlands, für das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Bevölkerung auf Grundlage der Interessen der Arbeiter*innenklasse und daher gegen die Regierung Selenskyj und sein Regime der Oligarch*innen, gegen die Einmischung der NATO.

Eine Politisierung der Arbeiter*innenbewegung und eine neue Linke in der Ukraine werden nicht aus der Unterstützung für Selenskyj entstehen, sondern aus der Opposition gegen den Krieg der Herrschenden. Es gilt, eine unabhängige Klassenpolitik zu entwickeln und Möglichkeiten zu finden, wie der Widerstand sowohl gegen die russische Besatzung als auch gegen die Regierung Selenskyj mit den Methoden der arbeitenden Klasse geführt werden kann, mit Streiks, gewerkschaftlicher und politischer Organisierung, ohne die Vernichtung einer ganzen Generation junger Ukrainer*innen in einem Krieg, der militärisch nicht gewonnen wird.

Westliche Waffen

Die nächste Runde westlicher Waffen kommt, darunter wahrscheinlich deutsche Taurus-Marschflugkörper zur Ergänzung der Bestände der britischen Stormshadows und französischen Scalps, zudem beginnt die Ausbildung von Pilot*innen und Techniker*innen an den F-16-Kampfflugzeugen. Inzwischen sagen auch westliche Militär-Expert*innen, dass diese Waffen keine Game Changer werden, sie verschieben die Gewichte im Abnutzungskrieg nur graduell.

Die ukrainischen Möglichkeiten sind vor allem durch den Mangel an Soldat*innen begrenzt. Ein umfassender Sieg der ukrainischen Armee ist nicht per Abnutzung und Materialschlacht möglich, sondern nur, wenn die russischen Soldat*innen aufgrund schlechter Kampfmoral den Kampf verweigern und die Front zusammenbricht. Die Kriegsführung der Regierung und der NATO wirken diesem Prozess entgegen. Die umfassende Unterordnung unter die NATO, die Angriffe auf die Krim, die von der überwiegenden Mehrheit der Russ*innen als russisch gesehen wird, die Angriffe auf Belgorod und die Drohnen gegen Moskau spielen dem Putin-Regime in die Hände, weil es dessen Erzählung vom umfassenden Angriff des Westens auf Russland glaubwürdiger erscheinen lässt. Der Kampfeswillen der russischen Einheiten dürfte dadurch gestärkt werden, obwohl dieser bereits massiv angeschlagen war durch den verbrecherischen Charakter des Angriffes, die Niederlagen, die bürokratische Unfähigkeit und das zynische Opfern Zehntausender Soldat*innen.

Internationalismus & Antimilitarismus

Wir schlagen vor, dass sich die Soldat*innen beider Seiten gegen ihre jeweiligen Regime richten und sich weigern, sich gegenseitig abzuschlachten. Die Kampfhandlungen müssen sofort eingestellt werden, die Einheiten sich von der Front zurückziehen. Die ukrainische Bevölkerung hat ein Recht auf Selbstbestimmung ohne russische Einmischung. Die Menschen auf der Krim, in Luhansk und Donezk müssen demokratisch entscheiden können, wohin sie gehören wollen, unter Wahrung der Rechte der Minderheiten.

Wir treten in den NATO-Ländern gegen die Waffenlieferungen, die Militarisierung der Gesellschaft und die Vorbereitung auf kommende Kriege ein. Das Putin-Regime muss durch eine Bewegung der arbeitenden Menschen gestürzt werden, Verbindungen zwischen der russischen und der ukrainischen Arbeiter*innenklasse sind aufzubauen. Eine friedliche Welt ist im Kapitalismus nicht denkbar, das System von Konkurrenz und Ausbeutung wird aggressiver, befördert Stellvertreter-Kriege bis hin zur offenen Konfrontation der Großmächte im Neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China. Ein militärischer Sieg einer der beiden Seite in der Ukraine wäre kein Sieg für die Arbeiter*innenklasse, sondern lediglich ein Zwischenschritt zu neuen Kriegen. Es kann kein Frieden mit diesem System geben.

Bild: Ausschnitt aus https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4f/2022_Russian_invasion_of_Ukraine.svg, Viewsridge, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons