Während die israelischen Besatzungskräfte mit der begonnenen Offensive auf Rafah weiter eskalieren, verbreiten sich die Universitätsproteste gegen das Massaker in Gaza rund um den Globus. Inzwischen gab es an weit über 150 Universitäten ähnliche Proteste. Die Uni-Besetzungen können der erste Schritt sein um die Bewegung strategisch neu aufzustellen und zu stärken. Das Aushungern und Morden von Zivilist*innen, viele davon Kinder, die Sabotage von Hilfslieferungen und die wiederholte Massenvertreibung stellen die westlichen Verbündeten Israels unter Rechtfertigungsdruck.
von Alexandre Vasallo, Bremen
Trotzdem versuchen Mainstream-Medien weiterhin, ein verzerrtes Bild der Bewegung zu zeichnen. Die Tagesschau stellte die Legitimität der Proteste infrage, sowohl in Bezug auf die Methoden als auch indem sie die Antikriegsbewegung mit dem ständigen Vorwurf des Antisemitismus in Verbindung bringen. Ein offener Brief, der von Hunderten deutschen Hochschullehrkräften unterzeichnet wurde, wird in der Presse und von der Politik heftig dafür kritisiert, keinen ausdrücklichen Absatz zu enthalten, der die Ereignisse des 7. Oktober verurteilt. Aber sich gegen das Massaker in Gaza zu äußern, ohne die Gewalt der palästinensischen Milizen am 7. Oktober zu erwähnen, ist kein Antisemitismus. Tatsächlich beinhaltet der Brief keine Positionierung zum Nahost-Konflikt, und beschränkt sich darauf, das Recht der Student*innen auf friedlichen Protest und eine offene Diskussion ihrer Forderungen zu verteidigen. Die Kritik an dem offenen Brief läuft schließlich darauf hinaus, dass es ein Problem sei, sich auch nur im Geringsten solidarisch oder offen gegenüber Protesten gegen das Massaker und die Unterdrückung der Palästinenser*innen zu zeigen. Diese Vorstellungen dominieren sowohl die mediale Berichterstattung als auch den direkten Umgang mit den Protesten vor Ort.
Staatsräson wird zu Staatsrepression
Allein in Berlin hat die Polizei gegen 37 Student*innen Strafverfahren eingeleitet, in Leipzig über 30. Den Protest der eigenen Studierenden derart zu bekämpfen und zu diffamieren, zeigt die Diskussionsunwilligkeit der verantwortlichen Rektorate und die allgemeine Bereitschaft, jeden Protest zum Thema zu unterbinden. Bildungsministerin Stark-Watzinger forderte ein hartes Vorgehen der Universitäten gegen angeblichen Antisemitismus (in diesem Zusammenhang zu verstehen als jeglicher Protest gegen das Massaker) und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Klein, sprach von einer weit verbreiteten „antisemitischen Haltung“ unter deutschen Studierenden. Stark-Watzinger hat auch die Frage der Exmatrikulation von Student*innen aufgeworfen, die sich an palästinensischen Anti-Kriegs-Protesten beteiligen, was ein weiteres schockierendes Ausmaß an Repression gegen die Bewegung darstellt. International ist die Bewegung auch mit starker Repression konfrontiert. Von der Festnahme von Demonstrant*innen in Kairo über die Stürmung des Camps an der Universität von New York bis zur Festnahme von Prof. Nadera Shalhoub-Kevorkian von der Universität in Jerusalem.
In der Bewegung herrscht Einvernehmen darüber, dass das israelische Regime nicht mit Jüd*innen gleichgesetzt werden darf und dass Solidarität von jüdischen Israelis und Jüd*innen in der Bewegung erwünscht und ermutigt ist. Die Forderungen der Universitätsproteste konzentrieren sich hauptsächlich auf einen dauerhaften Waffenstillstand, die Einstellung der Waffenlieferungen und die Bereitstellung humanitärer Hilfe nach Gaza. Der Vorwurf des Antisemitismus wird zur Delegitimierung der Proteste missbraucht und schadet dem Kampf gegen tatsächliche antisemitische Übergriffe.
Die Proteste sind nichts als eine verständliche und notwendige Reaktion auf eine brutale und unmenschliche Offensive auf einen der letzten Zufluchtsorte im Gazastreifen. Tatsache ist, dass über 35.000 Palästinenser*innen durch die israelische Armee ermordet wurden, dessen Waffen an erster Stelle aus den USA und aus Deutschland geliefert werden. Inmitten der Proteste, die unterdrückt und in der Presse diffamiert werden, wächst die Notwendigkeit einer starken und organisierten Solidaritäts- und Antikriegsbewegung jeden Tag. Es ist dringend notwendig, den Kampf auszuweiten.
Streik-Koordination ist Pflicht!
Auch wenn Versuche, die Bewegung bundesweit zu vernetzen, sich bisher als schwierig erwiesen haben – der Palästina Kongress 2024 in Berlin wurde durch die wahnsinnige Menge von 2.500 Polizeibeamten zu 250 Aktivist*innen aufgelöst, begleitet von der zu erwartenden Schmähung in den Medien sowie direkterer Repression durch Kontosperrungen, Hausdurchsuchungen und von der Polizei verhängte Verbote, Arabisch, Irisch und Hebräisch zu sprechen – bleibt eine solche Koordinierung ein entscheidender nächster Schritt, um die Bewegung zu stärken und zu vergrößern.
In den Unis selbst muss die breite Studierendenschaft in die Besetzungen eingebunden werden. Unterstützer*innenkreise oder Solidaritätskomitees sollten offen sein für alle Interessierten, und regelmäßig politisch über die Situation in Gaza, den Stand der Proteste und mögliche weitere Aktionen diskutieren. Für den Erfolg der Camps ist es nötig, offen zur Teilnahme daran zu mobilisieren. Bei aller nötigen Offenheit muss auch dafür gesorgt werden, dass sich Camps und die Bewegung vor Provokateuren schützen, indem sie Ordner*innenstrukturen aufbauen.
Wir unterstützen diese Welle des studentischen Aktivismus mit Nachdruck. Der Grad an Selbstorganisation trotz der massiven Repressionen verdient jede Solidarität und Unterstützung. Studierende auf der ganzen Welt haben es geschafft, Camps zu planen und durchzuführen, die einen Geist der Zusammengehörigkeit schaffen: politische Workshops mit aufklärenden Inhalten zu Widerstandsmethoden, kultureller Austausch, Lyrik, Musik und Essen. Dabei wird die Ernsthaftigkeit der Situation nicht außer Acht gelassen und die Bedeutung von internationaler Solidarität hervorgehoben. Eine wiederkehrende Forderung der Student*innen ist die direkte Beteiligung der Universitäten am Wiederaufbau des Bildungsapparats in Gaza. Nach Schätzungen des Unicef Education Cluster wurden 87% der Schulgebäude durch den Krieg beschädigt oder zerstört. Alle Universitäten in Gaza wurden gezielt zerstört.
Der Kampf muss weiter ausgebreitet werden, an mehr Universitäten getragen werden. Aber um die Rektorate und Institutionen zu zwingen, den Forderungen nachzugeben, muss der Kampf über den Campus hinausgehen, zu den Lehrer*innengewerkschaften und zu den Gewerkschaftsdachverbänden. Rassistische Unterdrückung, Krieg und Imperialismus sind dem Kapitalismus angeborene Zustände. Nur eine gemeinsame Bewegung von Student*innen, Lehrkräften und Arbeiter*innen insgesamt kann eine massenwirksame und nachhaltige Veränderung hervorbringen – um eine Gesellschaft aufzubauen, die den Menschen und die Umwelt an erste Stelle setzt, frei von Profitgier, sozialer Ungleichheit und Krieg: eine sozialistische Gesellschaft.
Wir sagen:
- Repression bekämpfen! Für die Verteidigung der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechts!
- Stopp das Massaker in Gaza! Für ein sofortiges Ende des Krieges und ein Rückzug der israelischen Besatzungskräfte. Stopp jeglicher militärischer Unterstützung Israels!
- Universitätsgelder von staatlichen und privaten Einrichtungen abziehen, die mit der Bewaffnung Israels und der Besatzung palästinensischer Gebiete in Verbindung stehen!
- Für die Verteidigung und strenge Einhaltung von Zivilklauseln an allen Unis!
- Auf bundesweite Walkouts und Streiks hinarbeiten, Unis weltweit stilllegen!
- Für die gemeinsame Organisierung von Student*innen und Uni-Angestellten! Gewerkschaften sollten sich solidarisieren und gemeinsame Aktionen in Kooperation mit studentischen Protestcamps organisieren!
- Arbeiter*innen und ihre Gewerkschaften haben die Macht, durch Streiks Waffentransporte nach Israel zu stoppen. Sie müssen Teil der Bewegung gegen den Krieg werden!
- Für die Konversion der Rüstungsindustrie für gesellschaftlich nützliche Produktion, Eisenbahnen und Busse statt Panzer!
- Die Kriegstreiber müssen zahlen! Für die Finanzierung des Wiederaufbaus Gazas mit den Geldern der Kriegsprofiteure und der finanzierenden Länder. Für die Enteignung der Banken und der Rüstungsindustrie unter demokratische Kontrolle.
- Solidarität mit arabischen und jüdischen Student*innen in Israel-Palästina, die sich gegen den Krieg stellen – für den Aufbau einer Community-übergreifenden Bewegung im Nahen Osten gegen Besatzung, Unterdrückung, Imperialismus und Kapitalismus!
- Für ein sozialistisches Palästina, für ein sozialistisches Israel als Teil einer freiwilligen sozialistischen Föderation im Nahen Osten!
Bremen: Camp nach wenigen Stunden geräumt
Am Mittwoch, den 8. Mai, kamen am Vormittag rund 100 Menschen in der Glashalle der Universität Bremen als Protestcamp zusammen, dem dritten dieser Art an deutschen Universitäten innerhalb einer Woche. Die beiden anderen fanden in Berlin und Leipzig statt. Das Camp in Bremen wurde spontan von einer neu gegründeten Universitätsgruppe „Uni(te) for Pali“ mit Hilfe von “Seeds of Palestine” und vielen anderen Einzelpersonen als Reaktion auf den kürzlich erfolgten Angriff auf Rafah durch Israel organisiert. Der Protest wurde innerhalb von 12 Stunden auf Anweisung des Rektorats polizeilich aufgelöst.
„Uni(te) for Pali“ stellte klare Forderungen auf: Die Universität Bremen solle zu einem langfristigen Waffenstillstand aufrufen und eine Solidaritätserklärung mit den Opfern des israelischen Krieges auf Gaza abgeben, so wie sie es auch mit den Opfern des Terrors am 7. Oktober 2023 tat. Das Rektorat solle sich außerdem gegen den “Schulmord” in Gaza aussprechen und den Wiederaufbau der Universitäten im Gebiet direkt unterstützen. Mit Schulmord ist die systematische Zerstörung des Bildungswesens in Gaza durch die Inhaftierung oder Ermordung von Lehrkräften, Student*innen und Beschäftigten gemeint sowie durch die direkte physische Zerstörung der Infrastruktur. Aktuell gibt es keine handlungsfähigen Universitäten im Gazastreifen mehr.
Kurz nach dem Aufbau des Camps wandte sich der Rektor der Universität direkt an die Aktivist*innen, scheinbar offen, um die Forderungen des Protests zu diskutieren. Schnell stellte sich heraus, dass es sich um eine Farce handelte: Laut einem Instagram-Post von Uni(te) am folgenden Tag hatte die Universitätsleitung zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden und teilte nun den Demonstrant*innen mit, dass keine der Forderungen erfüllt oder überhaupt diskutiert würde. Stattdessen ging es lediglich um die Form des Protests: Es wurde angeboten, das Camp zu tolerieren, sollte man sich bereit erklären, es von der Glashalle in den Außenbereich des Campus zu verlegen – ein klarer Versuch, den Protest dorthin zu drängen, wo er nicht mehr sichtbar sein und niemanden stören würde. Obwohl die Organisator*innen des Camps sich darum gekümmert hatten, dass die Notausgänge frei blieben, das Brandschutzprotokoll eingehalten wurde und sie – abgesehen davon, dass sie ohne Erlaubnis ein Camp aufgebaut hatten – keine Anzeichen von Gewaltbereitschaft zeigten, argumentierte das Rektorat, dass sie das Camp aus Sicherheitsgründen räumen müssten. In der Presseerklärung der Universität hieß es später, diese Entscheidung sei „angesichts des nicht kalkulierbaren Risikos, dass sich aus dem friedlichen Protest eine massiv sicherheitsgefährdende Situation entwickelt“, getroffen worden.
Nachdem die Demonstrant*innen das Angebot ablehnten, wies das Rektorat die Polizei an, das Camp nötigenfalls mit Gewalt zu räumen. Aktivist*innen und anwesende Unterstützer*innen wurden aufgefordert, die Glashalle zu verlassen. Etwa 25 Personen blieben jedoch in einem Akt von zivilem Ungehorsam trotzdem im Camp, während sich draußen ein Protest zu ihrer Unterstützung formte, bei dem zeitweise mehr als 200 Menschen gegen den genozidalen Krieg gegen Palästina skandierten. Beide Proteste verliefen friedlich, die Reaktion der Polizei hingegen war überwältigend. Sie waren mehr als bereit, die Demonstrant*innen unnötigerweise zu stoßen, setzten Schmerzgriffe ein, um die Aktivist*innen zum Verlassen des Camps zu zwingen, und brachten sogar Polizeihunde auf den Campus. Demonstrant*innen wurden Strafanzeigen für Hausfriedensbruch und ein Hausverbot von fünf Tagen auferlegt. Diese Art von Reaktion auf einen friedlichen Protest ist zum Thema Israel-Palästina leider keineswegs ungewöhnlich und wenn überhaupt, in Bremen sogar noch mild ausgefallen.