Von 1979 bis 1983 war die Friedensbewegung gegen den “NATO-Doppelbeschluss”, die Stationierung neuer US-Atomraketen in Europa, dynamisch und riesig. Über hunderttausend Menschen waren in örtlichen Initiativen aktiv. Über eine Million beteiligten sich an Aktionen. 68% lehnten die Atomraketen ab. Die Bewegung trotzte den Anfeindungen der regierenden Parteien und vieler Medien, sie wäre “von Moskau gesteuert”. Heute wächst die Gefahr von Kriegen und wir erleben nicht einmal den Ansatz einer Bewegung. Was war damals anders, warum war die Friedensbewegung der frühen 1980er so stark?
Von Claus Ludwig, Köln
Ein zentraler Faktor war die einfache Tatsache, dass sich im Kalten Krieg zwei hochgerüstete militärische Blöcke gegenüberstanden, die weiter aufrüsten und eine angebliche “Raketenlücke” schließen wollten. Mit der geplanten Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern sowie Überlegungen in Richtung atomarer Gefechtsfeldwaffen und Neutronenbombe, die “nur” Menschen töten, aber die Infrastruktur schonen sollte, versuchten vor allem US-Militärstrateg*innen, den durch die Abschreckung der mehrfachen planetaren Vernichtung (“Overkill”) eingefrorenen Konflikt real führbar zu machen.
Der zerstörerische Charakter der Kriegsvorbereitungen, die trotz der Entspannung der 1970er fortgesetzt wurden und sogar eskalierten, war offensichtlich. Für die Friedensbewegung war es somit möglich, sich glaubhaft gegen die Aufrüstung beider Lager zu positionieren. Gleichzeitig fokussierte sie ihre konkreten Forderungen auf die “eigene” Seite und lehnte die Stationierung der Raketen ab.
Die Kohl-Regierung versuchte, die Friedensbewegung als “pro-sowjetisch” darzustellen, CDU-Generalsekretär Geißler nannte die SPD – die nach und nach von ihrer Zustimmung zur Stationierung abrückte – “die fünfte Kolonne der anderen Seite”, aber dies verfing bei vielen Menschen nicht. Zu eindeutig war die aggressive Rolle der NATO und der rechten Reagan-Regierung in den USA.
Die große Mehrheit der Friedensbewegung wandte sich auch gegen die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen. Gleichzeitig spürten viele Aktive sowie breitere Schichten der Jugend und der arbeitenden Klasse, dass die Sowjetunion und der Warschauer Pakt nicht so gefährlich waren, wie sie von der NATO dargestellt wurden. Den herrschenden stalinistischen Cliquen in Osteuropa ging es nicht um Expansion von Absatzmärkten und Herrschaftsbereich, sondern um die interne Stabilisierung. Die bürokratischen Planwirtschaften hatten keinen imperialistischen Charakter. Die Aufrüstung war für die Sowjetunion kein gutes Geschäft, sondern eine massive Verschwendung von Ressourcen, welche den wirtschaftlichen Verfall beschleunigte. Der Warschauer Pakt war stärker an friedlichen Beziehungen und einem Ende des Rüstungswettlaufs interessiert als die NATO-Staaten.
Bizarres Szenario
Die Bundeswehr hatte 495.000 Mann unter Waffen, hauptsächlich Wehrpflichtige. Uniformen waren im Alltag gegenwärtig. Ein Zusammenstoß zwischen den Blöcken würde auf deutschem Boden ausgetragen werden, laut US-Strategen mit einem sowjetischen Panzervorstoß durch den “Fulda Gap” Richtung Frankfurt. In der osthessischen Tiefebene würde sich entscheiden, ob der Dritte Weltkrieg konventionell begrenzt oder nuklear ausgetragen würde. Dieses bizarre Szenario bildete den Hintergrund der massiven Stimmung gegen die erneute Aufrüstung und befeuerte die Angst vor einem als wahnwitzig wahrgenommen Krieg, ebenso die Angst vor einer Eskalation aus Versehen – die, so stellte es sich später heraus, nicht unbegründet war.
