Die Regierung ist nicht gescheitert, weil Lindner ein Lügner, Verräter oder Egomane ist (was er sich er ist), sondern weil es Uneinigkeit über das Krisenmanagement in einem neuen Zeitalter gibt. Mit dem Handelskrieg zwischen den USA und China, aber spätestens mit Russlands Invasion der Ukraine, war das Zeitalter der neoliberalen Globalisierung vorbei. Scholz rief die “Zeitenwende” aus. Deutschlands Geschäftsmodell, mit niedrigen Löhnen und hoher Produktivität unbeschränkt Waren in alle Welt zu exportieren, ist Geschichte. Zölle und Embargos ersetzen den Freihandel. Aufrüstung und Militarisierung nehmen weltweit zu.
Von Sebastian Rave, Bremen
In den herrschenden Klassen aller Länder ist ein Richtungsstreit darum ausgebrochen, wie man sich an die neue Weltlage anpasst. Mehrere Krisen müssen parallel gemanagt werden. Da wäre zunächst die kapitalistische Überakkumulationskrise, in der die Nachfrage nicht der enormen Produktivität der modernen Industrien Schritt halten kann. Niemand kann zum Beispiel all die Autos kaufen, die produziert werden könnten – in der Krise werden die Überkapazitäten dann abgestoßen, Hunderttausende drohen, ihre Jobs in der Autoindustrie zu verlieren. In den periodischen Krisen der letzten Jahrzehnte konnte China immer wieder als “Lokomotive” den Karren aus dem Dreck ziehen, aber erstens kriselt die chinesische Wirtschaft selbst, und zweitens ist China längst nicht mehr nur Rohstofflieferant und -verarbeiter, sondern hochentwickeltes Industrieland mit eigener Autoindustrie und ist selbst zum imperialistischen Konkurrenten geworden.
In früheren Überakkumulationskrisen sprang der Staat ein, um mit Investitionen und Subventionen die Kaufkraft anzukurbeln oder gleich zu ersetzen. Erinnert sei an die “Abwrackprämie” unter Merkel, oder an gigantische Anleihenkaufprogramme, um in der Finanzkrise 2007-2008 strauchelnde Banken, die “too big to fail” waren, zu retten. Doch die Corona-Krise hat die Staatsverschuldungen noch weiter ansteigen lassen. Die bestehenden Schuldenberge und der Zinsdruck beschränken dieses Mittel der Krisenbewältigung.
Dazu kommt die Rückkehr des im Zeitalter des Neoliberalismus totgesagten Gespenstes der Inflation, das durch mehrere Faktoren angetrieben wird: Die zwischenimperialistische Polarisierung bedeutet Strafzölle und höhere Energiepreise. Die Rückverlagerung von Produktion in die Sphären des eigenen imperialistischen Block erhöht den Geldfluss innerhalb der eigenen Volkswirtschaft. Der Klimawandel und seine Folgen verknappen Lebensmittel. Einzelne Kapitalist*innen nutzen die Situation, um die Preise künstlich hochzutreiben (“Gierflation”). Überschüssiges Kapital auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten überschwemmt Finanz- und Immobilienmärkte und führt zur Bildung von Spekulationsblasen. All das treibt die Lebenshaltungskosten in die Höhe und verschärft die Absatzkrise. Die Zinspolitik der Zentralbanken scheitert bei der Bändigung der Inflation. Auch, weil höhere Zinsen zwar den Geldfluss verlangsamen und damit die Inflation theoretisch bremsen sollten, aber eben auch die Zinslast für öffentliche Haushalte verschärfen würden.
Gegensätze und Gemeinsamkeiten
Die bürgerliche Krisenbewältigung selbst ist also in der Krise. Das nagt an der Legitimität der ehemaligen Massenparteien, egal ob sozialdemokratisch oder konservativ. Weltweit ist zu beobachten, wie traditionelle Parteien an Rückhalt verlieren, und Oppositionskräfte anwachsen, manchmal von links, viel zu häufig von rechts. Rechte schaffen es besser, an den herrschenden Diskurs anzuknüpfen, der von Nationalismus und Abschottung geprägt ist. Die AfD ist Deutschlands Krisengewinnerin Nummer 1. Sie verbindet Hetze gegen Migrant*innen mit einem Appell an die weitverbreitete Skepsis gegenüber der NATO.
Denn bei einem sind sich die bürgerlichen Parteien aller Farben einig: Aufrüstung. Und die ist teuer. Für das Bundesverteidigungsministerium sind im Haushalt 2025 53 Milliarden Euro vorgesehen. Mehr als jeder zehnte Euro des Staatshaushalts wird zukünftig ins Militär gesteckt.
Vor diesem Hintergrund findet der Streit um die Krisenbewältigung statt. Die FDP hat die Koalition platzen lassen, weil ihre Vorstellung von brutalen Kürzungen und das fast schon religiöse Klammern an der Schuldenbremse nicht mit der Vorstellung ihrer ehemaligen Koalitionspartner*innen zusammen passte. SPD und Grüne wollen die Krise durch die indirekte Förderung des Kapitals überwinden (Industriestrompreis, Steuererstattungen, “Deutschlandfonds”), mit dem Ziel, sich aus der Krise heraus zu investieren. Dafür soll auch die Schuldenbremse etwas aufgeweicht werden.
Der Streit zwischen den offenen Kürzungsparteien CDU und FDP auf der einen Seite und SPD und Grünen auf der anderen ist weniger grundsätzlich als es scheint. Beide Lager sind sich einig, dass Aufrüstung und Abschottung, Geschenke ans Kapital und Kürzungen nötig sind. Es geht eher um die genaue Geschwindigkeit und Ausgestaltung der Maßnahmen, und ob man ein bisschen Rücksicht auf Zivilgesellschaft und Gewerkschaften simuliert oder brutal durchregiert.
Wohin nach der neoliberalen Globalisierung?
Das Aus der Ampel ging einher mit dem Ende der französischen Regierung, die ebenfalls über die Wirtschafts- und Haushaltspolitik stolperte. In Belgien ist die Bildung einer Koalition auch nach einem halben Jahr nach der Wahl gescheitert. Auch in Österreich behindert ein Haushaltsstreit die Regierungsbildung, die jetzt schon drei Monate dauert. In den Niederlanden ist die erst ein halbes Jahr alte rechte Regierung mehr als wackelig.
Einen besonderen Ausblick auf den Charakter der Post-Neoliberalen-Globalisierungs-Ära sehen wir in Südkorea: Der Putschversuch von Präsident Yoon scheiterte zwar, machte aber deutlich, dass die parlamentarische Demokratie nicht das einzige politische Modell einer kapitalistischen Wirtschaft ist. Anlass des Putsches von oben war ein Streit über den Haushalt, für den Yoon keine parlamentarische Mehrheit fand. Instabile Regierungen ohne deutliche Mehrheiten führen vor dem Hintergrund der multiplen Krisen zur Stärkung von autoritären und bonapartistischen Tendenzen, zum Aushebeln von Parlamenten und zur Konzentration von Macht in den Händen der Exekutive, um Aufrüstung und Kürzungsprogramme durchzusetzen. Macron versucht das auf institutionell-legaler Ebene, Yoon mit dem Brecheisen. Von dem werden wir in dem neuen Zeitalter wohl mehr sehen.