Den Kurd*innen im Norden des syrischen Staates blieb keine Zeit, sich über den Sturz der Diktatur Assads zu freuen. Durch die kombinierte Militärmacht Erdogans und seiner sich jetzt in Damaskus an der Macht befindenden syrischen Verbündeten sind die Hochburgen der kurdischen Autonomie massiv bedroht. Im Kampf gegen den IS waren die kurdischenMilizen der YPG noch willkommene Bodentruppen – aber jetzt sind die USA und Deutschland entschlossen, sie fallen zu lassen. Dieser Verrat am unterdrückten kurdischen Volk ist Teil einer langen imperialistischen Tradition.
von Marcus Hesse, Aachen
Zum Jahreswechsel 2024/2025 kämpfen die bewaffneten Einheiten der kurdischen YPG, größtenteils auf sich allein gestellt und als Kern der Allianz “Syrisch Demokratische Kräfte” (SDF) gegen die Angriffe der türkischen Armee und die Milizen der von Ankara gestützten islamistischen “Syrischen Nationalarmee” (SNA), die ein bewaffneter Teil der Koalition der neuen syrischen Machthaber von der HTS-Koalition ist. Die kurdischen Autonomiegebiete, allen voran Kobanê und Qamischli, die 2013-2015 in aufopferungsvollen Kämpfen gegen die Horden des IS verteidigt wurden, sind massiv bedroht. Schon 2019 hat die türkische Armee immer wieder Angriffe auf die Gebiete gestartet, ist dort mit Truppen eingedrungen und hat mit Bombenterror aus der Luft die Kurd*innen attackiert. Seit dem Machtwechsel in Damaskus Anfang Dezember sieht Erdogans Regime die Chance, zusammen mit den neuen Machthabern in Syrien der bewaffneten kurdischen Autonomie unter Führung der linken Befreiungsbewegung PYD (syrische Schwesterpartei der PKK) den Garaus zu machen. Hassan al-Hamwi, ein militärischer Führer und Sprecher der HTS hat bereits deutlich gemacht, dass das neue Syrien unteilbar sei und er keinen Raum für eine kurdische Autonomie sehe. Er fordert die Auflösung aller militärischen Einheiten der YPD/SDF und die Durchsetzung des Gewaltmonopols des islamistischen neuen Staates und seiner Armee. Zeitgleich agieren von der Türkei unterstützte islamistische Milizen wie die der SNA ungeniert weiter und gehen militärisch und repressiv gegen Kurd*innen vor. Erdogan fordert offiziell “nur” einen Rückzug der YPG-Einheiten aus einer 30 Kilometer breiten Pufferzone in der Nähe der türkischen Grenze unter Kontrolle der türkischen Armee. Das aber würde die Übergabe Kobanês und seiner Bevölkerung an das türkische Militär bedeuten. Die Kurd*innen lehnen dies natürlich ab, weil es das Ende ihrer Autonomie und Selbstverwaltung wäre und eine Selbstauslieferung unter Erdogans repressive Herrschaft. Im blutigen Chaos des seit dreizehn Jahren wütenden syrischen Bürgerkriegs konnte die linke PYD sich im Machtvakuum zwischen dem Assad-Regime und Rebellengruppen sowie dem rivalisierenden westlichen und russischen Imperialismus und lokalen Mächten etablieren und mit Unterstützung der USA, vom Assad-Regime geduldet bis Dezember 2024 überleben. Die veränderten, stark zu Gunsten der Türkei und dem Westen ausfallenden Machtverhältnisse gefährden dies und drohen der kurdischen Autonomie in Rojava die Luft abschnüren.
Aktuelle Rolle des Imperialismus
Die stark von kurdischen Kräften getragenen SDF sind formal bis heute Verbündete der USA. Die NATO hat sie vor mehr als zehn Jahren für den Kampf gegen den IS gebraucht. Während die YPG-Einheiten als Bodentruppen den Kampf gegen die Jihadisten geführt haben, haben US-Kräfte den IS vor allem aus der Luft attackiert. Bis heute sind 2000 US-Soldat*innen in Syrien stationiert, die allerdings die Türkei und die SNA gewähren lassen. Dem US-Imperialismus geht es natürlich um die Ölquellen des nördlichen Euphratgebietes, Donald Trump hat das während seiner ersten Amtszeit explizit öffentlich gesagt. Mit dem Sturz des Baath-Regimes um Assad hat der russische Imperialismus und der Iran eine Niederlage erlitten. Russische Truppen ziehen sich aus Syrien zurück. Gleichzeitig hat Israel, das unter Netanjahu gerade Amok läuft, nach Gaza und Libanon seine Truppen jetzt auch tief ins südliche Syrien vordringen lassen. Es ist daher absurd, wenn so getan wird, als sei der Bürgerkrieg in Syrien zu Ende. In Deutschland tun dasunter anderem die Bundesregierung und die rechte Unions-Opposition, die sich schon auf Massenabschiebungen nach Syrien freuen. Dabei haben die HTS-Führer recht deutlich gemacht, dass sie für ein reaktionäres und frauenfeindliches islamistisches Programm stehen, was für demokratische Rechte, Frauen und Mädchen, LGBTIQ+, sowie für nationale und religiöse Minderheiten massiv bedrohlich ist. Der US-Imperialismus unter der scheidenden Biden-Administration hat seine bereitwillige Kooperation mit der HTS-Führung deutlich gemacht und für führende Persönlichkeiten der Al Qaida-Abspaltung kurzerhand ein ausgesetztes Kopfgeld gestrichen. Der neue Präsident Donald Trump hat Erdogan öffentlich seine Bewunderung dafür ausgesprochen, Syriens „erfolgreiche Übernahme” geschafft zu haben. Es ist davon auszugehen, dass der US-Imperialismus, der natürlich niemals ein Verbündeter linker und emanzipatorischer Bewegungen war, die militärische Hilfe für die kurdische Autonomie fallen lassen wird. Der türkische Staat hält den PKK-Führer Abdullah Öcalan seit einem Vierteljahrhundert (1999) gefangen und versucht mit der Rückendeckung des Westens Druck auf ihn auszuüben, damit er seinen syrischen Anhänger*innen die Abgabe der Waffen befiehlt. Auch der deutsche Imperialismus schwenkt auf Erdogans Kurs ein. Noch-Außenministerin Baerbock hat sich mit ihrem türkischen Amtskollegen getroffen und demonstrativ von der kurdischen PYD gefordert, die Waffen abzugeben und sich ganz dem Gewaltmonopol des mit dem türkischen Regime verbündeten HTS-Regimes unter zu ordnen. Sie bezeichnete die Forderung des türkischen Staates und NATO-Partners nach Sicherheit in den angrenzenden syrischen Gebieten als legitim. Damit stellt sich der deutsche Imperialismus ultimativ gegen die kurdische Autonomie und fordert von der PYD und ihren Kämpfer*innen klar den politischen Selbstmord. Eine Besetzung der kurdischen Gebiete durch SNA und HTS würde wahrscheinlich mit der Ermordung oder Vertreibung großer Teile der Bevölkerung einhergehen. Halbherzige rhetorische Forderungen nach Schutz der Kurd*innen und Kritik am Islamismus des HTS ändern daran nichts. Baerbocks “feministische” Außenpolitik ist eben nur heiße Luft, die zynische imperiale Machtpolitik vernebelt. Neu ist diese Haltung aber nicht – denn Deutschland war immer repressiv gegenüber der kurdischen Befreiungsbewegung um die PKK/PYD – auch als man sie zeitweise gegen den IS brauchen konnte.
Tradition des Verrats
Imperialistische Mächte und Regionalmächte im vorderasiatischen Raum haben immer wieder versucht, die kurdischen Autonomiebestrebungen zu instrumentalisieren und für ihre Interessen einzuspannen. Großbritannien und Frankreich haben nach dem Untergang des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg künstliche Grenzen gezogen und dabei die Kurd*innen, diese größte Nation ohne eigenen Staat, hintergangen.
Die rechten, nationalistischen Kräfte um den Barzani-Clan im Nordirak (die dort eine bewaffnete Autonomie im Rahmen des irakischen Staates anführen) sind enge außenpolitische Verbündete des Westens, der USA, Israels und deutschen Imperialismus. Im Zweiten Golfkrieg gegen Saddam Hussein 1991 wurden Iraks Kurd*innen als Verbündete instrumentalisiert, aber gleich darauf vom US-Imperialismus fallen gelassen und wurden damit ins offene Messer Saddam Husseins laufen gelassen. Iraks kurdische Befreiungsbewegung wurde der blutigen Rache des von den USA damals bewusst noch nicht gestürzten irakischen Regimes ausgesetzt.
Die linken Kurd*innen um die PKK in der Türkei wurden in den USA und in der EU seit den 1990ern durchweg als “Terrororganisation” stigmatisiert und unterdrückt. Die Türkei unterdrückt die Kurd*innen systematisch mit NATO-Hilfe. Aber gegen den IS konnten die westlichen Imperialist*innen die linken Kurd*innen Rojavas und ihre Opferbereitschaft gut gebrauchen und als verbündete Bodentruppen gegen die militanten Jihadisten des IS nutzen. Ein Ende des PKK-Verbots gab es dennoch nicht.
Dass die Führung der PYD zeitweise die militärischen taktischen Allianz mit dem Westen zu einen vermeintlich “gemeinsamen Kampf für Demokratie” gegen den IS und andere Jihadist*innen erklärte, war und ist politisch falsch und irreführend. Hier wurde aus tatsächlichen oder vermeintlichen taktischen Notwendigkeit eine politische Tugend gemacht. Ein über militärische Absprachen hinausgehendes politisches Bündnis mit dem US-Imperialismus ist auch Hindernis für eine Verbindung der kurdischen Befreiungsbewegung mit den Arbeiter*innen, armen Bäuer*innen und der fortschrittlichen Jugend in den arabischen Ländern, im Iran und in der Türkei. Um mit Rosa Luxemburgs Worten zu sprechen, ist es eine revolutionäre Tat, ehrlich zu sagen, was ist: Eine linke Bewegung, die für Selbstverwaltung von unten und Selbstermächtigung der Unterdrückten steht und die den Kapitalismus in Frage stellt, kann niemals mit der Unterstützung und Gunst imperialistischer und kapitalistischer Mächte rechnen.
Echte Freund*innen und verlässliche Verbündete kann die kurdische Befreiungsbewegung nur in der internationalen Arbeiter*innenklasse sowie der sozialistischen und sozialistisch-feministischen Bewegung finden – im gemeinsamen Kampf für eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung – also ohne Kapitalismus.
Foto: ANF