Begünstigt wurde die Bewegung auch dadurch, dass, anders als heute, die politische Lage durch die Blockkonfrontation stabiler und überschaubarer war und Themen über mehrere Jahre die öffentliche Diskussion beherrschten. Die Bewegung hatte Zeit, sich geduldig aufzubauen und den Dialog mit der Bevölkerung zu entwickeln. Auf dem Höhepunkt zwischen 1981 und 1983 waren nicht nur Hunderttausende auf Demos, sondern auch viele Zehntausend in lokalen Friedensbündnissen organisiert, sowohl in Groß- und Kleinstädten als auch in ländlichen Regionen.
Auch innerhalb der Friedensbewegung der 1980er gab es Abgrenzung und öffentliche Distanzierung. Doch unter dem Strich ergänzten sich die verschiedenen Aktionsformen wie die großen Demos und Menschenketten, die stark von christlich-pazifistischen Methoden geprägt waren, die Aktionen zivilen Ungehorsams wie die Blockaden vor dem US-Atomwaffenstützpunkt in Mutlangen (Baden-Württemberg) und dem Bremerhavener Hafen sowie die militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei seitens autonomer und antiimperialistischer Gruppen wie im Juni 1983 in Krefeld beim Besuch des US-Vizepräsidenten Bush. Sowohl friedliche als auch militante Aktionen zogen jeweils unterschiedliche Schichten an und schreckten nicht diejenigen ab, welche die jeweils andere Aktion kritisierten.
DKP organisiert und bremst
Eine wichtige Rolle in der Bewegung spielte die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) mit ihrer Jugendorganisation SDAJ und Vorfeldorganisationen wie der Deutschen Friedensunion (DFU). Die DKP war bei Wahlen irrelevant, aber hatte rund 40.000 Mitglieder. Sie war maßgeblich dafür verantwortlich, den “Krefelder Appell” gegen die NATO-Nachrüstung zu verfassen und zu verbreiten. Bis 1983 unterschrieben vier Millionen den 1980 gestarteten Appell. Die Mitglieder DKP waren in vielen Friedensinitiativen aktiv, oft an vorderster Stelle und bildeten einen Teil des organisatorischen Rückgrats der Bewegung.
Die DKP trat für einen Minimalkonsens in der Bewegung ein und lehnte weitergehende Ideen wie den Austritt Deutschlands aus der NATO und die Auflösung der Blöcke ab. Den Vorschlag des damaligen saarländischen SPD-Chefs Lafontaine, die Gewerkschaften sollten die Möglichkeit eines Generalstreiks gegen die Stationierung diskutieren, griff sie nicht auf. Sie setzte sich für die Einbeziehung der Kirchen und liberaler Kräfte in die Bewegung ein. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass in so manchen lokalen Friedensbündnissen die Mitglieder der damals noch jungen grünen Partei links von der DKP standen und zusammen mit linksradikalen Gruppen und autonomen Kräften radikalere Forderungen vorschlugen oder sich weigerten, sich von militanten Aktionen zu distanzieren.
Mit dieser Linie orientierte sich die DKP an den außenpolitischen Interessen der DDR und der Sowjetunion. Ihr Fokus lag auf einer Verhandlungslösung zwischen den Blöcken, welche den Druck des für die Sowjetunion finanziell ruinösen Rüstungswettlaufs verringern sollte.
Die Mehrheit reicht nicht
Nach Umfragen waren 68% der Westdeutschen gegen die Raketenstationierung. 71% befürworteten eine Volksbefragung. Doch am 22. November 1983 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der im März desselben Jahres gewählten Koalition aus CDU/CSU und FDP die Stationierung in US-Basen auf deutschem Boden. Diese begann am 10. Dezember. Die Friedensbewegung blieb – lokal unterschiedlich – noch bis 1986/87 mobilisierungsfähig, aber befand sich seit dieser Niederlage in einem Rückzugsgefecht. Die erneute Entspannung unter Gorbatschow ab 1986 und die Auflösung des Warschauer Paktes Anfang der 1990er führten zu ihrem Ende. Viele Aktive der 1980er nahmen an den starken Antikriegsproteste gegen die US-geführten Angriffe auf den Irak 1991 und vor allem 2003 teil, im Kern waren diese jedoch von den nachfolgenden Generationen getragen, die keine direkte Verbindung zur Bewegung hatten.
Friedensbewegung heute
Die heutige Friedensbewegung mobilisiert örtlich höchstens einige hundert Menschen, ihre größte Aktion war die von Wagenknecht und Schwarzer mobilisierte Demonstration Anfang März in Berlin, zu der bis zu 20.000 Menschen kamen. Der Kern besteht aus Menschen, die schon Anfang der 1980er gegen die Raketenstationierung aktiv waren und entsprechend Rentner*innen sind oder kurz davor.
Das zentrale Problem ist jedoch nicht das biologische Alter der Aktiven, sondern ihre politische Verstaubheit. Viele Slogans recyceln die Inhalte der 1980er. Die Forderungen nach Diplomatie und Verhandlungen sind moralisch legitim, natürlich wäre es besser, wenn die Knochenmühle in der Ukraine nicht so viele junge Menschen zermahlen würde. Aber diese Slogans sind strategisch und taktisch hilflos.
Damals wie heute erleben wir eine Konfrontation konkurrierender Blöcke. Doch im Unterschied zu den 1980ern gibt es keine Sowjetunion, welche die kapitalistische Konkurrenz nicht auf die Spitze trieb, sondern ein reales Interesse an Entspannung hatte. Stattdessen erleben wir einen aufgestachelten russischen Imperialismus, der von der NATO passiv-aggressiv in die Ecke gedrängt wurde und fürchtet, seine Peripherie zu verlieren. Wir erleben eine riesige Welle der Aufrüstung in allen Lagern und eine Zuspitzung des Konkurrenzkampfes und Märkte, Rohstoffe und Einflusssphären sowohl im Pazifik als auch in Osteuropa und Westafrika.
Noch zwei Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine behauptete die LINKE-Abgeordnete Sevim Dagdelen, eine häufige Rednerin auf Friedensdemos, dass Berichte über den bevorstehenden Einmarsch auf den “Lügenmärchen der US-Geheimdienste” basieren würden. Eine solche Verwechslung der Sowjetunion mit dem zu kurz gekommen russischen Oligarchen-Kapitalismus ist häufiger zu finden, bei einigen explizit, bei anderen kommen ähnliche Einschätzungen unterschwellig durch.
Dieser Unwille, sich klar gegen alle imperialistischen Lager und gegen den Kapitalismus auszusprechen und die Begrenzung der eigenen Forderungen auf einen diplomatisch ausgehandelten Waffenstillstand begrenzen auch die Wirksamkeit der Friedensbewegung. Es ist möglich, dass die Stimmung gegen Waffenlieferungen und Militarisierung in 2024 oder 2025 wächst, aber die politische Schwäche der vorhandenen lokalen Friedensgruppen führt zu der Gefahr, dass das nicht ausreichend in Aktionen umgesetzt werden kann.
Disclaimer: Wenn wir an dieser Stelle von Friedensbewegung reden, beinhaltet das nicht faschistische, rechtspopulistische oder Pro-Putin-Kräfte, die sich das Label anheften, um ihre im Kern militaristischen Inhalte zu tarnen. Auch von ukrainischen Gruppen organisierte Demos für mehr Waffen, die meist von etablierten Parteien unterstützt werden, fallen nicht unter diese Definition. Wir meinen damit Gruppen wie zum Beispiel das Kölner Friedensforum, die wir einerseits kritisieren, aber mit denen aus sozialistischer Sicht auch Zusammenarbeit möglich ist.
“Frieden bedeutet Weltrevolution”
Der Autor dieser Zeilen veröffentlichte 1984 mit seiner damaligen Gruppe, der Juso-Schülergruppe Bremerhaven, einen Flyer mit dem Rosa-Luxemburg-Zitat “Frieden bedeutet Weltrevolution” als Überschrift, in dem die pazifistischen Illusionen der Friedensbewegung frontal angegriffen wurden. Der Flyer war in Tonfall und Aufmachung etwas drüber – oder sektiererisch, um es politisch präziser auszudrücken. Nicht ganz zu Unrecht waren gestandene Aktive über die arrogante Belehrung durch unsere Gruppe marxistischer Kids empört.
