Aufstieg des BSW: Eine „Lichtgestalt“ und viele Widersprüche

Sahra Wagenknechts neue Partei hat aus dem Stand ein beachtliches Wahlergebnis bei der Europawahl erlangt. Es ist zu erwarten, dass das “Bündnis Sahra Wagenknecht” auch bei den im September stattfindenden Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern abräumen wird. Dieser Wahlerfolg geht einher mit der existenziellen Krise der LINKEN. und dem Erstarken der AfD, die vor allem in Ostdeutschland in Umfragen stärkste Partei ist. 

Von Marcus Hesse, Aachen

Von der Debatte um die Beschränkung der Migration profitierte in der erster Linie die AfD, in zweiter die Union. Die bei der Wahl abgestraften Ampel-Parteien hatten die Debatte durch die Verschärfung von Gesetzen gegen Geflüchtete und entsprechende Rhetorik die Debatte selbst angeheizt. Das BSW – inklusive Namensgeberin Wagenknecht – schlug propagandistisch in dieselbe Kerbe. BSW-Vertreter*innen propagieren, dass Einwanderung soziale Probleme verschärfe und damit im Interesse sozialer Politik eingedämmt gehöre. 

Stimmen von LINKE und SPD

Mit der Zustimmung zur Abschottung gegen Geflüchtete durch das BSW sollte angeblich der Zulauf zur AfD gestoppt werden. Wie eine Erhebung von Wähler*innenwanderungen von infratest dimap zur Europawahl gezeigt hat, hat das BSW 160.000 Wähler*innen der AfD abgeworben, aber 470.000 der LINKEN und noch viel mehr von der SPD, Union und FDP. 63% gaben an, BSW gewählt zu haben, weil sie von der LINKEN enttäuscht waren und 78% wegen der Person Sahra Wagenknecht. Das BSW hat mit rechten Narrativen ehemals links wählende Menschen angezogen.

Laut infratest dimap gaben 86% an, BSW gewählt zu haben, weil es sich gleichzeitig für Soziales und weniger Zuwanderung einsetzt. 79% äußerten Angst vor dem Einfluß des Islam und Kriminalität. Wagenknecht selbst tritt mit Vorschlägen an die Öffentlichkeit, die ein bereits rassistisches politisches Klima bestätigen und verstärken; unter anderem mit der Forderung nach mehr Polizeikräften. Sie kritisierte die Konferenz der Ministerpräsident*innen der Länder im Juni, die in ihren repressiven Beschlüssen angeblich nicht weit genug gegangen sei. In Interviews und  Posts auf Social Media prangert sie angeblichen “Sozialbetrug” von ukrainischen Bürgergeldempfänger*innen an.

Gleichzeitig attackiert das BSW treffend die AfD, die ein knallhart neoliberales Programm hat, und thematisiert die soziale Frage. Wagenknecht und BSW-Vertreter*innen wie Fabio Di Masi, die sich als keynesianistische Kritiker*innen des Neoliberalismus einen Namen gemacht haben, schärfen in Reden das soziale Profil der Partei. Sozialpolitisch wird die Ampel im Sinne klassischer reformistisch-linker Politik attackiert. Das BSW fordert bessere Renten, bezahlbare Mieten und einen höheren Mindestlohn Eine grundsätzliche Kapitalismuskritik – und sei es auch nur rhetorisch – vertritt das BSW jedoch nicht. Dabei engagieren sich im BSW Politiker*innen wie Sevim Dagdelen und Andrej Hunko, die noch vor einigen Jahren als Antikapitalist*innen und linke Oppositionelle in der LINKEN auftraten.

Früher war alles besser …

Inzwischen bekennt sich Wagenknechts Partei dezidiert zu Marktwirtschaft und Mittelstand, beschwört das vermeintlich bodenständige und “echte” einheimische Unternehmertum sowie das  bürgerliche Leistungsprinzip. Hier folgt die Organisation ganz Wagenknechts Ideen einer “Marktwirtschaft ohne Kapitalismus” und propagiert eine “vernünftige” Wirtschaftspolitik – was immer das bedeuten soll – und einen leistungsfähigen “Standort Deutschland”.

Bezugspunkt ist dabei eine mythisch verklärte, vermeintlich noch gute und gerechte soziale Marktwirtschaft à la Bundesrepublik  der 1950er bis -70er Jahre. Führende Persönlichkeiten des BSW legen sehr viel Wert darauf, sich nicht als linke Partei zu bezeichnen.

Die Gruppe hatte trotz ihres linken Profils in der Sozialpolitik keine Probleme damit, den Düsseldorfer Ex-Oberbürgermeister Thomas Geisel als Mitglied und Kandidaten aufzustellen, obwohl dieser bis heute die Agenda 2010 und die Einführung von Hartz IV verteidigt. Sabine Zimmermann, sächsische Landesvorsitzende des BSW, positionierte ihre Partei sogar “in der Mitte, links der CDU, rechts der SPD”. Koalitionen mit der CDU werden von BSW-Politiker*innen nicht ausgeschlossen.

Wagenknecht & Co. inszenieren sich identitär als radikaler Gegenentwurf zu den Grünen, in Konkurrenz zur AfD. Dabei stürzen sie sich auf alles, was die Grünen im unangenehmen Sinne ausmacht wie soziale Abgehobenheit und Verachtung für die Masse der lohnabhängigen Bevölkerung, schütten aber zugleich das Kind mit dem Bade aus, indem sie sich gegen vermeintlich grüne und “woke” Forderungen wie energischen Klimaschutz, Gendergerechtigkeit und Solidarität mit Geflüchteten stellen oder es so darstellen, als dienten diese Themen zur Ablenkungen von der sozialen Frage.

Versagen der LINKEN

Zu den wichtigsten Gründen, warum Menschen sich für Wahl, Unterstützung  oder gar Mitgliedschaft im BSW entscheiden, zählt die Frage von Krieg und Frieden. Das gilt bundesweit, aber vor allem im Osten. Sahra Wagenknecht persönlich hat als Aufruferin zu einer zentralen Friedensdemo im Februar 2023 ihr Profil gestärkt. Das BSW positioniert sich eindeutiger als die Partei DIE LINKE für Frieden mit Russland, gegen Waffenexporte und Aufrüstung. Leider hat DIE LINKE versagt. Zwar vertritt sie offiziell weiterhin pazifistische Positionen und ist gegen Waffenlieferungen, doch immer wieder äußern sich prominente Parteimitglieder gegenteilig und befürworten die NATO-Unterstützung der Ukraine,.

Als der ukrainische Präsident Selenskyi im Juni im Bundestag auftrat, verließen die Abgeordneten des BSW demonstrativ den Saal. Dass es so aussah, als hätten sie das „zusammen mit der AfD” getan, muss man kritisieren. Aber die moralische Entrüstung der LINKEN über den Protest der BSW war peinlich und politisch falsch – zumal die LINKE auf jede sichtbare Äußerung des Protestes gegen Selenskyi verzichtet hat und damit letztlich Teil der Standing Ovations für ihn war.

Im Osten dominieren im LINKE-Parteiapparat pro-israelische Positionen die Parteistrukturen, deren Vertreter*innen  jede Palästina-Solidarität als “antisemitisch” diffamieren und bekämpfen. Solche Kräfte gibt es im BSW erkennbar nicht. Wo DIE LINKE (noch) regiert, wie unter Ramelow in Thüringen, redet sie nicht nur über die Begrenzung der Migration, sondern lässt gemäß “Staatsräson” und bürgerlicher Gesetzgebung aktiv abschieben.

Ohne Frage ist die Friedenspolitik des BSW fern ab von einer sozialistischen und internationalistischen Klassenposition. Sie appelliert an die bürgerliche Diplomatie und ist tendenziell unkritisch gegenüber Russland.

Allerdings wird seit der militaristischen “Zeitenwende” auch jede nur halbwegs differenzierte Sicht auf den Konflikt Russlands mit dem Westen und den Krieg in der Ukraine, geschweige denn klare Kritik an der NATO als “Putin-Versteherei” diffamiert. Leider trägt die tatsächlich gegenüber Russland unkritische Politik des BSW dazu bei, dieser Propaganda Futter zu liefern und den Antimilitarismus zu in den Augen breiter Teile der Bevölkerung zu diskreditieren und damit zu schwächen. 

