Am 11. September 1973 stürzte ein CIA-gestützter Militärputsch die demokratisch gewählte Regierung des Sozialisten Salvador Allende. Damit wurde Allendes Idee eines friedlichen Weges zum Sozialismus mittels Stimmzettel begraben. Während Linke und Gewerkschafter*innen inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden oder ins Exil gehen mussten, baute die Militärregierung Chile zum neoliberalen Musterland aus – sehr zur Freude des internationalen Kapitals.
von Marcus Hesse, Aachen
Chile hatte keine Tradition von Militärregierungen. Doch sozial war es ein zutiefst gespaltenes Land: In der Arbeiter*innenklasse und armen Bauernschaft grassierte 1970 der Hunger, gerade unter der Landbevölkerung und der indigenen Minderheit. Die Kindersterblichkeit lag bei 30%, 47% lebten unterhalb der Armutsgrenze. 7% der besitzenden Landbevölkerung besaßen als Großgrundbesitzer*innen 78,6% des Landes. Chiles Industrie war im Besitz weniger Familien und der besonders einträgliche Kupferbergbau war in der Hand von US-Monopolen.
Die chilenische Arbeiter*innenbewegung verfügte über starke Traditionen. Die Kommunistische Partei war eine der ältesten in Lateinamerika und Allendes Partei, die Sozialistische Partei, war in den 1930ern als linkssozialistische Kraft entstanden, die nicht mit der europäischen Sozialdemokratie vergleichbar ist. 1938-46 war die Linke an der Macht, aber ihr Programm des Bündnisses mit dem “fortschrittlichen” Bürgertum gegen den Faschismus (“Volksfrontpolitik”) ließ grundlegende Verbesserungen für die Massen vermissen. Im Kalten Krieg machten Chiles Konservative das Land zu einer Bastion des Antikommunismus. Im Rahmen der “Allianz für den Fortschritt” betrieben Chiles Regierende eine Politik an der Seite der USA.
Begrenzte Reformen scheitern
Versuche von oben, im Rahmen gemäßigter Maßnahmen, den Zuständen Abhilfe zu verschaffen, wie unter dem Christdemokraten Eduardo Frei in den 1960ern, scheiterten an dessen Unwillen, die Besitzverhältnisse wirklich anzutasten. Frei verstaatlichte 51% des Kupferbergbaus und führte eine moderate Landreform ein – jedoch gegen hohe Entschädigungen. Ziel war es, eine Radikalisierung von unten durch moderate Reformen zu bremsen. Wo Aktivist*innen an der Basis die Landreform umzusetzen versuchten, gerieten sie mit den Großgrundbesitzern und der Staatsmacht in Konflikt. Am Ende ging Frei brutal gegen eine Streikbewegung vor.
Inspiriert von der kubanischen Revolution kam es in den 1960er Jahren zu einem Erstarken der politischen Linken und zur Radikalisierung der Jugend. Ende der 1960er war die chilenische Linke vor allem durch drei Kräfte geprägt: Die Sozialistische Partei Allendes, die Kommunistische Partei und als dritte Kraft die Bewegung der revolutionären Linken (MIR), die sich 1965 gegründet hatte und im Gegensatz zu den anderen drei Kräften für eine bewaffnete Eroberung der Macht aussprach.
Im MIR, der von radikalisierten studentischen Kreisen gegründet wurde, kamen Anhänger*innen der Ideen Ché Guevaras ebenso wie Maoist*innen und Trotzkist*innen zusammen. Radikalisierte Jugendliche strömten ebenso in die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei, deren Jugendverbände links von den beiden Parteien standen. Selbst unter christlich orientierten Kräften, so in der Jugend der Christdemokratie, gab es eine Wendung nach links.
Allende Presidente – Hoffnung für die Massen
Im September 1970 gelang es dem Sozialisten Salvador Allende, mit einem Bündnis aus KP und kleineren Linken, der Unidad Popular (Volkseinheit), an die Regierung zu kommen. Der Schriftsteller Pablo Neruda, der Kandidat der KP, hatte zu Gunsten Allendes auf seine Präsidentschaftskandidatur verzichtet, der MIR blieb dieser Koalition fern. Mit 36,3% war es ein sehr knapper Wahlsieg gegenüber dem Konservativen Alessandrini, der in dem stark polarisierten Land 34,9% der Stimmen bekam. Allende hatte einige Jahre zuvor prozentual mehr Stimmen geholt.