Inhaltlich falsch war der Flyer jedoch nicht. Aktuell gilt das umso mehr: der heutige Kapitalismus ist aggressiv und auf destruktive Weise dynamisch. Der Neue Kalte Krieg zwischen den USA und China führt zu mehr Stellvertreterkriegen, eine direkte militärische Konfrontation der Großmächte ist möglich. Alle Mächte kämpfen um Absatzmärkte und Rohstoffe, in einer Welt, die durch die Klimakatastrophe weitere Schocks und Risse erleben wird. Diplomatie, Verhandlungen und Verträge haben einen temporären Charakter, eine grundlegende Zähmung des Systems ist nicht möglich.
Daher kann es auch keinen neuen Aufguss der Friedensbewegung der 1980er geben. Eine Antikriegsbewegung muss die Probleme zu Ende denken, den Kapitalismus in Frage stellen und gleichzeitig die Proteste gegen Militarisierung, Waffenlieferungen und Kriegsbeteiligung mit der sozialen und der Klimafrage verbinden. Sie wird nicht so schnell an Zulauf gewinnen wie damals, denn um heute gegen das eigene Militär zu agieren, reicht eine pazifistische Grundhaltung nicht aus, man muss bereit sein, sich mit den eigenen Herrschenden politisch anzulegen – und auszuhalten, dass man als Agent der “Gegenseite” diffamiert wird – und gleichzeitig verstehen, dass auch die mit den eigenen Herrschenden verfeindeten Regime wie die Russlands und Chinas nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind.
Zeitleiste
12. Dezember 1979: Die NATO beschließt die Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und Cruise Missiles, angeblich als Antwort auf die Stationierung sowjetischer SS-20-Raketen. Die Entscheidung wird “Doppelbeschluss” genannt, weil er auch Verhandlungen über den Abbau von Mittelstreckenraketen vorsieht – nach deren Stationierung.
25. Dezember 1979: Sowjetische Truppen marschieren in Afghanistan ein, um die verbündete Regierung in Kabul gegen den Aufstand der islamistischen Mudjahedin zu unterstützen, die von den USA finanziert und ausgerüstet werden. Die Entspannungspolitik zwischen den Blöcken wird als beendet erklärt.
Ab 1979: In den USA und vielen Staaten Europas entsteht eine breite Friedensbewegung, in Deutschland basierend auf Bürgerinitiativen in vielen Orten.
10. Oktober 1981: 350.000 Menschen demonstrieren im Bonner Hofgarten auf der bis dahin größten Demo in Nachkriegsdeutschland.
10. Juni 1982: 500.000 Menschen demonstrieren in Bonn.
12. Juni 1982: 1 Million auf der No-Nukes-Rally in New York City.
1.-3. September 1983: Sitzblockaden vor dem Raketendepot Mutlangen, Baden-Württemberg.
26. September 1983: Sowjetische Abwehrsysteme vermelden Raketenstarts in den USA und damit den Beginn des Atomkrieges. Der zuständige Offizier, Oberstleutnant Petrow, überzeugt seine Vorgesetzten, dass es sich um Computerfehler handelt und empfiehlt, nicht “zurückzuschießen”.
Oktober 1983: 1,3 Millionen Menschen beteiligen sich bundesweit bei den Aktionstagen im “Raketenherbst” bei lokalen Aktionen, dabei bis zu 400.000 an der Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm. 30.000 bei Demos rund um die dreitägige Blockade des Bremerhavener Hafens, dem damals wichtigsten Umschlagplatz der US-Armee in Europa.
9. November 1983: Die Sowjetunion erwägt die Möglichkeit, dass das NATO-Manöver “Able Archer” eine Tarnung für einen bevorstehenden Erstschlag sein könnte. In der DDR und Polen stationierte Flugzeuge werden mit Atomwaffen ausgestattet und in Alarmbereitschaft versetzt.
22. November 1983: Der Bundestag beschließt die Raketenstationierung.
10. Dezember 1983: Die ersten Pershing II erreichen US-Basen in Deutschland.
Bild: Cover der Zeitung Voran vom Juli 1983. Aus der Voran-Gruppe entstand später die SAV.