Freude und Erleichterung sind verständlicherweise groß: Bei den Neuwahlen in Frankreich verhinderte das linke Bündnis – die Neue Volksfront (NFP)- den Durchmarsch des rechtsradikalen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen. Präsident Macron hatte die Neuwahlen nur wenige Wochen vorher, nach der Niederlage seiner rechtsliberalen Partei Renaissance (“Wiedergeburt”) bei der Europawahl und dem Sieg des RN, angekündigt und wurde abgestraft. Die Hoffnung Macrons, aufgrund der Zersplitterung der Linken die Stimmen gegen den RN auf sich zu vereinen, ist gescheitert. Die Neue Volksfront ist stärkste Kraft im Parlament. Doch der RN ist ebenfalls gestärkt. Für die Linke in Europa ist das Ergebnis eine Warnung: sie muss dem kapitalistischen Establishment entschlossen entgegentreten.
Von Linda Fischer, Hamburg
Die Ankündigung von Neuwahlen in Verbindung mit ersten Protesten hatte bei den Parteien links von Macron den Druck erhöht, sich zusammenzutun. Innerhalb von 24 Stunden nach Verkündung einigten sich La France Insoumise (FI) um Mélenchon, Parti Socialiste (die Sozialdemokraten, PS), Les Écologistes (die Grünen), Parti Communiste Français (die kommunistische Partei, PCF) sowie einer Reihe weiterer linker Organisationen auf das Wahlbündnis Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront, NFP).
Am Wochenende des 15. und 16. Juni wurden große Proteste mit Hunderttausenden auf der Straße von Gewerkschaften und linken Parteien organisiert. Der nach Mitgliedern zweitgrößte Gewerkschaftsverband Frankreichs, die Confédération Générale du Travail (CGT), hatte diesmal ausdrücklich dazu aufgerufen, die Neue Volksfront zu wählen – bei den letzten Wahlen war nur dazu aufgerufen worden, „gegen rechts“ zu wählen. Der Druck der Straße und die Zusage wichtiger Gewerkschaften hatten der Neuen Volksfront Aufwind gegeben.
Die FI von Jean-Luc Mélenchon ist die dynamischste und klar linke Kraft in der NFP. Sie hatte innerhalb des Bündnisses erfolgreich auf ein Programm gedrängt, um Macrons arbeiter*innenfeindliche und rassistische Politik etwas entgegenzustellen und damit zu verhindern, dass die extreme Rechte an die Macht kommt. Auch wenn das Programm begrenzt ist: Die wichtigen sozialen Forderungen wie die Aufhebung der Rentenreform, die Reform der Arbeitslosenversicherung, das Einfrieren der Nahrungsmittelpreise, die Anpassung der Löhne an die Inflation oder eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung und eine Anhebung des Mindestlohns auf 1600 Euro Netto waren wichtiger Faktoren für den Erfolg des Wahlbündnisses.
Gefahr von Rechts
Der Rassemblement National (RN) konnte – zusammen mit seinen Verbündeten – seine Fraktionsstärke von 89 auf 143 Sitze erhöhen und erhielt auch im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen (mehr als 8,7 Millionen Stimmen im Vergleich zu gut 7 Millionen Stimmen für die Neue Volksfront). Die Kombination aus einer historisch hohen Wahlbeteiligung und taktischen Absprachen und Rückzügen zwischen der Neuen Volksfront und den Macronisten hat zur deutlichen Korrektur der Ergebnisse im Vergleich zum ersten Wahlgang geführt, aus der der RN als Sieger hervorgegangen war.
Nach dem ersten Wahlgang hatten 215 Kandidat*innen, die sich für den zweiten Wahlgang qualifiziert hatten, ihre Kandidatur zurückgezogen, davon deutlich mehr von der Neuen Volksfront als aus dem Block des Präsidenten. Linke Wähler*innen in den betroffenen Wahlkreisen haben deutlich häufiger für Macronisten gestimmt als umgekehrt. Die Macronisten hingegen verweigerten den Wahlaufruf für Kandidierende der FI. Damit profitierte das Präsident*innenlager um Macron stärker von dieser Taktik als die Linken.
Die Stärkung des RN wird sich bemerkbar machen. Bereits in der Vergangenheit hatte Macron bewiesen, dass er kein Problem hat, auf den RN zuzugehen, um regierungsfähig zu bleiben. Ende 2023 wurde das verschärfte Einwanderungsgesetz mit den Stimmen der kompletten RN-Fraktion verabschiedet und von Marine Le Pen als “ideologischer Sieg” gefeiert.
Lieber Rechts als Links?
Mit der Ausrufung von Neuwahlen hatte Macron bewusst in Kauf genommen, dass der Rassemblement National gestärkt aus der Wahl geht. Rechtspopulist*innen sind als mögliche Partner angekommen, weil dem Establishment andere Machtoptionen ausgehen. Nationalismus (und damit einhergehend immer mehr auch Rassismus) wird auch bei Liberalen und Konservativen salonfähig, weil er als Ideologie in Zeiten von kapitalistischer Krise, Blockkonfrontation, Krieg und Militarisierung notwendig wird, um Aufrüstung, Sozialabbau und Abschottung zu legitimieren. Auch deswegen kann die Einbindung rechtspopulistischer Kräfte aus Sicht der Bürgerlichen strategisch Sinn machen.