Klaus Ernst (heute BSW) hatte sich noch als Wagenknecht-treuer LINKE-Parlamentarier lautstark für die klimaschädliche Pipeline NordStream2 eingesetzt und dabei sogar den auch finanziell mit dem russischen Regime verbandelten Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) für Lobbyarbeit im Bundestag herangezogen.

Das BSW steht für eine außenpolitisch unabhängig(er) von den USA agierende deutsche Politik, mit guten Beziehungen zu Russland und China. Damit vertritt es die Interessen von Teilen des deutschen Kapitals, das sich für seine Profitinteressen gegen Sanktionen gegen Russland stellt. Unterm Strich ist die “Friedenspolitik” des BSW keine linke Politik, aber gegenüber dem Versagen und der Widersprüchlichkeit der LINKEN erscheint sie vielen als konsequent. Darum gibt es nicht Wenige, die das BSW als in Außen- und Friedenspolitik links von der LINKEN stehende Kraft sehen, besonders in Ostdeutschland, wo Militarismus und NATO in der Breite der Bevölkerung kritischer betrachtet werden. 

Gerade im Osten hat sich DIE LINKE in allen Krisen der letzen Jahre als angepasst und staatstragend präsentiert. Dagegen hat sich die BSW als Opposition und Anti-Establishment-Kraft und Stimme der grundlegend Unzufriedenen profilieren können. Umfragen belegen, dass BSW-Wähler*innen sich ebenso wie AfD-Wähler*innen, unabhängig von ihrem tatsächlichen Lebensstandard, besonders stark vom Abstieg bedroht fühlen und soziale Unzufriedenheit als Motiv ihrer Wahlentscheidung sehen. Der LINKEN trauen nur noch wenige zu, für soziale Gerechtigkeit und Frieden zu stehen.

Perspektive

Momentan ist die Schwäche und das Versagen der Linken und der Partei DIE LINKE die größte Trumpfkarte des BSW.  Die Partei DIE LINKE aber auch die Klimabewegung und die Bewegungen gegen rechts und Rassismus haben es in der Breite nicht geschafft, überzeugend aufzuzeigen, wie Klimaschutz, Schutz und Hilfe für Geflüchtete und die Interessen der arbeitenden Menschen verbunden werden können.

Davon profitiert das BSW, indem es als auf dem Boden der Logik der Marktwirtschaft stehenden Partei einen grundlegenden Gegensatz zwischen bezahlbarem Wohnraum, guten Löhnen und bezahlbaren Energiekosten einerseits und Einwanderung und Klimaschutz andererseits konstruiert. 

Wie jede Partei, die auf der Basis der Sachzwänge des Kapitalismus und der nationalstaatlichen Beschränktheit steht, wird sie letztendlich Politik gegen die Masse der Bevölkerung mittragen. Schon jetzt trägt sie – im Gleichklang mit dem bürgerlichen Mainstream und der AfD – dazu bei, die soziale Frage mit Spaltung entlang nationalistischer Linien zu verwirren.

Mit ihrem Auftreten gegen Geflüchtete, die angeblich die Sozialsysteme missbrauchen,  leistet  Wagenknecht ideologische Schützenhilfe für die kommenden Angriffe der Ampel-Regierung und der rechten Opposition aus Union und AfD auf alle Empfänger*innen von Bürgergeld. Dass das BSW schon jetzt – obwohl es sich als radikale Oppositionspartei inszeniert – mit Koalitionen mit bürgerlichen Parteien bis hin zur CDU liebäugelt, deutet darauf hin, dass es die sozialen Forderungen fallen lassen wird. In Zeiten der tiefen Krise des Kapitalismus und der Eskalation des Konkurrenzkampfes zwischen den Blöcken gibt es keinen Spielraum für Reformen. Jede Partei, die mitregiert, setzt die Interessen des Kapitals durch. Der Höhenflug des BSW könnte in diesem Fall schnell enden. Bis dahin wird die Gruppe noch eine Menge Schaden anrichten können, indem sie “links” und “rechts” durcheinanderwirft und die spaltende und soziale Kämpfe lähmende Idee verbreitet, dass die Interessen der arbeitenden Klasse national abgeschottet durchgesetzt und die Interessen von besonders unterdrückten Teilen der Klasse ignoriert werden können.