Das Ziel der Unidad Popular (UP) war, auf dem Weg der Verfassung und ohne Revolution, auf friedlichem Wege, eine sozialistische Gesellschaft in Chile zu errichten. Bildung und Gesundheitsversorgung wurden kostenlos angeboten, Trupps von Lehrer*innen zogen aufs Land, um Alphabetisierungsmaßnahmen durchzuführen. Mieten wurden gedeckelt und gestundet, es gab kostenlose Schulspeisungen. Diese radikalen Maßnahmen lösten enorme Begeisterung und Aktivität bei den arbeitenden und armen Massen aus. Allendes Reformen wurden von zahlreichen Künstler*innen, vor allem linken Musiker*innen begleitet, die in Betrieben, an Universitäten und in Landwirtschaftskollektiven auftraten, wie Victor Jara, Isabel Parra, Rolando Alarcón, Inti-Illimani, Quilapayún. Letztere schrieben das Lied “El Pueblo Unido”, das zur Hymne der Unidad Popular wurde.
Die UP verfolgte das Ziel der Verstaatlichung der gesamten Großindustrie, der Banken und des Außenhandels. Besonders der lukrative Bergbau sollte den Chilen*innen zu Gute kommen. Das erregte vom ersten Tag an den Ärger von US-Konzernen wie ITT, die billiges chilenisches Kupfer haben wollten und frühzeitig rechte Kräfte in Chile finanziell unterstützten. Ab 1971 begann die Regierung, Großgrundbesitzerfamilien zu enteignen, allerdings auch gegen Entschädigungen.
All diese Maßnahmen setzten die Massen in Bewegung, die oftmals weiter gingen, als es der Regierung lieb war. Auf dem Land führten Landarbeiter*innen und Landlose, besonders Indigenas der Mapuche-Nation, aktiv Besetzungen durch. In der Industrie organisierten sich Beschäftigte in Komitees gegen die Sabotage der Unternehmerschaft. Zur Unterstützung der Maßnahmen der UP bildeten sich Rätestrukturen, die “Cordones Industriales”. Sie wurden zum Motor der Radikalisierung und Zentren der Selbstorganisation. Viele Belegschaften besetzten Betriebe und übernahmen sie in Eigenregie. Leider fehlte eine nationale Koordination dieser Rätestrukturen.
In den verstaatlichten Bereichen experimentierte die UP-Regierung mit modernsten Methoden, mit Kybernetik und Einsatz von Computertechnik, um optimale Wirtschaftsplanung nach den Bedürfnissen der breiten Masse sicherzustellen. Natürlich konnte das nur in Ansätzen versucht werden, da Chile letztlich eine “Mischwirtschaft” blieb, bei der große Teile in privaten Händen blieben, darunter fatalerweise das öffentliche Verkehrswesen. Weit weniger progressiv war die chilenische Linke damals gegenüber der sich damals formierenden Schwulenbewegung, die ihre Kundgebungen für gleiche Rechte unabhängig organisieren musste, ohne von der UP oder anderen Kräften der Linken Wohlwollen, geschweige denn Support zu erhalten. Grob lässt sich sagen: Der MIR hatte besonders unter den Mapuche und in den Slums der Städte großen Einfluss, während die industrielle Arbeiter*innenklasse mehrheitlich Allendes Sozialistischer Partei und der KP folgten. Leider spielte die stalinistische KP eine besonders bremsende Rolle innerhalb der UP und diffamierte radikalere Kräfte als “Agenten” und “Provokateure”.
Die Konterrevolution formiert sich
Das Bürgertum und mehrheitlich konservative Mittelschichten gingen gegen Allendes Reformen vor. Im Parlament – wo die Rechte nach wie vor noch die Mehrheit hatte – wurden radikalere Maßnahmen blockiert. Die konservative Justiz bezeichnete viele progressive Reformpläne des Präsidenten als nicht verfassungskonform. Die konservativen und rechten Kräfte nutzten damit die Gewaltenteilung, um Vorhaben des linken Staatschefs zu verhindern. Die Christdemokratie spielte die Rolle eines parlamentarischen Bremsklotzes.
