Seit fast zwei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Nach Schätzungen sind bisher ungefähr 200.000 Menschen gestorben. Auf russischer Seite gibt es ungefähr 120.000 Tote, aufseiten der Ukraine ungefähr 80.000, wovon mindestens 10.000 zivile Opfer sind. Auch die Zahl derjenigen, die sich dem Töten und Sterben entziehen wollen, steigt, ebenso wie die Anzahl der Menschen, die kriegsmüde sind.
Von Kyra Helen Meise, Hamburg
Russische Militärgerichte verzeichnen mittlerweile 100 Fälle von Kriegsdienstverweigerung pro Woche. Allein im ersten Halbjahr 2023 sind es 2076 Personen, doppelt so viele wie im Vorjahr. Das sind jedoch nur die, die verurteilt wurden oder jedenfalls der russischen Gerichtsbarkeit unterstellt wurden.
Nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine haben sehr viele Russ*innen das Land verlassen. Im Juli 2023 hat das oppositionelle russische Netzwerk für Analyse und Politik “RE: Russia” eine Studie veröffentlicht, die sich mit der Auswanderung aus Russland in der Zeitspanne zwischen dem 24. Februar 2022 und Juli 2023 befasst. Laut dieser Studie haben in diesem Zeitraum zwischen 820.000 und 920.000 Menschen Russland verlassen. Etwa 30 % davon, um nicht eingezogen zu werden, vor allem um sich den Teilmobilisierungen zu entziehen.
Ein großer Teil ist nach Kasachstan, Serbien, Armenien, Montenegro, Türkei und nach Israel geflüchtet. In vielen dieser Länder ist der Aufenthalt zeitlich begrenzt. In Kasachstan beispielsweise bekommen Russ*innen 90 Tage Visumfreiheit, die nicht unbedingt verlängerbar ist. In den Ländern der EU befinden sich zwischen 55.000 und 100.000 Russ*innen, von denen 21.790 Asylanträge gestellt haben. 9580 der Anträge kommen von männlichen Personen im wehrdienstpflichtigen Alter. In Deutschland lehnt das Bundesamt für Migration bisher rund die Hälfte der Asylanträge von russischen Kriegsdienstverweigerern ab, obwohl zum Beginn des Krieges Politiker*innen aus verschiedenen Fraktionen, darunter auch Olaf Scholz, behauptet hatten, man würde Verweigerern und Deserteuren Schutz anbieten.
Flucht aus der Ukraine
Im Gegensatz zu Russland hat die Ukraine keine Berufsarmee, sondern hat alle Männer im Wehrpflichtigen Alter zum Kriegsdienst aufgerufen. Im Zuge dessen hat die Regierung Selenskyj am 25. Februar 2022 ein Ausreiseverbot für Männer im wehrpflichtigen Alter erlassen. Mittlerweile wurden ungefähr 20.000 Menschen an der Flucht gehindert. Ungefähr 20 Menschen starben beim Versuch zu fliehen, teilweise durch Ertrinken in Flüssen oder durch Erfrierungen. Dennoch sind seit Beginn des Krieges in der Ukraine 1,1 Millionen Ukrainer*innen nach Deutschland geflüchtet, darunter zwischen 160.000 und 184.000 Männer im wehrpflichtigen Alter.
Wenn man es geschafft hat, das Land zu verlassen, ohne dass man wegen gefälschter Papiere, unerlaubtem Grenzübertrittes oder vermeintlichen Straftaten verhaftet wurde, ist man erst einmal sicher, wenn man die EU erreicht hat. Denn ukrainische Flüchtlinge, die bis zum 24.02.2022 in der Ukraine lebten und einen gültigen Pass haben, werden in den Ländern der Europäischen Union aufgenommen, unabhängig davon, ob sie theoretisch wehrpflichtig sind.
Dieser Aufenthalt, der auf einem Beschluss des Europäischen Rates beruht, ist auf maximal drei Jahre zeitlich begrenzt. Danach muss man die EU verlassen, denn eine Aufenthaltsverfestigung, die zum Bleiben notwendig ist, bekommt man erst nach fünf Jahren Aufenthalt. Auch die Chancen auf Asyl sind sehr begrenzt. Vor allem im Kontext von Desertion, da dies aus Sicht des Asylrechts kein triftiger Grund ist.
David Arakamia, Fraktionschef von Selenskyjs Partei “Diener des Volkes”, hat gedroht, Auslieferungsanträge an EU-Staaten zu stellen, um Geflüchtete doch noch in die Armee zu bekommen. Laut Artikel 4 des europäischen Auslieferungsübereinkommens ist die Auslieferung im Falle von Militärstrafvergehen ausgeschlossen. Die Überstellung von Wehrpflichtigen, sofern sie keine weiteren Straftaten wie beispielsweise Urkundenfälschung begangen haben, wäre demnach rechtlich unzulässig. Das österreichische Justizministerium und das schweizerische Justizministerium haben im vergangenen September offiziell bestätigt, dass sie keine Menschen, die sich dem Wehrdienst entziehen, an die Ukraine ausliefern werden. Hingegen hat die deutsche Regierung lediglich erklärt, dass sie sich im Falle von Auslieferungsanträgen seitens der Ukraine auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen berufen wird.
