Aus Israels “Strafexpedition” nach dem 7. Oktober 2023 wurde ein Massaker an zehntausenden Menschen. Als die Forderung nach Waffenstillstand und Gefangenenaustausch in der israelischen Gesellschaft breiten Anklang fand und Arbeiter*innen in den Generalstreik traten, reagierte Netanjahu mit einer Ausweitung des Krieges durch den Einmarsch im Libanon. Die libanesische Bevölkerung im Süden des Landes wurde von Israel zur Räumung der Region aufgefordert, ihre Städte und Dörfer beschossen.
Von Jan Hagel, Reinbek
Durch die Ausweitung des Krieges ist dem Netanjahu-Regime, das israelische Sozialist*innen als „Regierung des Todes“ bezeichnen, gelungen, das iranische Mullah-Regime zum Abschuss von Raketen auf Israel zu provozieren. Diese ermöglichen Netanjahu wiederum, sich als “Beschützer” der Israelis vor ihren Feinden zu inszenieren. Die Proteste für einen Gefangenenaustausch und Waffenstillstand in Gaza sind deutlich kleiner geworden.
Dem gleichen Zweck dienten die Tötungen der obersten Hamas- bzw. Hisbollah-Führer Haniyeh und Nasrallah im Libanon bzw. Iran. Sie wurden propagandistisch ausgeschlachtet, aber der militärische Effekt ist begrenzt. Trotz aller technologischer Überlegenheit ist die israelische Armee nicht in der Lage, die Geiseln (lebend) zu befreien und kann den Abschuss von Raketen aus dem Libanon nicht verhindern. Selbst aus Gaza werden noch gelegentlich Raketen abgeschossen. Die Hamas führt weiterhin einen Guerillakrieg gegen die Besatzungstruppen.
Die Hisbollah wurde zwar durch Geheimdienstaktionen wie die Explosion ihrer Funkgeräte und die Tötung hoher Offiziere geschwächt, ist aber immer noch in der Lage, israelische Soldat*innen zu töten, bei Gefechten im Libanon und durch Raketenangriffe auf Basen in Israel.
Genozidale Kriegführung
Israel wendet im Libanon wie schon in Gaza die “Dahieh-Doktrin” der strategischen Bombardierung an, die die scheinbar wahllose Zerstörung von Wohnhäusern, Infrastruktur und ziviler Betriebe beinhaltet, um die Bevölkerung permanenter Lebensgefahr auszusetzen und die wirtschaftlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. So wurden zum Beispiel Schulen, Bäckereien oder das Rathaus der libanesischen Stadt Nabatiya bombardiert. Ziel ist, dass die Menschen fliehen oder in einem verzweifelten Versuch, den Krieg zu beenden und zu überleben, gegen “ihre” politische Führung – die Hisbollah bzw. Hamas – revoltieren und sie zur Kapitulation zwingen. Aber diese Doktrin, die Israel schon 2006 im Libanon anwandte, funktioniert nicht. In Zeiten der Festung Europa und völlig überfüllter Flüchtlingslager in der Region ist Flucht für viele keine Perspektive.
Viele Menschen sehen die islamistischen Milizen als einzige Kraft, die sie verteidigt oder zumindest versucht, Rache zu nehmen. Wenn sie schon zu tausenden sterben müssen, finden sie eine Art Trost in der Hoffnung, dass Hamas und Hisbollah vielleicht mal eine israelische Militärbasis oder Familie mit einer Rakete erwischen. Diese Logik der Verzweiflung spielt wiederum der israelischen Propaganda vom Krieg als Selbstverteidigung in die Hände.
Israels “Regierung des Todes” bezeichnet alle zerstörten Gebäude als Hamas- bzw. Hisbollah-Basen – die Dahieh-Doktrin besagt, dass es im Einflussbereich der Hamas bzw. Hisbollah keine feindliche Zivilbevölkerung gibt, dass alle Menschen dort Kämpfer*innen und Gebäude, in denen sie wohnen oder sich aufhalten, folglich militärische Basen sind. Demnach sei es legitim und militärisch geboten, die Bevölkerung in Gaza und dem südlichen Libanon mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Anfang Oktober verhinderte Israel zwei Wochen lang die Versorgung des umkämpfen Nord-Gaza mit Nahrungsmitteln komplett, um die dort verbliebenen 3-400.000 Menschen zu vertreiben oder verhungern zu lassen. Die Bewohner*innen wollen oder können ihre Häuser nicht verlassen, denn auf dem Weg in die “humanitäre Zone”, in der Israel Palästinenser*innen in Gaza das Leben gestattet, droht der Tod durch Beschuss. Die Zone ist völlig überfüllt und wer dorthin geht, muss damit rechnen, nie mehr zurückkehren zu können.
Widerstand, aber wie?
Die auf diese Art angegriffene Bevölkerung hat das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung gegen die israelische Armee. Racheakte wie Raketenbeschuss oder Terroranschläge gegen israelische Zivilist*innen sind jedoch kontraproduktiv. Solche Aktionen stärken die die Regierung und die zionistische Ideologie und treiben die israelische Gesellschaft weiter nach rechts. Der bisher “erfolgreichste” Angriff dieser Art, der 7. Oktober, bei dem Zivilist*innen verschiedener Religionen und Ethnien und auch Gegner*innen der Besatzung ermordet wurden, lieferte Netanjahu den Vorwand für den aktuellen Krieg.
Stattdessen wäre ein demokratisch organisierter Widerstand von unten nötig, der an die israelische Arbeiter*innenklasse appelliert, den Krieg durch Proteste und Streiks zu beenden. Die im Spätsommer stattgefundenen Massenproteste und Streiks gegen Netanjahu und für einen Gefangenenaustausch zeigen, dass es möglich ist, dass sich die Widersprüche in der israelischen Gesellschaft zuspitzen und der Rückhalt von Regierung und herrschender Klasse in der Bevölkerung geschwächt wird. Es ist jedenfalls nicht unwahrscheinlicher, als Krieg und Besatzung durch einen entscheidenden militärischen Sieg über die mit Hilfe der USA und Deutschlands hochgerüstete Atommacht Israel zu beenden.
Geopolitischer Kontext
Im Kontext der Blockkonfrontation mit China billigen die USA Netanjahus Krieg gegen die Hisbollah, um den Iran und damit den chinesisch-russischen Block zu schwächen. Das erklärt den Kurswechsel der US-Regierung, die vor einigen Monaten noch einen Waffenstillstand an der israelisch-libanesischen Grenze gefordert hatte, zur offenen Unterstützung der Invasion im Libanon.
Um den Iran zu schwächen und die eigene Rolle im US-geführten Block zu stärken, strebt auch Saudi-Arabien nach besseren Beziehungen zu Israel. Saudische Geheimdienste haben im April Informationen über geplante iranische Raketenangriffe an Israel geliefert. Das Königshaus ist allerdings trotz seiner diktatorischen Herrschaft gezwungen, gewisse Zugeständnisse an die saudische Bevölkerung zu machen und formal eine neutrale Position zu beziehen. Die offizielle “Normalisierung” der diplomatischen Beziehungen mit Israel wurde nach Ausbruch des Kriegs in Gaza abgeblasen, und in Reden bekennt sich der Kronprinz und faktische Regent Mohammed bin Salman zum Recht der Palästinenser*innen auf einen eigenen Staat.
Deutsche Waffen morden mit
Trotz einer großen eigenen Rüstungsindustrie importiert Israel Flugzeuge, Fahrzeuge, Ersatzteile, Waffen und Munition. Die Waffen stammen fast ausschließlich aus zwei Staaten: im Zeitraum 2019-2023 zu 69% aus den USA, zu 30% aus Deutschland. Zum deutschen Anteil gehört ein Kaufvertrag für drei noch in Planung oder im Bau befindliche U-Boote von Thyssenkrupp Marine Systems aus Kiel, die über eine Milliarde Euro pro Stück kosten, erst in den 2030er-Jahren geliefert werden und – wie auch schon andere U-Boote aus deutscher Produktion – als schwimmende Abschussrampen für Atomwaffen dienen sollen.
2023 wurden deutsche Waffen, Ersatzteile und Munition für 326,5 Millionen Euro an Israel geliefert, das meiste davon nach Ausbruch des Krieges in Gaza. 2024 waren es bisher Waffen im Wert von 140 Millionen, aber allein im August und September über 90 Millionen. Es ist zwar davon auszugehen, dass Importe aus den USA die aus Deutschland deutlich übersteigen, aber selbst wenn für die aktuelle Kriegsführung deutsche Waffen wenig ins Gewicht fallen, hätte ein Embargo durch einen von zwei nennenswerten Lieferanten große symbolische Wirkung und könnte den Druck der Antikriegsbewegung auf die US-Regierung verstärken, ebenfalls die Lieferungen einzustellen.
Den Krieg stoppen – nieder mit der Regierung des Todes
- Für einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten.
- Stoppt das genozidale Massaker und die Vertreibungen in Gaza, sofortiger Rückzug der israelischen Besatzungsarmee aus Gaza und Libanon.
- Verhandlungslösung jetzt – Austausch der Hamas-Geiseln gegen die in israelischen Gefängnissen inhaftierten Palästinenser*innen.
- Kostenlose Lieferung von Essen, Wasser, medizinischer Ausrüstung an die Menschen in Gaza – was immer benötigt wird.
- Heranziehen des Vermögens der Reichen und der Kriegsgewinnler, um den Wiederaufbau von Gaza und der anderen zerstörten Gebiete zu finanzieren.
- Keine Waffen und kein Geld für Israels Kriege – weltweites Embargo, durchgesetzt von Gewerkschaften und Transport-Arbeiter*innen.
- Internationale Solidarität – für eine koordinierte weltweite Bewegung gegen den Nahost-Krieg und für ein freies Palästina, für die Beteiligung der Gewerkschaften an dieser Bewegung.
- Nieder mit Netanjahus Regierung des Todes – für eine Massenbewegung von Jüd*innen und Araber*innen zum Sturz der kriegerischen Regierung. Stoppt den Sozialabbau, der die Kriege finanziert.
- Schluss mit Besatzung, Vertreibung und Siedlungsbau. Rückzug der Armee aus dem Westjordanland und Ost-Jerusalem und Auflösung der Siedlungen.
- Für ein Ende der imperialistischen Einmischung in der Region und jeder Form von nationaler Unterdrückung.
- Für den Aufbau einer internationalistischen, klassenbasierten Linken auf beiden Seiten der grünen Linie, für die Kooperation der palästinensischen und jüdisch-israelischen Linken.
- Für ein unabhängiges, demokratisches, sozialistisches Palästina mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, neben einem sozialistischen Israel, für eine freiwillige sozialistische Föderation des Nahen Ostens.