Die Offensive der überwiegend islamistischen Rebellen begann am 27. November in der Region Idlib und endete nach wenigen Tagen mit der Eroberung von Hama, Homs und Damaskus und dem völligen Zusammenbruch des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Diese Blitzoffensive wurde durch das Regime von Erdoğan unterstützt und seitens der USA mindestens geduldet.
Von Sascha Rakowski, Aachen
Al-Assad und seine Familie entkamen den vorrückenden Rebellen in die Hauptstadt seines Schutzpatrons Wladimir Putin. Die bonapartistische Diktatur des Assad-Clans, die seit 1974 herrschte, brach innerhalb weniger Tage zusammen. Die bewaffnete Opposition, angeführt von der Organisation „Haiʾat Tahrir asch-Scham“ (in den USA, der Türkei und Russland als terroristisch eingestuft), übernahm die Kontrolle über Damaskus und kündigte die Bildung einer Übergangsregierung an. Die syrische Armee hörte de facto auf zu existieren. Hunderttausende Polizisten, Soldaten, Beamte und Geheimdienstmitarbeiter verschwanden, als hätte es sie nie gegeben.
Pro-iranische Kräfte aus dem Libanon und dem Irak zogen sich zurück, ohne überhaupt in den Kampf einzugreifen. Der Transportkorridor Iran–Irak–Deir ez-Zor wurde unterbrochen. Der Präsidentenpalast wurde geplündert und in Brand gesetzt, die iranische Botschaft in Damaskus von der lokalen Bevölkerung verwüstet. Statuen vom Vater des Diktators Hafiz al-Assad und Porträts von Baschar al-Assad werden im ganzen Land zerstört.
Der Großteil der Bevölkerung, insbesondere in christlichen, schiitischen und alawitischen Gebieten, blieb passiv. Viele feierten den Sturz des Regimes auf den Straßen der großen Städte. Keine einzige ethnische oder konfessionelle Gruppe trat zur Verteidigung des Regimes an.
Russische Militärbasen wurden isoliert. Sie werden nicht angegriffen, was auf eine mögliche Vereinbarung zwischen den Aufständischen und den russischen Behörden hindeuten könnte. Dennoch bleibt ein bedeutender Teil der russischen Truppen in belagerten Garnisonen.
Israelische Panzer wurden auf dem seit 1967 von Israel besetzten Golan stationiert und unternahmen von dort aus weitere Vorstöße auf syrisches Territorium, möglicherweise, um Pufferzonen zu schaffen. Israelische Kampfflugzeuge haben ehemalige Basen der syrischen Armee sowie Waffenlager im Raum Damaskus bombardiert. Von der Türkei kontrollierte Kräfte der Syrischen Nationalarmee (SNA) haben eine Offensive gegen die Kurd*innen begonnen und am 10. Dezember die 70.000-Einwohner*innen-Stadt Manbidsch im Norden des Landes erobert.
Wie ein Kartenhaus
Der Hauptgrund für den schnellen Zusammenbruch Assads wird von vielen darin gesehen, dass seine wichtigsten Verbündeten – Russland und der Iran mit den vom Letzteren kontrollierten schiitischen Milizen – in anderen Kriegen gebunden waren und Damaskus keine Hilfe leisten konnten. Die syrische Armee zerfiel so schnell und stellte den Widerstand so abrupt ein, dass der Iran physisch nicht in der Lage war, Truppen zu entsenden.
Die Hauptursache für die Krise und den Zerfall des Staatsapparats war die Unfähigkeit des Assad-Regimes, soziale Probleme unter den Bedingungen von Sanktionen und einer anhaltenden Wirtschaftskrise zu lösen. Die knappen materiellen Ressourcen des Landes konzentrierten sich zunehmend in den Händen des Assad-Clans und seiner Gefolgsleute, während Millionen von Einwohner*innen buchstäblich am Rande des Überlebens standen. Laut Umfragen des International Rescue Committee (IRC) fehlte 60 % der Syrer*innen das Geld, um Lebensmittel zu kaufen. 90 % der Bevölkerung leben in Armut. 16,5 Millionen Syrer*innen, das entspricht drei Vierteln der Bevölkerung, sind direkt auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dies bedeutet eine fast zehnprozentige Verschlechterung der Situation im Vergleich zu 2023 und eine 25-prozentige Verschlechterung im Vergleich zum Jahr 2021.
Die wachsende Bereitschaft Assads und seiner Clique, sich aus Gründen der Selbsterhaltung dem russischen Imperialismus und der iranischen Diktatur zu unterwerfen, provozierte zunehmend den Unmut der Bevölkerung.
Nur wenige Jahre nach dem triumphalen Einmarsch der assadistischen, russischen und iranischen Kräfte im Norden des Landes gab es in Syrien buchstäblich keine einzige Militäreinheit mehr, die bereit war, das Regime zu verteidigen. Bemerkenswert ist, dass sich zu diesem Zeitpunkt sowohl die meisten Diktaturen der arabischen Welt als auch die meisten imperialistischen Akteure mit der Diktatur Baschar al-Assads abgefunden hatten. Doch die islamistischen Milizen und die türkische Regierung zerstörten dieses Konstrukt..
Achsenbruch
Ihr in Damaskus verändert die Kräfteverhältnisse in der Region grundlegend. Für den russischen Imperialismus ist dies eine schwerwiegende Niederlage. In Syrien gab es russische Militärbasen – wichtige Objekte nicht nur für die Präsenz im Nahen Osten, sondern auch für die Logistik der russischen Kräfte in Afrika. Vertreter der HTS-Miliz haben bereits erklärt, dass sie beabsichtigen, gute Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten. Doch al-Dscholani kündigte an, den Abzug ausländischer Militärbasen aus dem Land zu fordern. Der Einflussverlust Russlands in Afrika, der arabischen Welt und den BRICS scheint unvermeidlich.
Die Position der Türkei wurde deutlich gestärkt. Sie hat den größten Einfluss auf die an die Macht gekommenen Gruppierungen. Die Börsen haben den Sieg des regionalen Imperialisten bereits bemerkt. Die Aktien türkischer Bauunternehmen stiegen sprunghaft an, da erwartet wird, dass sie von den neuen Machthabern Aufträge zum Wiederaufbau Syriens erhalten. So stiegen die Kurse von Cimsa Cemento (Zementwerke) um 9 %, Iskenderun Demir (Baustahl) um 10 %. Der größte Baukonzern des Landes, Enka Insaat, erhöhte seine Marktkapitalisierung um fast 5 %.
Der Iran ist massiv geschwächt und hat die direkte Verbindung zu seinen Verbündeten von der libanesischen Hisbollah verloren. Die “Achse des Widerstandes” ist in der Mitte zerbrochen. Vor der jüngsten Entwicklung hatte der designierte US-Präsident Trump angekündigt, die US-Einheiten aus Syrien zurückzuholen. Jetzt könnte er angesichts der erneuten Schwächung des iranischen Regimes versucht sein, den Druck für einen “regime change” in Teheran zu maximieren und dafür das Territorium Syriens zu nutzen.
Das israelische Regime ist ein weiterer Gewinner. Netanyahu kann den Druck auf die Hisbollah verstärken. Angesichts der Aggressivität der rechtsextremen Regierung ist es möglich, dass sie dauerhaft Teile von Syrien – über die Golan-Höhen – hinaus militärisch kontrollieren wollen.
Die syrischen Kurd*innen verfügen über eine kampffähige Armee und haben eine eigene De-facto-Staatlichkeit geschaffen. Gleichzeitig ist für den türkischen Imperialismus die Beseitigung dieses kurdischen Staatsgebildes an seinen Grenzen von zentraler Bedeutung. Eines der Hauptziele der Türkei in Syrien wird laut der Zeitung Hürriyet, die sich auf Quellen beruft, der Kampf gegen die kurdische Bevölkerung sein: „Die Türkei hat drei Prioritäten in Syrien. Erstens, das ordnungsgemäße Funktionieren des Übergangsprozesses und der Aufbau eines neuen Syriens. Zweitens, den Kampf gegen die YPG und die PKK (die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans). Drittens, die Rückführung syrischer Flüchtlinge in ihr Heimatland.“
Gefahr eines neuen Bürgerkriegs
Die Machteroberung der islamistischen Milizionäre dürfte zugleich tektonische Auswirkungen auf die gesamte Region haben. Israel feiert einerseits den Sturz seines alten Gegners, fürchtet jedoch andererseits, dass die Hamas einen neuen Verbündeten in der Region gewinnen könnte. Sowohl König Abdullah von Jordanien als auch General Sisi in Ägypten dürften wenig erfreut über das Bild eines brennenden Präsidentenpalasts in Damaskus sein. Die Volksmassen in der Region könnten erneut in Bewegung geraten – von Marokko bis Iran.
Es besteht das Risiko, dass Syrien in das Chaos eines neuen konfessionellen Krieges stürzt. Al-Dscholani hat von religiöser Toleranz und dem Schutz von Minderheiten gesprochen. Doch es gibt keinen Grund, ihm zu trauen. Auch die Taliban behaupteten bei ihrer Machtergreifung 2021, die Frauenrechte zu respektieren. Aktuell dominiert die HTS, doch es gibt viele weitere bewaffnete Banden, auch der IS ist noch immer präsent. Akte der Gewalt gegen Schiit*innen und Christ*innen sind möglich, obwohl bislang keine schwerwiegenden religiösen Konflikte dokumentiert wurden.
Die regionalen und globalen imperialistischen Kräfte sind an einer Balkanisierung des Landes und seiner Aufteilung in Einflusszonen interessiert. Viele Anführer*innen von Milizen, ethnischen und konfessionellen Gruppen stehen unter der Kontrolle verschiedener imperialistischer Kräfte. So hat sich Israel bereits als Beschützer der syrischen Drus*innen positioniert, während die USA Militärbasen nicht nur in der kurdischen Region, sondern auch im Süden Syriens unterhalten. Gleichzeitig hat sich Erdoğan im Norden des Landes komfortabel eingerichtet.
Die entscheidende Frage in dieser Situation ist, ob es der arbeitenden Klasse und der Jugend gelingt, die Spaltung zu bekämpfen, die von pro-türkischen und islamistischen Gruppen ausgeht, ob es gelingt, konfessionelle und nationale Barrieren zu überwinden und einen gemeinsamen Kampf für die sozialen und demokratischen Interessen der Volksmassen zu führen und die Rechte aller Minderheiten – z.B. die Autonomie der kurdischen Region – zu verteidigen.
Jugendliche und Arbeiter*innen in Syrien sollten an den Erfahrungen der ersten Phase der Revolution von 2011 anknüpfen und demokratische Komitees, bestehend aus Menschen aus allen Ethnien und Religionen, aufbauen, basierend auf Betrieben, Stadtteilen und Dörfern. Diese Komitees sollten die Kontrolle über die vorhandenen Waffen übernehmen. Sie sollten dafür kämpfen, die natürlichen Ressourcen und die Betriebe in öffentliches Eigentum zu überführen.
Eine Massenbewegung für den Abzug aller ausländischen – israelischen, russischen, türkischen und US-amerikanischen – Truppen aus Syrien kann dazu beitragen, die Menschen über die bisherigen Gräben hinweg zu einen. Alleine kann Syrien sich nicht dem Chaos entziehen, das regionale Despoten und Imperialismus im Nahen Osten angerichtet haben. Es gilt, den Kampf auf eine internationale Ebene in der gesamten Region zu heben, unter anderem durch die Unterstützung des Kampfes der Palästinenser*innen gegen die Besatzung und den Genozid.
Wenn es nicht gelingt, eine multiethnische, multikonfessionelle Kraft aus der Arbeiter*innenklasse und der Jugend heraus zu bildens droht Syrien, in eine Abfolge weiterer konfessioneller, regionaler und nationaler Konflikte abzugleiten, aus denen große imperialistische Akteure, lokale Warlords, Banken und Banditen ihren Nutzen ziehen würden.
Karte: RowanJ LP, CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0, via Wikimedia Commons