Die Privatwirtschaft begann aktive Wirtschaftssabotage, indem sie Waren hortete, Lieferketten stoppte und Preise steigerte. Es kam zu einer galoppierenden Inflation und Warenknappheit, die auch die Arbeiter*innen spürten. Hausfrauen wohlhabender bürgerlicher Stadtteile organisierten Demos mit leeren Kochtöpfen gegen die “sozialistische Misswirtschaft“. Private Transport- und Busunternehmer organisierten “Unternehmerstreiks”. Die Cordones versuchten, die Sabotage der Unternehmer*innen zu brechen und forderten Preiskontrollen.
Die korrupte Gewerkschaftsführung im verstaatlichten Kupferbergbau organisierte reaktionäre Streiks gegen die Regierung. Das führte zur Spaltung innerhalb der Arbeiter*innenklasse. Radikalisierte Jugendliche aus dem (Klein-)Bürgertum traten vielfach in die faschistische Straßenkampf-Miliz “Patria y Libertad” (“Vaterland und Freiheit”) ein, die sozialistische Aktivist*innen gewaltsam angriff. Grundbesitzer und Unternehmer gingen mit privaten bewaffneten Milizen gegen Betriebs- und Landbesetzungen vor.
Die Cordones forderten von Allende Waffen, um sich gegen die konterrevolutionären Kräfte zu verteidigen, doch Allende lehnte das ab. Im letzten Jahr der Regierung Allendes kam es auch zu ersten Konflikten zwischen Regierung und radikalisierten Arbeiter*innen und Landbesetzer*innen, viele davon Mitglieder des MIR und der Jugendorganisationen von Allendes Sozialistischer Partei, die weiter gingen, als es die UP wollte. Allende setzte auf die Loyalität von Armee und Polizei, trat noch demonstrativ mit Generälen wie Pinochet auf. Um die reaktionären Militärs ruhig zu stellen, berief er hochrangige Offiziere in sein Kabinett.
Das änderte sich bis zum Schluss nicht, auch nicht, nachdem im Juni 1973 ein Putschversuch vorerst durch loyale Truppenteile gestoppt werden konnte. Das rechte und bürgerliche Lager versuchte eine Doppelstrategie aus Sabotage von Gesetzen im Rahmen der staatlichen Ordnung und Gewalt auf den Straßen. Die vereint gegen Allende agierende Rechte organisierte eine Kampagne für ein Referendum zur Abwahl Allendes, dem nur der Putsch der Streitkräfte im September zuvor kam. Die Moskau-treue KP und auch Berater*innen aus Kuba, darunter Fidel Castro persönlich, bestärkten Allende in seinem Kurs einer “Revolution mit dem Stimmzettel” ohne Volksbewaffnung und Zerschlagung des alten Staatsapparates.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz konnte die Unidad Popular bei den Parlamentswahlen Anfang 1973 noch 44% der Stimmen holen. Bis zu 700.000 Menschen gingen für Allende auf die Straße, auf Demonstrationen wurde die Forderung “Gebt uns Waffen!” immer lauter.
Militärputsch und die Folgen
Am Morgen des 11. September 1973 putschte das Militär, ab 11:55 Uhr bombardierten die Putschisten Allendes Präsidentenpalast. Dabei wurde Allende ermordet, nachdem er sich in bewegenden Worten in einer Rundfunkansprache an die Massen gewandt hatte. Trotz des hohen Organisationsgrades standen Chiles Proletariat und die arme Bauerschaft dem Militär unbewaffnet und weitgehend hilflos gegenüber. Schon am ersten Tag begannen Massenverhaftungen, organisiert durch Militär und Polizei. Schätzungen nach wurden bis zu 13.000 Sozialist*innen, Kommunist*innen und Gewerkschafter*innen inhaftiert, viele “verschwanden” in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren. Etwa 2000 von ihnen wurden erwiesenermaßen ermordet. Andere erlebten Inhaftierungen und schwerste Folterungen. Das Putschistenregime hatte dazu eigene Lager errichtet, das große Stadion von Santiago wurde in den ersten Tagen zum Foltergefängnis umfunktioniert. Hier wurde unter anderem der kommunistische Sänger Victor Jara nach schweren Misshandlungen ermordet.
Linke Aktivist*innen mussten ins Exil, darunter 4000 in die BRD und über 2000 in die DDR, andere gingen in den Untergrund. Dass die CIA und das Pentagon rechte Gruppen in Chile und auch den Militärputsch finanziell und logistisch stützten, war schon damals ein offenes Geheimnis. Auch der deutsche BND war – anders als die damals SPD-geführte Bundesregierung – eingeweiht. Dieser Zusammenhang ist eindeutig bewiesen. Auch Konzerne wie ITT trugen dazu bei, den Putsch zu ermöglichen.
Pinochet sollte bis 1990 als Diktator Chile regieren. Unter seiner Regierung wurde Chile zum neoliberalen Musterstaat mit privatisiertem Bildungs- und Gesundheitssystem und einer maximal deregulierten Wirtschaft. Das ist noch bis heute so. Zu diesem Zweck wurden in den 1970ern die “Chicago Boys” um den neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman ins Land geholt. Pinochet und seine Militärclique wurden für ihre Verbrechen niemals zur Rechenschaft gezogen. Chiles Übergang zur bürgerlichen Demokratie wurde mit einer Generalimmunität für alle Funktionsträger und Täter des Regimes erkauft. Die sozialen Verheerungen, die die Konterrevolution von 1973 über Chile brachte, wirken noch bis heute.
Mit Allendes Tod und dem zahlreicher anderer Sozialist*innen in Chile wurde eine Illusion begraben: Die Illusion, dass die herrschende Klasse es jemals kampflos zulassen könnte, dass man sie entmachtet und enteignet und ausgehend davon, die Illusion, dass der Weg zum Sozialismus ohne Bewaffnung der Arbeiter*innenklasse und bei Beibehaltung des alten Staatsapparates denkbar sei.
Zeitgenössische Zitate:
„I don’t see why we need to stand by and watch a country go communist because of the irresponsibility of its own people.“ Henry Kissinger, Chefberater des US-Präsidenten, am 27. Juni 1970 und natürlich auch Vietnamkriegsverbrecher und Karlspreisträger der Stadt Aachen
„Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang.“ Franz Josef Strauß, CSU-Politiker und späterer Kanzlerkandidat, im Bayernkurier am 22.09.1973
„Die Ereignisse in Chile haben bewiesen, dass Marxismus und freiheitlich-demokratische Grundsätze unvereinbar sind.“ Karl Carstens, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, am 12.09.1973
„Soweit wir Einblick bekommen haben, bemüht sich die Militärregierung in optimalem Umfang um die Gefangenen. Die Verhafteten, die wir sprachen, haben sich nicht beklagt.“ Bruno Heck, Generalsekretär der CDU, nach seiner Rückkehr aus Chile am 18.10.1973 über die Lage der im Stadion von Santiago de Chile gefangenen und gefolterten Chilen*innen: (Süddeutsche Zeitung, 18.10.1973).
„Jetzt geht es wieder aufwärts.“ DIE WELT am 29.09.1973
„Wer sich einigermaßen in der chilenischen Geschichte auskennt, kann sogar für das Vorgehen der Streitkräfte ein gewisses Maß an Verständnis aufbringen …“ Deutschlandfunk am 13.09.1973
„Jetzt hat die Armee nicht mehr länger stillgehalten. Drei Jahre Marxismus sind ihr genug.“ Bild-Zeitung am 12.09.1973
„Im Augenblick der höchsten Gefahr konnten sich die Streitkräfte ihrer Verantwortung nicht mehr länger entziehen. Sie können nur obsiegen, wenn sie sofort und mit aller Schärfe reinen Tisch machen.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 12.09.1973
„Chile – jetzt investieren.“ Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 29.09.1973
„Putsch in Chile ist für Banken positiv – In Südamerika kann wieder investiert werden.“ Gerhard Liedtke, Dresdner Bank AG, am 08.10.1973