Nach Attentaten: Israels Regierung riskiert Ausweitung des Massakers

300 Tage der Hölle in Gaza

Die provokativen Attentate der Netanjahu-Gallant-Regierung bringen den Nahen Osten näher an den Rand eines regionalen Krieges – auf Kosten eines Waffenstillstandes in Gaza, der auch zu einem Gefangenen-Deal und einem Ende des gegenseitigen Raketenbeschuss im Grenzgebiet von Libanon und Israel führen könnte.

Von Yasha Marmar, Tel Aviv

Durch die Attentate der letzten Tage [auf Hamas- und Hisbollah-Führer, A.d.Ü.] der israelischen Rechtsregierung schwingt das regionale Pendel aggressiv in Richtung einer weitreichenden „Mehrfronten“-Eskalation und eines regionalen Krieges. Es ist kaum möglich, die damit verbundenen Gefahren und ihre verheerenden Folgen zu übertreiben.

Premierminister Netanjahu, Kriegsminister Galant, IDF-Stabschef Herzi Halevy und die israelische Militärführung sind bereit, weitere Ströme von Blut zu vergießen und den gesamten Nahen Osten an den Rand eines regionalen Krieges zu treiben. Sie suchen verzweifelt nach einem „Siegesbild“ nach der blutigen Krise, die vor bald 300 Tagen am 7. Oktober ausgebrochen ist, und der völkermörderischen Offensive des israelischen Kapitalismus auf den Gazastreifen, bei der keines der offiziellen Kriegsziele – „Sturz der Hamas“ und Rückgabe aller israelischen Geiseln – erreicht worden ist. Die provokativen Attentate wurden unter bewusster und zynischer Gefährdung des Lebens von Bewohnern in der gesamten Region verübt: im Libanon, in Syrien, im Iran, im Jemen, in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel.

Die Ermordung von Ismail Haniyeh, dem Leiter des politischen Büros der Hamas in Teheran, fand nur wenige Stunden nach der Ermordung von Fouad Shukr (Haj Muhsein), einem hochrangigen Hisbollah-Mitglied, in Beirut statt. Bei dem israelischen Luftangriff wurden ebenfalls fünf Einwohner, darunter auch Kinder, getötet und mehr als 85 verwundet. Diese Attentate sind eine direkte Fortsetzung der demonstrativen Vergeltungs-Bombardierung der zivilen Infrastruktur in der jemenitischen Hafenstadt Hodeidah am 20. Juli und der versuchten Ermordung von Mohammed Deif am 13. Juli in der Gegend von Al Muasi im Gazastreifen – als Teil eines Massakers, bei dem mindestens 90 palästinensische Frauen und vertriebene Palästinenser getötet wurden.

Ein israelischer Militärsprecher versuchte, die Ermordung eines hochrangigen Hisbollah-Funktionärs in Beirut mit der Katastrophe in Majdal Shams zu rechtfertigen, wo Raketenbeschuss zu einem Massaker auf einem Fußballplatz führte, bei dem 12 Kinder und Jugendliche aus einem Dorf in den annektierten Golanhöhen auf grausame Weise ums Leben kamen. Die demonstrativen Morde, die Israels Militärführung und das rechte Regime seit langem geplant hatten, zielen nicht darauf ab, die Kinder von Majdal Shams zu schützen. Dass es nicht um den Schutz von Kindern geht wird klar, wenn man sich das Massengemetzel an Kindern im Gazastreifen anschaut, der heute als „Kinderfriedhof“ bekannt ist, und wo die Zahl der bei Militärangriffen getöteten Kinder auf etwa 15.000 geschätzt wird. Mehr als 40.000 Palästinenser*innen sind bisher bei dem historischen Massaker in Gaza ums Leben gekommen, die Zahl der Verletzten nähert sich 100.000. Das Ausmaß des Gemetzels bleibt unklar, da im verwüsteten Gazastreifen Epidemien – darunter Polio und Hepatitis – wüten. Die Politik des rechten israelischen Regimes hat den Gazastreifen verwüstet, indem es Millionen von Menschen bombardiert, ausgehungert und ihnen die Grundversorgung verweigert hat. Dieses Inferno wie auch die Politik der Attentate kann und soll nicht die persönliche Sicherheit der einfachen Israelis gewährleisten.

Drängt die blutige Regierung auf eine direkte militärische Konfrontation mit dem Iran?

Militär- und Regierungssprecher beeilten sich gestern, die Verantwortung für das Attentat in Beirut zu übernehmen, und auch wenn sie sich noch nicht offiziell zu dem Attentat in Teheran bekannt haben, ist das Ziel dieser Maßnahmen eindeutig: politische Punkte für Netanjahu und seine Regierung zu sammeln. Das Büro des Premierministers verbreitete gestern Minuten nach der Meldung über den Bombenanschlag in Beirut Bilder von Netanjahu in Uniformen, und am Mittwochabend organisierte er eilig eine Pressekonferenz. Auf diese Weise versucht die blutrünstige Regierung, die israelische Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen, von der sich die große Mehrheit ihren Sturz wünscht. Dem politischen und militärischen Flügel des israelischen Kapitalismus, der sich mitten in einer tiefen geostrategischen Krise befindet und keine „Exit-Strategie“ und keinen Plan für den „Tag danach“ hat, geht es vor allem darum, die Bereitschaft für einen regionalen Mehrfrontenkrieg, auch mit dem iranischen Regime, zu signalisieren.

Es scheint, dass zumindest Teile der Regierung und der militärischen Führung hoffen, auf diese Weise auch die politische und militärische Unterstützung Washingtons für sich zu gewinnen, inmitten einer Dynamik der regionalen Eskalation, die auch von der Rivalität zwischen den Supermächten in West und Ost geprägt ist und diese beeinflusst. Zur gleichen Zeit, als der stellvertretende russische Außenminister Michail Bogdanow erklärte, Haniyehs Ermordung sei ein „inakzeptabler politischer Mord“, versprach US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, Israel in einem Eskalationsszenario militärisch zu unterstützen, während sich US-Kriegsschiffe auf den Weg zur libanesischen Küste machten. US-Außenminister Antony Blinken versuchte, sich von der Ermordung Haniyehs zu distanzieren, indem er behauptete, das Weiße Haus sei nicht informiert und nicht daran beteiligt gewesen. Nichtsdestotrotz hat das iranische Außenministerium deutlich gemacht, dass es die Vereinigten Staaten für die israelische Seite verantwortlich macht.

Haniyeh kam in den Iran, um an der Vereidigung des neuen Präsidenten Masoud Peseschkian teilzunehmen. Seine Ermordung scheint mit grenzenloser Arroganz darauf abzuzielen, das iranische Regime von Stellvertreteraktionen zu einer direkten militärischen Konfrontation mit Israel zu drängen. Peseschkian Stellvertreter, Reza Aref, sagte, Teheran wolle nach der Ermordung keine weitere Eskalation im Nahen Osten. Aber das iranische Regime wird sich nur schwer zurückhalten können. Der Oberste Führer Khamenei drohte, es sei “die Pflicht des Irans, Haniyehs Blut zu rächen, weil er auf unserem Boden den Märtyrertod gestorben” sei. Die Revolutionsgarden drohten mit einer “harten und schmerzhaften Antwort der Widerstandsfront”. Auch das Mitglied des politischen Büros der Houthi, Hizam al-Assad, schloss sich den Drohungen an: “Es gibt eine Abstimmung über die Antwort. Sie wird viel umfassender und größer sein, je nach Ausmaß des Ereignisses.” Das Attentat im Herzen von Beirut ist an sich, auch ohne das Attentat auf den Iran, eine gefährliche Provokation. Der Generalsekretär der Hisbollah hat während des laufenden Krieges mehr als einmal gesagt, dass seine Organisation im Falle eines Anschlags in Beirut mit einem Angriff auf [die Metropol-Agglomeration Tel-Aviv-Jaffa] Gush Dan antworten wird. 

Attentat auf die Bemühungen, eine Einigung zu erzielen?

Die provokativen Attentate, ähnlich wie die Ermordung des Hamas-Führers Saleh al-Arouri in Beirut im Januar, haben die Gespräche über eine Waffenstillstandsregelung und einen Gefangenenaustausch im Gazastreifen zumindest vorerst torpediert. In den letzten Wochen hatten Netanjahu und seine Regierung immer wieder weitere Hürden aufgebaut, die an sich schon einem Attentat auf jegliche Friedensvereinbarung gleichkamen. Jetzt haben sich Netanjahu und Galant für ein Attentat auf Haniyeh entschieden, der als zentrale Figur bei den Verhandlungen und bei der Übermittlung von Botschaften zwischen der katarischen Regierung und der Hamas-Führung im und aus dem Gazastreifen gilt.

Gallants Aussage, dass „Israel noch in den Stunden nach dem Attentat an einer Vereinbarung arbeitet, die die Rückkehr der Entführten ermöglicht“, diente vor allem dazu, Druck abzuwehren und ein falsches Bild zu zeichnen, als ob die von ihm initiierte Provokation dazu dienen sollte, eine Vereinbarung und einen Waffenstillstand zu fördern. Sharon Lifshitz, die Tochter des entführten Oded, sagte nach dem Attentat, dass dies „ein gezielter Versuch von [Regierungschef] Hekker ist, den Deal scheitern zu lassen.“ In den Wochen, in denen die rechte Regierung daran arbeitete, den Deal zu torpedieren, forderten einige der Familien der Entführten wiederholt, dass Bar-David, der Vorsitzende der Gewerkschaft Histadrut, ein Unterstützer des Krieges, zu einem Generalstreik aufrufen soll. Es ist notwendig, den Druck auf Bar-David und den Vorstand der Histadrut und anderer Gewerkschaften zu erhöhen, um das Gewicht der organisierten Arbeiter*innenklasse für ein Austauschabkommen, einen Waffenstillstand und eine Wiedergutmachung einzusetzen.

Die Fortsetzung der militärischen Angriffe auf Gaza und die Verschanzung der Besatzungsarmee im Gazastreifen torpediert nicht nur eine Einigung und verlängert die Kriegskrise – sie vertieft und erweitert sie. Die Tatsache, dass der Nahe Osten heute näher an einem regionalen Krieg ist als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den letzten 300 Tagen, ist ein Beleg dafür. Wie tief die Krise ist und welche Gefahren sie birgt, zeigte sich Anfang dieser Woche auch an der Machtdemonstration der extremen Rechten, als Parlamentsabgeordnete und maskierte Bewaffnete ungehindert in Militärstützpunkte eindrangen, um die schrecklichen Praktiken der Folter und des sexuellen Missbrauchs von palästinensischen Gefangenen zu verteidigen.

In den [von Israel besetzten] Gebieten von 1967 wurdeam Mittwoch ein Generalstreik angekündigt, um gegen die Ermordung von Haniyeh zu protestieren. In Jordanien demonstrierten Tausende von jungen Männern und Frauen vor der israelischen Botschaft in Amman unter starker Polizeirepression. Wenn nach der Ermordung weitere Proteste in der Region und auf der ganzen Welt organisiert werden, werden diese in erster Linie den starken Widerstand gegen die militärische Aggression und die nationale Unterdrückung der Palästinenser*innen zum Ausdruck bringen, die in diesem Jahr einen barbarischen Höhepunkt erreicht hat, aber nicht unbedingt die volle oder begeisterte Unterstützung der politischen Ansichten und Methoden von Haniyeh, der Hamas oder des iranischen Regimes. Sozialistische Kräfte lehnen diese ab, weil sie auch für den palästinensischen Kampf für nationale und soziale Befreiung eine Sackgasse darstellen.

Dieser Kampf muss verbunden werden mit einer Kampagne der arbeitenden Menschen in der Region, um ein Ende der Belagerung und Besatzung zu erreichen, der nationalen Unterdrückung von Millionen Palästinenser*innen, der imperialistischen Kriege und der Intervention der Mächte aus dem Westen und dem Osten, die sich auf die Oligarchien in Israel und der Region stützen. Das ist nicht unter dem heutigen kapitalistischen System möglich, sondern nur im Rahmen eines Kampfes für einen sozialistischen Wandel, der auf der Grundlage gleicher Existenz- und Selbstbestimmungsrechte, Demokratie und persönlicher Sicherheit gewährleistet. Schlüsselindustrien und Rohstoffe müssen demokratischem Gemeineigentum unterstellt werden, um Ungleichheit, Armut, Wohnungskrise und Arbeitslosigkeit zu beseitigen.

Der Kampf um das Leben und die Zukunft der einfachen Bewohner*innen der gesamten Region muss hier und jetzt weitergeführt werden, zu einer Zeit, in der Millionen im ganzen Nahen Osten und auch in Israel Angst vor der erwarteten Eskalation in den kommenden Tagen haben. Diese ernste Sorge macht es umso dringlicher und notwendiger, Demonstrationen, Protestaktionen und sogar bevölkerungsübergreifende und koordinierte Streikmaßnahmen auf nationaler und regionaler Ebene zu organisieren, mit einem klaren Aufruf: Nein zu einem regionalen Krieg! Stoppt die Attentate und Anschläge, nein zur Invasion des Libanon, stoppt das Blutbad in Gaza! Abzug aller israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen, ja zur Rückkehr der Gefangenen und Häftlinge – „jeder für jeden“! Stoppt die Angriffe der Streitkräfte und Siedler im Westjordanland! Ja zum Wiederaufbau des Gazastreifens, unter demokratischer Kontrolle der Bewohner*innen! Für die Wiedergutmachung bei allen betroffenen Communities! Ja zum Kampf für die Errichtung eines unabhängigen, demokratischen, sozialistischen palästinensischen Staates mit gleichen Rechten und ja zum Kampf für Demokratie und sozialistischen Wandel in Israel und der Region, unter Gewährleistung gleicher Rechte für alle Nationen und alle Minderheiten.