Anders als ursprünglich angedeutet, werden die Gewerkschaften die Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen in erster Linie als Lohnrunde führen, bei der die Forderung nach 350 Euro bzw. 8% mehr Lohn auf ein Jahr Laufzeit im Zentrum steht. Für Azubis, Studierende und Praktikant*innen fordert ver.di 200 Euro mehr. Vom Thema Arbeitszeitverkürzung bleiben mehr Urlaubstage und ein Wahlmodell.
Von Jan Hagel, Hamburg
Die Lohnforderung, die die ver.di-Bundestarifkommission Anfang Oktober beschlossen hat wirkt angesichts einer Inflationsrate von nur noch 1,6% im September bemerkenswert hoch. Allerdings sind die Preise über die zwei Jahre Laufzeit des aktuellen Tarifabschlusses insgesamt um 4,7% gestiegen. Außerdem ist nicht ganz klar, ob ver.di tatsächlich eine Erhöhung der Tabellenentgelte, also aller Gehälter, um 8% fordert. Auf der Website zur Tarifrunde ist von “einem Volumen von acht Prozent mehr Geld” die Rede, und der Vorsitzende Frank Werneke spricht von Zulagen für Schicht- und Feiertagsarbeit als Bestandteil dieses Volumens. Klar ist allerdings der geforderte Sockelbetrag: 350 Euro mehr für alle Entgeltgruppen und Stufen.
Mehr Urlaub und „Meine-Zeit-Konto“
Generell spielen Arbeitszeiten und Überstunden bei den Forderungen eine Rolle – aber nicht in Form einer allgemeinen Verkürzung der Wochenarbeitszeit, mit der nach der Arbeitszeit-Umfrage im Frühjahr und entsprechenden Forderungen Anfang des Jahres im Nahverkehr viele gerechnet hatten.
Stattdessen fordert ver.di drei Urlaubstage mehr für alle und einen weiteren für Gewerkschaftsmitglieder, um die Mitgliedschaft attraktiver zu machen und den Organisationsgrad zu erhöhen. Außerdem soll zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit die 2023 abgeschaffte Altersteilzeit wieder eingeführt werden.
Als neue Idee hat die Bundestarifkommission das “Meine-Zeit-Konto” vorgestellt. Dabei geht es nicht einfach um Arbeitszeitkonten und Gleitzeit, die es im öffentlichen Dienst oft sowieso gibt, sondern letzten Endes um ein Wahlmodell Geld oder Freizeit, wie in vielen Tarifverträgen anderer Branchen. Kolleg*innen soll ermöglicht werden, auf die Entgelterhöhung oder auch ihre Jahressonderzahlung komplett oder teilweise zu verzichten und stattdessen Stunden auf ihr Arbeitszeitkonto gutgeschrieben bekommen, die sie dann abbummeln können.
Auch den umgekehrten Weg will ver.di ermöglichen. Über- bzw. Mehrarbeitsstunden sollen auf Wunsch in Geld umgewandelt und ausgezahlt werden. Kolleg*innen sollen jeden Monat frei entscheiden können, was mit ihrem Arbeitszeitkonto passiert. Anders als bisher sollen Stunden nicht mehr zum Jahreswechsel verfallen können.
Diese Idee kommt bei vielen gut an, die bereit sind, für mehr Freizeit auf Geld zu verzichten und unbürokratisch ihre Stunden reduzieren möchten, oder die umgekehrt gerade Geld brauchen und deshalb (vorübergehend) mehr arbeiten wollen. Individuelle statt kollektive Arbeitszeitregelungen sind jedoch mit Risiken verbunden. In Betrieben und Dienststellen mit Personalmangel und hoher Arbeitsbelastung kann durch Vorgesetzte oder aus allgemeinem Pflichtgefühl ein starker Druck entstehen, Vollzeit zu arbeiten. Wenn durch Flexibilisierung der Arbeitszeit und Auszahlung von Überstunden freiwillige Mehrarbeit normalisiert wird, können Kolleg*innen auch dazu gedrängt werden, wenn mal mehr Arbeit anfällt oder der Krankenstand hoch ist. Freiwilligkeit ist in der Arbeitswelt im Kapitalismus immer relativ. Das spricht dafür, in dieser Tarifrunde die deutliche Lohnerhöhung für alle in den Mittelpunkt zu stellen.
Save the date: Warnstreiks ab Ende Januar
Formal endet die Friedenspflicht zum 1.1.25, faktisch sind Warnstreiks ab der 1. Verhandlungsrunde am 24. Januar möglich.
Vor zwei Jahren hat ver.di mit dem “Superstreiktag” im ÖPNV, bei der Bahn und an Flughäfen gemeinsam mit der EVG ein international beachtetes Ausrufezeichen gesetzt und Arbeitskämpfe verbunden. Im Januar bieten sich gemeinsame Warnstreiks mit den Kolleg*innen der Post an, wo die Tarifrunde etwa gleichzeitig startet.
Wie immer im öffentlichen Dienst ist die Tarifrunde politisch. Breite gesellschaftliche Solidarität ist wichtig – weil in Kitas und Verwaltungen wenig direkter ökonomischer Druck aufgebaut werden kann und weil die Arbeitgeber*innen letztlich gewählte Politiker*innen sind. Und die werden angesichts der zur Finanzierung der Aufrüstung geplanten Kürzungspolitik erklären, dass für Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst doch gar kein Geld da sei – denn man kann ja nicht einfach die Reichen besteuern oder auf neue Waffen verzichten.
Gewerkschafter*innen aus anderen Branchen und Linke sollten daher überlegen, wie sie die Kolleg*innen im ÖD beim Kampf um eine deutliche Lohnerhöhung unterstützen können. Der TVÖD gilt immerhin für 2,5 Millionen Beschäftigte und hat eine wichtige Signalwirkung für andere Tarifrunden.
Foto: Taro Tatura