Bundesweit ist die AfD laut Umfragen auch nach den Massenprotesten immer noch zweitstärkste Partei, in allen ostdeutschen Bundesländern (außer Berlin) droht sie bei den nächsten Wahlen stärkste Kraft zu werden. Die AfD ist gefährlich. Um sie zu stoppen, müssen wir die Gründe für ihren Aufstieg untersuchen.
Von Sebastian Rave, Bremen
Zwei Drittel der AfD-Wähler*innen sind männlich, drei Viertel sind Angestellte, Beamte und Selbstständige. Wirtschaftswissenschaftler Holger Stichnot schreibt: „Anhand des Wahlprogramms zur letzten Bundestagswahl ist die AfD keine ‚Kleineleutepartei‘, sondern eine der Besserverdienenden.“ Die AfD spricht Schichten an, die Angst vor dem sozialen Abstieg und „die Schnauze voll“ von den anderen Parteien haben. Ihr Angebot: Die Kanalisierung von Unzufriedenheit in Hass auf Migrant*innen und das nach unten Treten angesichts von sich zuspitzenden sozialen Krisen.
Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Die „soziale Herkunft“ der AfD spiegelt sich auch in ihrem öffentlichen Auftreten wider. Auf der einen Seite gibt sich die AfD radikal, ist gegen das Establishment, präsentiert sich als Protestpartei (Mr. Hyde). Auf der anderen Seite ist alles an ihnen bürgerlich, gestriegelt, glatt geleckt. Nach außen will die Partei es mit dem Radikalismus nicht übertreiben, bei zu hohem Druck oder im Konkurrenzkampf werden Rechtsabweichler auch schon mal ausgeschlossen. Selbst offensichtliche Faschisten wie Björn Höcke scheuen davor zurück, sich zu ihrer Nazi-Tradition zu bekennen. Stattdessen gibt sich die Partei seriös wie Dr. Jekyll.
Dieser innere Konflikt erklärt den ständigen Flügelstreit in der AfD, der immer wieder zu Spaltungen geführt hat – und zu einer immer weitergehenden Rechtsverschiebung: Von Bernd “Eurokrise” Lucke über Frauke “Mausgerutscht” Petry zu Alexander “Fliegenschiss” Gauland und Alice “Schweizer Konto” Weidel. Weidels „Rechte Hand“ und „inoffizieller Generalsekretär“ der AfD, Roland Hartwig, hat beim Potsdamer „Remigrationstreffen“ eine zentrale Rolle gespielt und ist eindeutig dem rechtsradikalen „Flügel“ um den Faschisten Höcke zuzuordnen.
Höckes “Flügel“ und die Sozialdemagogie
Dieser wurde mittlerweile offiziell aufgelöst – aus Vorsicht, aber auch, weil er nicht mehr nötig ist. Seine Positionen sind längst dominant geworden. Die Strategie des „Flügels“ war immer, im Widerspruch zwischen bürgerlich-neoliberal und Anti-Establishment letzteres zu betonen. Der Flügel versucht sogar, „Gewerkschaften“ aufzubauen – das „Zentrum Automobil“ versammelt dabei rassistische Beschäftigte ebenso wie solche, die von der Sozialpartnerschaft der IG Metall enttäuscht sind.
Die AfD entkommt aber bei aller Sozialdemagogie ihrer neoliberalen Herkunft, ihrer kleinbürgerlichen Mitgliederbasis und ihrer bürgerlichen Führung nicht. Wäre sie erst in der Regierung, wäre von Protest nicht viel übrig – es gäbe aber massive Kürzungen und Umverteilung von unten nach oben. Eine AfD-Regierung wäre nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund eine Katastrophe, sondern für alle Arbeitenden und Armen.
„Kleineres Übel“ – üble Idee
Das Bürgertum kann mit Kürzungen gut leben – und braucht rechte Kräfte wie die AfD außerdem als Machtoption im Notfall. Der Kapitalismus befindet sich weltweit in einer Repräsentationskrise. Bei der letzten Wahl in Argentinien ist der jahrzehntelang regierende und sozialkürzende Peronismus zusammengebrochen. Der frühere Finanzminister Massa hatte noch versucht, sich als das kleinere Übel gegen Milei hinzustellen – die Rechnung folgte auf dem Fuße, der als “Establishment-Gegner” auftretende Anarchokapitalist konnte sich mit Hetze gegen Arme und den Sozialstaat durchsetzen und vertieft die Angriffe auf den Lebensstandard. Das US-amerikanische Zwei-Parteien-System ist dysfunktional, dem „kleineren Übel“ Biden folgt wahrscheinlich wieder das ganz große – dieses Mal aber als Farce und Tragödie in einem.
Auch in Deutschland ist das Vertrauen in bürgerliche Institutionen am Tiefpunkt. Besonders hart trifft es die Parteien. Laut Körber-Stiftung vertrauten ihnen 2020 noch 29%, ein Jahr später waren es nur noch 20% – heute sind es noch ganze neun Prozent. Die Mitgliedschaft der „Volksparteien“ hat sich seit 1990 mehr als halbiert. Wenn sich diese jetzt an die Spitze der Bewegung gegen die AfD stellen, macht es die Demos kurzfristig zahlenmäßig größer – weil über bürgerliche Medien und staatliche Verwaltungen mobilisiert wird – aber inhaltlich nicht stärker, weil sie als reine Verteidigung der Ampel und des Bestehenden erscheinen..
Klar, wir brauchen starke Bündnisse gegen die AfD, die in die gesamte Gesellschaft wirken. Aber die Stärke eines Bündnisses definiert sich nicht dadurch, wie viele Gruppen nominell dabei sind, sondern durch soziale Verankerung und politische Zugkraft, und dafür braucht es auf Dauer ein gemeinsames Ziel, das mobilisierend ist. SPD, CDU, Grüne, FDP haben in der Hinsicht nichts zu bieten außer der Rettung ihrer eigenen Herrschaft. Bündnisse mit ihnen sind so wirksam wie Bündnisse von Gewerkschaften mit Arbeitgeber*innen. Im besten Falle kommt dabei eine moralische Kritik an Rechtspopulismus und Rassismus mit einigen netten und selbstvergewissernden Schlagworten wie Toleranz, Zusammenhalt, Dialog und Bunt heraus, das in einem gemeinsamen Bratwurstessen gegen Rechts endet, im schlechtesten Fall kann sich die AfD noch mehr als Alternative zu dem verlogenen Establishment hinstellen.
Ein besonders übles Beispiel bürgerlicher “Verteidigung der Demokratie”: Am 25.2. forderte die Politökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel in einer Rede auf der Großdemo in Hamburg, die hundert reichsten Deutschen sollten sich zusammen setzen und überlegen, wie sie den “gesellschaftlichen Zusammenhalt” stärken könnten. Kritik an Entscheidungen der Regierung rückte sie pauschal in die Nähe des Rechtspopulismus, denn die Regierenden seien ja “Expert*innen” und wüssten es nun mal besser als alle anderen. Bessere Werbevideos als Ausschnitte aus solchen Reden könnten sich AfD und Co. kaum wünschen.
Klassenmobilisierung notwendig
Um aus der vermeintlichen Frontstellung zwischen Regierung und AfD auszubrechen, die nur diese beiden Optionen zulässt und die die AfD auf lange Sicht unweigerlich gewinnt, braucht es eine Mobilisierung anhand von materiellen Interessen. Es braucht einen entschlossenen Kampf um höhere Löhne und gegen Lohndumping, für bezahlbaren Wohnraum für alle, für mehr Demokratie und Selbstbestimmung in Betrieben, und gegen jede Form von Unterdrückung und Rassismus, egal ob von rassistischen Beschäftigten oder Chefs, organisierten Rechten, oder vom Staat. Diese materiellen Forderungen wären ein Klassenansatz zum Kampf gegen Rechts. An Stelle des Gedankens einer Konkurrenz zwischen “Deutschen” und “Migrant*innen” um Arbeitsplätze und Wohnraum, der stark zum Aufschwung des Rassismus beiträgt, tritt die gemeinsame Forderung nach einer solidarischen Gesellschaft.
Die Gewerkschaften spielen dafür eine zentrale Rolle. Sie haben hunderttausende Mitglieder, sind in zehntausenden Betrieben verankert, in denen die große Mehrheit der Gesellschaft acht Stunden am Tag verbringen, also ein Drittel ihrer Lebenszeit zwischen Ausbildung und Rente. Im Betrieb arbeiten Kolleg*innen unterschiedlicher Herkunft zusammen, und es gibt viel Potenzial für politische Debatten und Kampagnen gegen Rechts. Deswegen war der Vorstoß von „Köln stellt sich Quer“ so wichtig, zu einem Streik am 21. März (Internationaler Tag gegen Rassismus) aufzurufen. Zwar nur für symbolische 15 Minuten, aber alleine die Mobilisierung dafür in den Betrieben wäre ein wichtiger Schritt.
Leider wurde dieser Vorstoß scheinbar von sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionär*innen zu Tode umarmt. Der aktuelle Aufruf (https://www.15-vor-12.de/) redet viel von „Demokratie schützen“ und setzt auf die „Brandmauern der demokratischen Parteien“ „für ein demokratisches, soziales Europa“. Mit einer solchen Mobilisierung für den reinen Erhalt des Status Quo ohne jegliche Verbesserung wird man keinen Blumentopf gewinnen. Dafür ist das Vertrauen in bürgerliche Institutionen wie Parteien oder die EU – zurecht! – zu niedrig.
Wir schlagen trotzdem vor, den Vorschlag in Bündnisse, Gewerkschaftsgliederungen und Betriebe zu tragen – dabei aber nicht bei “Rettung der Demokratie” stehenzubleiben, sondern auch in Betrieb und Gewerkschaft die Frage aufzuwerfen, wie der Rechtsruck nachhaltig bekämpft werden und nicht nur eine Brandmauer errichtet, sondern das Feuer gelöscht werden kann.