Am 15. April 2024 traf eine Kommission der Ampelregierung eine historische Entscheidung über den Körper von Gebärenden: Abtreibung solle in den ersten zwölf Wochen komplett legal werden. Aber warum ist der Paragraph 218 nicht längst gefallen? Wir brauchen breite Proteste, um Druck aufzubauen.
von Lola Blume, Kassel
Eine „Expert*innen“-Kommission der aktuellen deutschen Regierung stellt fest, dass Frauen und alle, die in Deutschland gebären können, rechtlich benachteiligt werden. Sie schreiben, dass die aktuelle Regelung keiner „verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und europarechtlichen Prüfung“ standhalten würde. Kein Wunder, das Gesetz von 1871 stammt aus der Zeit, als Deutschland noch eine Monarchie war. Es ist unfassbar, dass es überhaupt eine Kommission braucht, die ausspricht, dass wir im 19. Jahrhundert festhängen.
Die Protestbewegungen nach der Novemberrevolution 1918 und während der 1968er Jahre haben dazu geführt, dass das Gesetz abgeschwächt wurde. In der DDR war es schon ab Anfang der 1970er Jahre legal, bis zur 12. Woche abzutreiben, Verhütungsmittel waren kostenlos. Das änderte sich mit der „Vereinigung“ – der Paragraph wurde auch auf Ostdeutschland ausgeweitet, jedoch zugleich weiter aufgeweicht. Aber gekippt wurde er nicht, trotz rot-grüner Regierungen und trotz „liberaler“ FDP. Zuletzt wurde der Paragraf 219a im Juni 2022 gestrichen. Dieser hatte es Ärzt*innen verboten, auf ihren Webseiten mitzuteilen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Ultrakonservative Abtreibungsgegner*innen nehmen das Gesetz trotzdem immer wieder zum Anlass, Praxen und Kliniken mit Klagewellen zu überrollen, Drohanrufe, Hassnachrichten und Mahnwachen zu organisieren, um Ärzt*innen einzuschüchtern.
Die §218-Fans
Nach der Entscheidung der Kommission im April behauptete allen voran Friedrich Merz von der CDU, eine Streichung des §218 würde das Land spalten, in dem es eh schon so viele gesellschaftliche Konflikte gebe. Merz stimmte 1997 dagegen, dass Vergewaltigung in der Ehe strafbar gemacht wird. Mitglieder der Regierung wie der Justizminister Marco Buschmann von der FDP sehen „keinen Handlungsbedarf“ – gut für ihn, er ist davon ja auch nicht betroffen. Aus der radikalen Abtreibungsgegner*innenszene gibt es auch eine Menge Kontakte in die evangelikalen Kirchen und die AfD. Ein Rechtsruck in der deutschen Regierung könnte dazu führen, dass die erkämpfte Aufweichung von §218 wieder zurückgenommen werden. Dazu darf es nicht kommen, §218 muss jetzt fallen!
Warum muss §218 weg?
Das Gesetz schränkt den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung ein. Laut einer ELSA-Umfrage haben 65 % des medizinischen Personals, das Abtreibungen durchführt, angegeben, in ihrem Umfeld Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Abtreibung erscheint auch nicht im Lehrplan des Medizinstudiums. Insgesamt führt das dazu, dass die Versorgung von Betroffenen nicht ausreichend gegeben ist. In NRW führen pro Jahr nur 150 Einrichtungen über 22.000 Abbrüche durch. In Baden-Württemberg und Bayern ist die Versorgungslage noch katastrophaler, weil die Einrichtungen zusammengenommen an einer Hand abgezählt werden können. Das ist für Menschen, die wenig Geld haben oder in schwierigen abhängigen Beziehungen leben, besonders belastend, da sie nicht stundenlang irgendwo hinfahren können, um sich Hilfe zu holen.
Freie Wahl für alle und alles!
Damit das passiert und Krankenkassen die Kosten übernehmen und medizinische Einrichtungen sich nicht weigern dürfen, den Eingriff vorzunehmen, muss §218 endlich Geschichte werden. Dafür brauchen wir Proteste. Denn ohne den Druck auf der Straße wird sich nichts ändern. Am 21. September wollen in Köln und Berlin wieder Abtreibungsgegner*innen auf die Straße gehen. Lasst uns dafür sorgen, dass wir nicht nur ihnen, sondern auch der Bundesregierung die Hölle heiß machen. Aber das reicht nicht aus. Wir brauchen eine eigene Protestbewegung, nicht nur eine, die auf die Rechten reagiert, sondern eine, die ihre eigene Stimme für reproduktive Gerechtigkeit auf die Straße trägt. Dazu gehören unter anderem ein öffentliches, flächendeckendes und kostenloses Gesundheits- und Bildungssystem für alle, der kostenlose Zugang zu Verhütungsmitteln, bezahlbarer Wohnraum und gut bezahlte, familienfreundliche Jobs, damit es nicht vom Geldbeutel abhängt, ob man sich für oder gegen Kinder entscheiden kann. Was wir wollen, ist nicht weniger, als eine Gesellschaft, in der jede*r in dieser Entscheidung frei ist, ohne Angst vor Armut, Abwertung oder Gefängnis.