Obwohl der RN nicht die bevorzugte Wahl für das kapitalistische Establishments Frankreichs ist, fürchten große Teile des Großkapitals Mélenchon weit mehr als Le Pen. Vor allem, da die LFI als stärkste Kraft innerhalb der Neuen Volksfront hervorgegangen ist. Die Financial Times berichtete am 18. Juni: “Frankreichs Konzernbosse versuchen, Kontakte zur extremen Rechten von Marine Le Pen aufzubauen, nachdem sie bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vor der radikalen Steuer- und Ausgabenagenda des rivalisierenden Linksbündnisses zurückgeschreckt sind.”
Auch das deutsche Establishment fürchtet die Linken um Mélenchon mindestens genauso wie die Rechten. Die FAZ schreibt: „Die neue Volksfront könnte mit Mélenchon einen Scharfmacher an die Regierungsspitze befördern, der das Land genauso spalten dürfte wie die Rechtspopulisten um Marine Le Pen.“ Die Stärkung der Linken ist für das deutsche Kapital besorgniserregend, da die Gefahr besteht, Frankreich in Zeiten der Blockkonfrontation als zweitwichtigsten imperialistischen Player in der EU und relativ verlässlichen Partner in der Außenpolitik zu verlieren.
Mélenchon und La France Insoumise (FI) haben sich in der Vergangenheit gegen Waffenlieferungen in die Ukraine ausgesprochen, sind davon aber mittlerweile leider abgerückt, sind gegen die EU-Sparvorgaben für die Haushalte, gegen die NATO und solidarisch mit palästinensischen Kampf gegen Besatzung und Krieg. Auch deswegen wird seit Monaten innerhalb Frankreichs und darüber hinaus eine massive Hetzkampagne gegen FI wegen angeblichen “Antisemitismus” gefahren.
Dem Establishment die Stirn bieten
Die inhaltlichen Widersprüche sind in der Zusammensetzung der Neuen Volksfront bereits angelegt. Die zuvor im Sterben liegenden Sozialdemokrat*innen (PS) wurden durch den Aufstieg der FI und den vorangegangenen Abgang einiger ihrer rechtesten Elemente nach links gezogen. Doch sie sind, ebenso wie die Grünen, fest im kapitalistischen System verankert. Sie kandidierten mit Personen wie dem ehemaligen französischen Präsidenten Hollande, der wegen seiner autoritären und gegen die arbeitende Klasse gerichteten Reformen zu Recht verhasst ist. Auf der anderen Seite steht Mélenchon mit La France Insoumise und einem linken Reformprogramm.
Ab sofort müssen die Arbeiter*innen, Unterdrückten und jungen Menschen den Druck auf der Straße, in den Betrieben, Stadtteilen, Schulen und Unis weiter aufbauen, um sicherzustellen, dass keine Zugeständnisse an die bürgerlichen Parteien gemacht werden, die versuchen werden, die NFP im Dienste der kapitalistischen “Regierbarkeit” im neuen französischen Parlament einzubinden.
In der aktuellen Situation ist keine Kraft in der Lage, allein eine Regierungsmehrheit zu bilden. Die französische Verfassung verbietet Neuwahlen innerhalb von 12 Monaten, daher ist der Druck groß, eine Regierung “aller demokratischer Kräfte” zu bilden (aus Sicht des Establishments beinhaltet dies alle Parteien außer dem RN und FI).
Mélenchon hat zu Recht gefordert, dass Macron einen Premierminister der NFP ernennen muss und kündigt an, dass diese ihr Programm umsetzen würde. Im präsidialen französischen Wahlsystem ernennt der Präsident den Premier. Dass Macron Mélenchon oder andere FI-Mitglieder ernennt, ist jedoch so gut wie ausgeschlossen.
Zahlreiche Vertreter*innen der Macronisten rufen zu einer breiten Koalition auf, mit dem Ziel, weiterhin eine Politik zu betreiben, die sich nur wenig von der bisherigen unterscheidet. Sozialdemokrat*innen und Grüne hatten bereits vor dem zweiten Wahlgang angedeutet, dass sie dazu bereit wären. Macron könnte versuchen, über die Köpfe der französischen Wähler*innen hinweg so eine kapitalistische Koalition zusammenzustellen – ohne Mélenchons FI.
Eine solche Regierung würde dazu führen, dass die extreme Rechte weiter an Zuspruch gewinnt und auf die Präsidentschaftswahlen 2027 hinarbeitet. Diese kann nicht durch Wahlbündnisse und parlamentarische Manöver besiegt werden. Sie kann nur durch eine Massenbewegung besiegt werden, mit einem Programm gegen das krisengeschüttelte kapitalistische System und für eine sozialistische Alternative. FI sollte den Aufbau einer solchen Bewegung mit vorantreiben und sich darauf vorbereiten, das kapitalistische Establishment ein für alle Mal zu entmachten.
FI ist um die Gallionsfigur Mélenchon aufgebaut und hat keine ausreichenden demokratischen Strukturen. Nötig ist, dass sich FI öffnet und den Aufbau einer Partei mit vorantreibt, welche die verschiedenen sozialen Bewegungen der Arbeiter*innenklasse, Jugend und Unterdrückten zusammenführt, ihre potenzielle Kraft bündelt.