Griechenland: Größte Kundgebungen seit 2012 Proteste gegen das “Zugverbrechen”
Am 28. Februar 2023 gab es auf der Zugstrecke Athen-Thessaloniki bei Tempi einen Zusammenstoß zwischen einem Personenzug und einem Güterzug. Etwa 60 Tote und etwa 25 Schwerverletzte waren die Opfer diesess Zugunglückn Zugunglücks in der griechischen Geschichte. Viele bezeichnen es als “Zugverbrechen”, wofür die Vernachlässigung der griechischen Bahn durch den griechischen Staat verantwortlich sei. 2025 haben sich die Proteste gegen die Verantwortlichen zu den größten Kundgebungen seit den Protesten gegen das Kaputtkürzen Griechenlands im Zuge der Euro-Krise 2012 ausgeweitet.
Von Hubert Schönthaler, Köln
Das ehemals staatliche griechische Bahnunternehmen OSE war von der griechischen Regierung privatisiert und an die italienische Staatsbahn Ferrovie dello Stato Italiane verkauft worden. Die Zeitung “Kathimerini”, vergleichbar mit der deutschen FAZ, schreibt über die Massenmobilisierung am 26.1.2025 und ihre Ursachen: “Bei einer der größten Demonstrationen der letzten Jahre auf dem Syntagma-Platz in Athen versammelten sich am Sonntag Zehntausende Menschen, um Gerechtigkeit für die Zugkatastrophe von Tempi zu fordern … Die Proteste folgten auf die Veröffentlichung einer neuen erschreckenden Tonaufnahme, die darauf hindeutet, dass Dutzende von Opfern bei der Katastrophe im Februar 2023 möglicherweise durch ein Feuer unbekannten Ursprungs und nicht durch den Zusammenstoß selbst ums Leben kamen.”
Die Zeitung fährt fort, dass die Fahrgäste „später starben, möglicherweise durch Erstickung oder Verbrennungen, da der Zusammenstoß eine massive Explosion und einen Brand verursachte. Nach Ansicht von Experten, die von den Familien (der Opfer, Anm. d. Verf.) beauftragt wurden, hatte der Güterzug möglicherweise brennbare Stoffe geladen, die im Frachtbericht nicht aufgeführt waren.“
Ausdruck des Zorns
“Scheinbar aus dem Nichts erhob sich die griechische Bevölkerung, um eine scheinbare Selbstverständlichkeit zu fordern: Die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen für das Verbrechen von Tempi”, so G. Kritidis in “lunapark21”.
Laut der Zeitschrift “Arbeiterpolitik” gab es Kundgebungen in über 180 Orten, in Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt des Landes, gab es eine der größten Kundgebungen seit Jahrzehnten, insgesamt waren Hunderttausende auf der Straße. Der Bürgermeister von Patras, Kostas Peletidis von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), betonte, dass „dieses Verbrechen nicht vergessen ist und wir heute hier sind, um zu rufen, dass wir es nicht vergessen lassen werden“ (“Zeitung der Redakteure efsyn” vom 26.1.2025).
Es kamen Familien mit kleinen Kindern, ältere Menschen, Studierendenverbände und Gewerkschafter*innen, Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen, Kollektiven und Organisationen der Linken. Es waren Parolen zu hören wie “Mörder”, „Gerechtigkeit“ oder “Das Verbrechen von Tempi wird nicht vergessen werden”, schreibt die marxistische Zeitung“Xekinima” Ende Januar 2025.
Es war auch “klar, dass diese Mobilisierung der Anlass war dafür, dass der Zorn der Leute Ausdruck finden konnte für die „Tempis“, die sie tagtäglich erleben: Die Auflösung und Geringschätzung jeglicher öffentlicher Dienstleistung, die Abwertung des menschlichen Lebens, der Intelligenz und Würde und dann die Korruption, die die politische Macht erhält und von ihr erhalten wird”, so“Xekinima“ weiter.
Nicht nur in Griechenland gab es Mobilisierungen, auch die Griech*innen im Auslands gingen auf die Straße. In Berlin fand am 26. Januar 2025 zeitgleich mit den Demonstrationen in Griechenland eine Solidaritätsdemonstration unter dem Motto “Ich habe keinen Sauerstoff – Gerechtigkeit für die Toten des Eisenbahnverbrechens” statt. In Köln versammelten sich spontan etwa hundert Griech*innen. Auf ihrem zweisprachigen Transparent stand zu lesen: “Tempi Zugunglück: Keine Lügen mehr! Gerechtigkeit!”
Wie weiter?
Die einzige organisierende Kraft, die zu den Versammlungen aufrief, war der Zusammenschluss der Angehörigen der Opfer. Sicher gibt es eine lebhafte Diskussion unter den Teilnehmenden an den Mobilisierungen. Vorschläge gibt es viele. Hier seien nur diejenigen der Organisation „Xekinima“ angeführt:
“Die nächste große Verabredung muss der 28. Februar sein“, am zweiten Jahrestag des Unglücks. Es müsse Druck ausgeübt werden auf die Gewerkschaften, dass diese für den Jahrestag zum Generalstreik aufrufen. Schon seit dem 27. Januar haben Schüler*innen wegen Tempi einer Reihe von Schulen besetzt, so in Volos, Patras und Athen. Diese Schulbesetzungen “müssen verstärkt werden und einen massenhaften Charakter annehmen.” Die Studierendenenverbände müssten vorwärts gehen und Versammlungen an den Instituten einberufen “mit dem Ziel von Besetzungen an den Universitäten.”
Rolle der Medien
Unter der Überschrift “Ein beschämender Tag für den Journalismus” schreibt die “Zeitung der Redakteur*innen” (efsyn), dass “die Berichterstattung über die heutigen massiven Proteste einen beunruhigenden Eindruck hinterlassen hat, da die überwiegende Mehrheit der regierungsnahen Medien das Thema zumindest zu Beginn der Proteste auf tragische Weise herunterspielte.“
Kein Wunder, dass in Deutschland bisher kaum was über die Proteste bekannt ist. Sogar linke Zeitungen wie die Junge Welt oder das Neue Deutschland haben bisher wenig über die Demonstrationen in Griechenland berichtet. Die aktuelle Bewegung scheint jedoch die erste große nach einer langen Phase der Depression der Arbeiter*innenbewegung zu sein, die aus den Niederlagen gegen die Troika-Politik und der Kapitulation der linken Regierungspartei Syriza resultierte – Grund genug, sich seitens der Linken in Deutschland wieder stärker mit Griechenland zu beschäftigten.
Foto: Pavlos1988 – CC BY-SA 4.0