Harte Strafen
Eine Weigerung, in den Krieg zu ziehen, kann in der Ukraine und in Russland fatale Folgen haben. Diese gehen vom Einsatz an der Front zu Bewährungsstrafen bis hin zu Gefängnisstrafen zwischen einem Jahr und 15 Jahren. Außerdem wurde das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in beiden Ländern stark ausgedünnt. Es gibt Berichte über gewaltsame Rekrutierungen in beiden Ländern, bei denen Männer im wehrpflichtigen Alter bedroht oder durch Gewalt zu Meldestellen gebracht wurden.
Während Putin die Mobilmachung weiter durchzieht, überlegt die ukrainische Regierung, wie sie noch mehr Menschen rekrutieren kann, denn die Behörden verzeichnen keine großen Erfolge durch Werbekampagnen. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitet die Regierung an einem Gesetzesentwurf, um zu verhindern, dass Menschen über 30 sich dem Kriegsdienst wegen eines Studiums entziehen können. Im Zuge dessen wurden auch alle regionalen Leiter der Meldestellen entlassen, um Korruption und gefälschten Dokumenten entgegenzuwirken.
Generell gibt es den Versuch, die Behörden und das System für die Einberufung der Soldaten zu reformieren. Nicht nur, weil die Einberufung teilweise sehr chaotisch abläuft, in dem man in der U-Bahn angesprochen wird oder auf dem Nachhauseweg kontrolliert wird, sondern auch, um die Menschen an der Front zu ersetzen, die seit knapp zwei Jahren dauerhaft im Einsatz sind, weil deren Moral sinkt und Angehörige protestieren. Zudem planen sie einen größeren Fokus auf private Firmen und Agenturen zu setzen. Diese werben mit einer längeren Ausbildung als normal. Es gibt Berichte auf beiden Seiten, die von einem mangelnden Training berichten. Manche russischen Soldaten, die vor der Mobilmachung keinerlei Erfahrungen im militärischen Kontext besaßen, berichten von vier Besuchen auf dem Schießstand, bevor sie an die Front geschickt wurden.
Wachsende Unzufriedenheit
Sowohl in der Ukraine als auch in Russland werden Stimmen für eine Demobilisierung lauter. Hauptsächlich sind es die Frauen oder Familienangehörigen der Soldaten, die sich in Telegram-Gruppen vernetzen oder kleine Kundgebungen veranstalten. Auf einer Kundgebung im November in Kiew wurde die Befristung des Wehrdienstes gefordert, da die Soldaten an der Front ausgelaugt sind und der Krieg sich zu einem langwierigen Graben- und Stellungskampf entwickelt. Es war erst die zweite Kundgebung dieser Art, denn durch das Kriegsrecht sind in der Ukraine Kundgebungen und Demonstrationen verboten.
Auch in Russland üben Frauen und Familienangehörige landesweit Druck auf die Regierung aus. Sie organisieren sich unter anderem im „Rat der Frauen und Mütter“, mit Anhängerinnen in 90 Städten. Im Zuge dessen lud Putin 2022 einige Mütter von Soldaten ein und ließ seine Einleitung im Fernsehen übertragen, um die Menschen zu beschwichtigen. Das funktionierte allerdings nur bedingt, denn nach wie vor gibt es Petitionen mit bis zu 50.000 Unterschriften für die Rückkehr und die Verbesserung der Lage der Soldaten.
Denn die wird sich in absehbarer Zeit nicht verbessern, da sich dieser Krieg in einen langwierigen Stellungskrieg entwickelt. Trotzdem vernetzten sich die Menschen, Soldaten und Kriegsdienstverweigerer in Gruppen, im Internet und starteten Protestaktionen gegen den Krieg und seinen Horror.
Die noch kleinen Proteste können zu einer großen Bewegung werden. Wenn die Menschen, die für die Interessen ihrer herrschenden Klassen töten und sterben sollen, dagegen protestieren und sich weigern, damit fortzufahren, dann entsteht daraus die realistische Option, den Krieg zu stoppen. Der entsetzliche Stellungskrieg könnte dazu führen, dass eine solche Verweigerung parallel auf beiden Seiten stärker wird. Kriege wurden bereits durch Rebellionen von unten gestoppt: Im 1. Weltkrieg haben russische Soldat*innen sich ab 1917 geweigert, auf die gegnerischen Truppen zu schießen und ihre Waffen gegen die eigenen Offiziere gerichtet. Auch im Vietnam-Krieg haben US-Soldaten ab 1969 vermehrt Befehle verweigert und eigene Offiziere angegriffen und verstärkten damit den Druck der Antikriegsbewegung. Die USA konnten diesen Krieg nicht mehr weiterführen.
Foto: Dolche far niente, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons