Nach Trumps Ankündigung, den Krieg in der Ukraine nach seiner Amtseinführung so schnell wie möglich beenden zu wollen, bereiten sich alle Seiten des Konflikts auf Gespräche über einen Waffenstillstand vor. Währenddessen versuchen sie, ihre Position auf dem Schlachtfeld und damit am Verhandlungstisch zu verbessern. Derzeit scheint Russland dabei im Vorteil zu sein. Die russische Armee rückt beständig vor, die ukrainische Front ist unter Druck und bekommt Risse. Vor diesem Hintergrund wird in Europa über verstärkte Waffenlieferungen, aber auch über “Sicherheitsgarantien” für die Ukraine nach einem Waffenstillstand diskutiert.
Von Mika Wagner, Köln
Seit dem Scheitern der Sommeroffensive 2023 ist die russische Armee auf dem Vormarsch und verzeichnet langsame, aber stetige Gebietsgewinne im Donbass. Russland hat sowohl im Donbass als auch im ukrainisch besetzten Kursk, wo gerade eine Gegenoffensive vorbereitet wird, die Initiative. Im November 2024 verzeichnete Russland Gebietsgewinne von 600 Quadratkilometern, davon 235 allein in der letzten Woche des Monats. Das sind die größten russischen Geländegewinne seit März 2022. An mehreren Stellen gelangen der russischen Armee Durchbrüche, selbst ein Zusammenbruch der ukrainischen Front ist nicht auszuschließen. Denkbar ist auch eine weitere Ausdünnung der ukrainischen Frontstellungen, die den russischen Vormarsch beschleunigen würde, ohne dass die Front völlig kollabiert.
Kampf um Pokrowsk
Russische Truppen sind im Dezember bis auf wenige Kilometer an die ukrainische Stadt Pokrowsk in der Region Donezk vorgerückt. Zwar verlangsamt die ukrainische Verteidigung den Vormarsch, stoppen kann sie ihn jedoch nicht.
Der Fall von Pokrowsk hätte massive Auswirkungen für die ukrainische Armee. Pokrowsk ist ein wichtiger Knotenpunkt für die ukrainische Logistik, eine russische Eroberung würde zu Versorgungsengpässen bei den ukrainischen Streitkräften führen. Vor allem ist die Stadt Teil der dritten ukrainischen Verteidigungslinie: hinter der Stadt gibt es kaum noch Verteidigungsstellungen. Würde der russischen Armee der Durchbruch in Pokrowsk gelingen, könnte sie relativ schnell bis zum 150 Kilometer entfernten Fluss Dnipro vorstoßen. Dies könnte den Kollaps der ukrainischen Front auch an anderen Stellen, etwa in der Region Charkiw, nach sich ziehen. Der Charakter des Krieges würde sich von einem Stellungskrieg zu einem Bewegungskrieg wandeln.
Den ukrainischen Streitkräften mangelt es vor allem an Artilleriemunition und Soldaten. Während Russland pro Tag derzeit durchschnittlich 10.000 Artillerieschüsse abgibt, sind es bei der Ukraine nur 1800. Der dauerhafte russische Artilleriebeschuss dünnt die ukrainischen Verteidigungslinien aus und macht nennenswerte ukrainische Vorstöße unmöglich.
Massenhaftes Desertieren
Die Ukraine verfügt über etwa 900.000 aktive Soldat*innen, Russland etwa über 1,3 Millionen. Russland ist der Ukraine quasi an allen Frontabschnitten personell überlegen. Laut Schätzungen des Economist hat die Ukraine seit Februar 2022 etwa eine halbe Millionen Soldat*innen verloren, während es auf russischer Seite 460.000 bis 730.000 sind. Hunderttausende Männer im wehrdienstfähigen Alter sind aus der Ukraine geflohen, weitere 800.000 verstecken sich innerhalb der Ukraine vor der Zwangsrekrutierung durch die Militärpolizei.
In der Ukraine leben derzeit noch etwa 15 Millionen wehrfähige Männer, in Russland sind es 46 Millionen. Das Selensky-Regime kann sich neue Rekrutierungswellen politisch kaum leisten, der Krieg ist zunehmend unpopulär, die Militärpolizei in großen Teilen der Bevölkerung verhasst, die Desertionsquoten hoch. Der Enthusiasmus, für die Verteidigung des eigenen Landes zu kämpfen, der 2022 in großen Teilen der Bevölkerung vorherrschte, ist verflogen. Er ist dem Wunsch nach einem Ende des aussichtsloser werdenden Krieges gewichen. Eine neue massenhafte Rekrutierungswelle könnte das Selensky-Regime innenpolitisch gefährden.
Die ökonomische, demographische und militärische Überlegenheit Russlands kann durch die bisherigen westlichen Waffenlieferungen nicht ausgeglichen werden. Diese reichten nicht mal zur Stabilisierung der ukrainischen Front. Die Munitionsbestände der NATO sind weitestgehend aufgebraucht und nur eine Umstellung zur Kriegswirtschaft könnte den ukrainischen Bedarf decken. Eine Erreichung der ursprünglichen westlichen Kriegsziele, also die Wiederherstellung der Ukraine in ihren Grenzen von 2013, wäre daher nur mit massiver Eskalation durch die direkte Entsendung von NATO-Truppen möglich.
Verhandlungen oder Eskalation?
Zunächst standen vor diesem Hintergrund bei der NATO die Zeichen auf Eskalation. Mit der Entscheidung Bidens zur Freigabe von ATACMS für die Verwendung gegen Ziele auf russischem Territorium wurde ein weiterer Schritt in Richtung Eskalation getan, in der Hoffnung, dadurch die ukrainisch kontrollierten Gebiete in Kursk halten zu können. Zeitgleich nahm die Debatte über die Entsendung von NATO-Truppen vor allem in Polen, Frankreich und Großbritannien wieder Fahrt auf.
Das Putin-Regime reagierte mit Demonstrationen seiner nuklearen Stärke. Mit der Änderung der russischen Nukleardoktrin und dem Beschuss der ukrainischen Großstadt Dnipropetrowsk mit einer nuklear bestückbaren Oreschnik-Mittelstreckenrakete sendete das Putin-Regime eine deutliche Erinnerung an die NATO: Russland ist die weltweit größte Atommacht, mit 4800 einsatzfähigen Atomsprengköpfen und könnte mit Oreschnik-Raketen mit etwa 6000 Kilometern Reichweite London, Paris und Berlin einäschern. Putins Regierung zeigt damit vor allem ihre Bereitschaft, im Ernstfall auch taktische Nuklearwaffen auf ukrainischen Boden einzusetzen.
Diese Drohungen scheinen bei der NATO angekommen zu sein. Die eskalative Rhetorik wurde ab Ende November 2024 zurückhaltender . Die NATO und das Selensky-Regime scheinen sich von dem Ziel verabschiedet zu haben, das ukrainische Staatsgebiet in seinen Grenzen von 2013 wiederherzustellen. Man hat eingesehen, dass zumindest auf dem ukrainischen Schlachtfeld der Krieg ohne direkten Kriegseintritt der NATO nicht gewonnen werden kann. Daher wird jetzt von “vorübergehenden Gebietsabtretungen” im Donbass und daran geknüpften Sicherheitsgarantien für die Ukraine gesprochen.
Während der Westen sich in der gegenwärtigen Situation zu Verhandlungen gezwungen sieht, befindet sich die russische Armee im Donbass in einer Situation der Stärke. Putin hat erstmal kein Interesse an einem Ende des Krieges, in dem seine Armee kontinuierlich Geländegewinne erzielt. Russland kann den Krieg weiterführen, der Westen nicht, zumindest nicht in der bisherigen Form. Daher müsste die NATO für einen Waffenstillstand massive Zugeständnisse an Russland machen. Deshalb gibt es auf westlicher Seite immer noch die Hoffnung, vor Verhandlungen den russischen Vormarsch durch verstärkte Waffenlieferungen zumindest noch zu stoppen, wenn man ihn schon nicht zurückschlagen kann. Das Risiko einer Eskalation des Krieges besteht trotz der Perspektive von Verhandlungen fort.
Der Fall Assads in Syrien könnte auch Auswirkungen auf einen Waffenstillstand in der Ukraine haben. Die Verluste, die der Westen im Donbass verzeichnet, wurden tausende Kilometer weiter durch die Schwächung der russischen Stellung in Nahost kompensiert. Es ist also denkbar, dass die Nutzung syrischer Häfen durch die russische Marine, die essentiell für die russische Macht im Mittelmeer und Afrika ist, zur Verhandlungsmasse in der Ukraine wird. Der Sturz Assads könnte nun auch Putin dazu drängen, in Verhandlungen zu gehen, obwohl die russische Stellung in der Ukraine gerade stark ist.
Auch Trump wird keinen Frieden bringen
Aber auch Verhandlungen unter der kommenden Trump-Regierung werden keinen dauerhaften Frieden bringen. Trump geht es nicht um Frieden, sondern um eine vorläufige Pause im Konflikt mit Russland. Er vertritt eine Strategie für den US-Imperialismus, die die volle Konzentration der militärischen Kräfte auf den Konflikt mit China vorsieht, um die kommende Auseinandersetzung im Westpazifik vorzubereiten. Daher möchte er die USA vom europäischen Schauplatz der imperialistischen Blockkonfrontation zurückziehen und die Aufrechterhaltung der Front gegen Russland der EU und Großbritannien überlassen. Besonders Frankreich und Großbritannien als die beiden größten Militärmächte Europas, aber auch Deutschland und verschiedene osteuropäische Staaten sollen unter anderem durch die Entsendung eigener Truppen in die Ukraine einen “Waffenstillstand garantieren” bzw. ein späteres Wiederaufflammen des Krieges militärisch vorbereiten.
Es lässt sich bereits erahnen, dass ein Waffenstillstand keinen dauerhaften Frieden in der Ukraine bringen wird. Vielmehr geht es darum, dem Westen eine Atempause zu verschaffen, um die eigenen Kräfte zu konsolidieren und sich auf weitere militärische Auseinandersetzungen um den Donbass und die Krim vorzubereiten. Das wird schon dadurch deutlich, dass auf westlicher Seite von “vorübergehenden Gebietsabtretungen” an Russland gesprochen wird. De jure sollen die russisch besetzten Gebiete ukrainisches Staatsgebiet bleiben und die Zugehörigkeit zu Russland von der NATO lediglich geduldet werden.
Offiziell spricht der Westen jetzt davon, diese Gebiete auf diplomatischem Wege zurückzuholen. Aber die Anwendung militärischer Mittel beim Scheitern dieser Diplomatie bleibt weiterhin möglich. Mit der direkten Stationierung von Bodentruppen als “Friedenswächter” wird bei einer solchen Eskalation eine direkte Beteiligung von NATO-Truppen garantiert, sodass der Kampf um die Ukraine einen noch gefährlicheren Charakter annehmen würde.
Kapitalismus heißt Krieg
Kein*e Vertreter*in der herrschenden Klasse, weder Trump noch Biden, weder Merz noch Scholz kann der Welt Frieden bringen; egal ob in der Ukraine oder im Nahen Osten. Denn sie sind als Vertreter*innen imperialistischer Staaten Teil eines Systems, das notwendig immer neue Kriege hervorbringt. Der Kampf zwischen dem US-amerikanischen und chinesischen Imperialismus um die weltweite Hegemonie hat bereits in der Ukraine und im Nahen Osten zu blutigen Kriegen um Rohstoffe, Märkte und Einflusssphären geführt, bei denen die arbeitende Klasse nichts zu gewinnen hat. Auch in Zukunft wird dieser globale imperialistische Konflikt immer wieder zu direkten und indirekten Konfrontationen zwischen den Blöcken führen, selbst wenn es erst mal nicht zum großen Entscheidungskampf in Form eines Dritten Weltkriegs kommt.
Nur gemeinsame Aktionen der internationalen Arbeiter*innenklasse können diese Dynamik von Eskalation und Krieg durchbrechen und dem kapitalistischen System, das für Arbeiter*innen nur Zerstörung, Leid und Tod bereit hält, eine sozialistische Alternative entgegensetzen. Dafür müssen wir eine starke und unabhängige internationalistische Antikriegsbewegung aufbauen, die sich nicht auf die Seite eines imperialistischen Blocks stellt.
Linke und Gewerkschafter*innen in der Ukraine sollten für ein Ende der Zwangsrekrutierung eintreten, gegen den Beschuss russischen Territoriums und für einen sofortigen Waffenstillstand. Nötig ist ein sozialistisches Programm für Frieden, gegen Annektionen und gegen militärische Besatzung. Die lokale Bevölkerung im Donbass und auf der Krim muss demokratisch entscheiden können, wie sie sich staatlich organisiert. Alle Truppen müssen in die Kasernen zurück. Die Soldat*innen müssen die Offiziere und die staatliche Führung zwingen, auf jegliche militärische Offensiven zu verzichten.
Eine antiimperialistische ukrainische Arbeiter*innenbewegung kann an die russischen Soldat*innen appellieren, die Angriffe einzustellen und kann ein Vorbild sein, indem sie sich gegen ihre eigene herrschende Klasse und deren korrupte, zynische Politik wendet.
Die Regierung Selenskyj hat das Streikrecht und demokratische Rechte massiv eingeschränkt, den Druck auf die Löhne verstärkt und ist bereit, die Betriebe und Bodenschätze der Ukraine komplett an westliche Konzerne auszuliefern, um von der NATO Geld und Waffen zu bekommen. Notwendig ist stattdessen die Enteignung der Oligarch*innen und die demokratische Planung der Wirtschaft, um den Wiederaufbau von unten zu gestalten. Das wäre eine starke Anregung für die russischen Soldat*innen, sich ebenso um die Probleme zuhause zu kümmern und mit dem Putin-Regime abzurechnen, welches für seine Machtinteressen Zehntausende in den Tod geschickt hat.
Karte: Viewsridge, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons