Linker Erdrutsch: 8,8% und 30.000 neue Mitglieder

Die Linke zieht stark in den Bundestag ein, nachdem sie noch zwei Monate zuvor in den Umfragen bei 3% lag. Sie ist zu einer Partei der Großstädte, der Jugend und der Frauen geworden. Stärkste Partei bei den Erstwählenden, stärkste Partei bei der “Juniorwahl” U18 in den Schulen, stärkste Partei in Berlin. Sechs statt drei Wahlkreise geholt, davon mit Berlin-Neukölln einen in West-Berlin. Kein Umfrageinstitut hatte es für möglich gehalten, dass Ferat Kocak diesen Wahlkreis holt. Noch wichtiger als das Wahlergebnis: mehr als 30.000 neue Mitglieder, viele davon aktiv und motiviert, gegen die CDU-geführte Regierung Widerstand zu leisten.

Von Claus Ludwig, Köln

Der Wahlkampf war aktiv und dynamisch. Mitglieder und Unterstützer*innen haben an über eine halbe Million Türen geklopft und Hunderttausende Gespräche geführt. Allein in Berlin-Neukölln wurden 100.000 Haushalte besucht, 9000 Menschen sagten zu, Die Linke zu wählen. Die Mitgliedschaft der Partei hat sich innerhalb weniger Monate gewandelt. Die Linke ist jung, aktivistisch, weiblich. Eine so schnelle und umfassende politische Organisierung hat es in der Geschichte der bundesdeutschen Linken noch nicht gegeben. Parallelen gibt es zur Kampagne von Bernie Sanders in den USA 2016 und 2020 bei den Vorwahlen der Demokraten für die Präsidentschaftskandidatur und zum Zustrom in die britische Labour Party unter Jeremy Corbyn.

Es ist vor allem die Peitsche der reaktionären Entwicklungen, welche die Jugend dazu treibt, sich links zu organisieren. Trump 2.0, der Aufstieg der AfD, der Rechtsruck der etablierten Politik und das Einreißen der “Brandmauer” durch die Merz-CDU waren die Schocks, die viele zur Organisierung drängen. 

Sie scheinen eine richtige Schlussfolgerung aus den riesigen, aber erfolglosen Protesten gegen die AfD von Anfang 2024 gezogen zu haben: es reicht nicht, nur gegen die extreme Rechte zu sein. Es muss eine Alternative von links geben. Und sie haben verstanden: SPD und Grüne sind kein Schutz gegen den Rechtsruck, sie haben mit ihrer Politik den Weg dafür bereitet und haben mit ihrer Abschottung gegen Geflüchtete selbst rechte Positionen übernommen. Auch die Enttäuschung der Generation Fridays for Future mit den Grünen, die klimapolitisch vor dem Kapital kapituliert haben, hat eine Rolle gespielt.

Reaktionäre Schocks

“Bisher dachten wir Gen Z und junge Millenials, zumindest in der Großstadt, dass alles selbstverständlich ist: gegen Rassismus sein, für ein solidarisches Zusammenleben. Dann haben wir verstanden, dass das alles gefährdet ist, dass wir was tun müssen”, so schildert ein neues Mitglied aus Köln seine Motive.

In den letzten Jahren wirkte es oberflächlich so, als ginge international alles nach rechts. International Socialist Alternative und SAV hatten allerdings darauf hingewiesen, dass es sich um eine Polarisierung handelt, aber der rechte Pol im Unterschied zur Linken klar erkennbar war. Es gab durchaus Anzeichen für eine linke Politisierung, in der Klimabewegung, bei Protesten zum 8. März, bei antifaschistischen Demonstrationen. Es wurden allerdings nur wenige und begrenzte Erfolge durch linkes Engagement erzielt, am ehesten noch die Streiks in den Kliniken für einen Tarifvertrag Entlastung und das Zusammenkommen von Klimabewegung und Gewerkschafter*innen bei #wirfahrenzusammen.

Auf parteipolitischer Ebene ging es abwärts, Die Linke war gelähmt durch die Auseinandersetzungen mit dem “linkskonservativen” Flügel um Sarah Wagenknecht. Deren Abgang und die Gründung des BSW mit seiner rassistischen und spaltenden Politik machten letztendlich den Weg frei dafür, dass Die Linke wieder erkennbar wurde.

Wagenknecht würde die neuen Mitglieder gewiss als “linke Bubble” oder “Akademiker” bezeichnen. Tatsächlich handelt es sich bei den neuen Aktiven um Angehörige der arbeitenden Klasse – überwiegend akademisch gebildet. Die Bereiche Gesundheitswesen, Bildung, Kultur/Kunst, öffentlicher Dienst, IT und Medien sind stark vertreten, Produktionsarbeiter*innen, Paketbot*innen oder Reinigungskräfte allerdings seltener.

Offene Fragen

Die Partei hat Einiges richtig gemacht: Konzentration auf soziale Kernthemen wie Mieten, klar erkennbare – wenn auch politisch begrenzte – Wahlplakate, Investitionen in Social Media, dazu Spitzen- und Wahlkreis-Kandidat*innen mit der Fähigkeit, Jüngere anzusprechen. Die Methode der Hausbesuche führte dazu, dass Tausende neue Aktive direkt eine kommunikative Aufgabe bekamen anstatt nur Plakate aufzuhängen oder bei Kundgebungen passiv zu klatschen.

Die 30.000 neuen Mitglieder sind eine zweite Chance für Die Linke. Sie können die Basis für die benötigte kritische Masse sein, um Kampagnen und soziale Kämpfe erfolgreich zu führen und eine breitere Verankerung in Betrieben, Stadtteilen, Unis und Schulen anzustoßen, die angesichts der kommenden Angriffe der CDU-geführten Regierung auf soziale und demokratische Rechte dringend notwendig ist.

Wenn … wenn es gelingt, die politischen Schwächen der Partei zu überwinden. Wagenknecht war nicht das einzige Problem der Partei. Der Konflikt mit ihr hat andere ungelöste Konflikte überdeckt. Nach ihrem Abgang war der Wille zur Einheit so stark, dass einige Punkte schlicht nicht mehr diskutiert wurden.

“Don’t mention the war” könnte ein Motto dieses Wahlkampfes sein. Die Partei lehnt zwar Waffenlieferungen an die Ukraine ab, aber lässt zu, dass medial bekannte Vertreter*innen – z.B. die EU-Abgeordnete Rackete – sich dafür aussprechen. Laut Parteitagsbeschluss ist Die Linke solidarisch mit den Protesten gegen das Massaker in Gaza, aber immer wieder sind andere Stimmen zu hören. Die Partei traut sich oftmals nicht, gegen die Hetze der Etablierten aufzutreten, die unisono von den Grünen bis zur AfD Opposition gegen Israels Kriege als “Antisemitimus” diffamieren. Es gibt zwar Ausnahmen – die Linke in Berlin-Neukölln hat klar Stellung bezogen für die Solidarität mit den Menschen in Gaza, ebenso die ehemalige Parteivorsitzende Janine Wissler, aber das Gesamtbild ist, vorsichtig formuliert, diffus. Die Linke sollte nicht der Illusion erliegen, man könne diese Fragen unbeachtet lassen: Nach dem vom Rechtsruck dominierten Wahlkampf wird die Frage von Militarismus, Krieg und Aufrüstung mit voller Wucht auf die Agenda kommen. Wenn die Partei sich dabei weiter wegduckt, wird das zu Enttäuschungen führen.

Der erste Test könnte schnell kommen: für die Lockerung der Schuldenbremse brauchen Union und SPD eine Zweidrittel-Mehrheit. Allgemein wäre es sinnvoll, diesen neoliberalen Kürzungszwang aus dem Grundgesetz zu streichen. Doch unter den konkreten Umständen würde die Schuldenbremse vor allem gelockert, um eine gigantische Aufrüstung zu finanzieren. Dabei darf Die Linke nicht mitmachen. Ohne gleichzeitige Investitions-Beschlüsse für günstige Wohnungen, in die Bildung und in den klimagerechten Umbau des Verkehrs bei Einfrieren des Rüstungsetats kann es keine  Zustimmung geben.

Opposition oder Mitmachen?

Schon vor der Wagenknecht-Eskalation taumelte die Partei in die Krise, weil ihre Regierungsbeteiligung und ihre Anpassung an die prokapitalistischen Parteien SPD und Grüne sie in den Augen vieler Wähler*innen zu einem Teil des Establishments hatte werden lassen. Dieser Effekt war in den östlichen Bundesländern sehr stark. Die Partei war in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen in der Regierung, ein Unterschied zu den Etablierten war kaum erkennbar. Wenn es keine Alternativen von links gibt, fällt es der extremen Rechten leichter, von der Unzufriedenheit zu profitieren.

Aktuell wird mangels Gelegenheit wenig über Regierungsbeteiligungen geredet. Doch Die Linke ist in Bremen weiterhin daran beteiligt, Kliniken zu schließen und war vor ihrem jüngsten Aufschwung bei vielen Gewerkschafter*innen unbeliebt. Wie schon in den ersten Jahren ihrer Existenz stellt sich für Die Linke die Frage der Entwicklungsrichtung: Hin zu einer kämpfenden, oppositionellen sozialistischen Klassenpartei mit einer klaren Anti-Establishment-Haltung und einer Orientierung auf Bewegungen und soziale Kämpfe oder in Richtung eines parlamentarischen Juniorpartners für SPD und Grüne, als Teil eines imaginierten aber nicht realen “linken Lagers”?

Im Apparat und bei den “alten” Mitgliedern gibt es noch immer Anhänger*innen der Idee, anerkannter Teil des Polit-Betriebs zu werden. Viele neue Mitglieder dürften erst einmal offen und bezüglich der Fragen von Imperialismus und Regierungsbeteiligung nicht festgelegt sein, interessiert sowohl an Aktivismus als auch an Debatten. Marxist*innen sind daher gefordert, in die kommenden Diskussionen in der Partei einzugreifen und dabei die Erfahrungen von rund 20 Jahren Die Linke auszuwerten.

Im Widerstand gegen Rechtsruck, sozialen Kahlschlag und Militarisierung brauchen wir eine kämpfende sozialistische Partei, die sich von den etablierten Parteien grundlegend unterscheidet. Eine Partei, die nicht auf die Parlamente fokussiert ist, sondern die Gegenwehr von unten organisiert. Eine Partei, die keine Illusionen hat, den Kapitalismus zu regulieren, sondern die für eine andere Gesellschaft kämpft.

30.000 Menschen haben mit den Füßen abgestimmt und reklamieren Die Linke für sich, weil ein Instrument gegen Rechtsruck, sozialen Kahlschlag und Militarismus dringend benötigt wird. Jetzt geht es darum, dieses Werkzeug nutzbar zu machen. Das geht nicht von allein, es wird kein einfacher Kampf und der Ausgang ist nicht sicher. Aber es lohnt sich.

6 Ideen für Die Linke

1 – Bildung & Debatte

Ohne theoretisches und geschichtliches Verständnis lassen sich die multiplen Krisen und abrupten Wendungen der heutigen Politik nicht verstehen und die Aktivität nicht lange durchhalten. Die Partei sollte ein Ort zum gemeinsamen Lernen sein. Was ist Faschismus und wie kann er geschlagen werden? Warum erleben wir ein neues Zeitalter des Imperialismus? Kann es einen Kapitalismus ohne Patriarchat und Rassismus geben? Wie funktioniert die Ökonomie? Bei Parteitagen und lokalen Treffen muss eine Debattenkultur entwickelt werden. Statt nichtssagenden Formelkompromissen sollten solidarische und kontroverse Debatten geführt werden, mit Mehrheitsentscheidungen – und der Möglichkeit für die Minderheit, ihre Position als konstruktive Kritik weiter zu vertreten.

2 – Stärken ausbauen: Verankerung

Die Partei hat viele Mitglieder im Gesundheits- und Bildungswesen. Einige haben auch schon Kampferfahrungen, z.B. aus den Streiks in Kitas und für den Tarifvertrag Entlastung in den Kliniken. Der nächste Schritt wäre, Betriebsgruppen zu organisieren und kämpferische Kerne aufzubauen, die bei betrieblichen und tariflichen Auseinandersetzungen den Unterschied machen können. Die Erfahrungen aus der Tür-zu-Tür-Kampagne und eine klare Haltung zur Mietenfrage könnten in einer bundesweiten Vernetzung für die Deckelung der Mieten und die Enteignung der Immobilienkonzerne zusammengeführt werden. Politisches Programm, Organisierung auf Stadtteil-Ebene und Beratung für Mieter*innen sollten zusammenfließen.

3 – Den Unterschied machen: Keine Privilegien

Viele Funktionär*innen klebten jahrelang an ihren Positionen. Abgeordneten- und kommunale Mandate wurden zum Selbstzweck. Die Gehälter wurden nicht begrenzt und auch Linke-MdB verdienten weit mehr als durchschnittliche Lohnabhängige. Jetzt gibt es Schritte in die richtige Richtung: Die Parteivorsitzenden haben eine Grenze bei 2800 Euro – dem Durchschnittsgehalt – gezogen und geben das Geld darüber ab. Auch einzelne Bundestags-Kandidat*innen wie Ferat Kocak in Berlin-Neuköllln haben sich verpflichtet, ihre Abgeordnetengehälter zu begrenzen. Das sollte keine freiwillige Aktion Einzelner sein, sondern verbindlich festgelegt werden. Darüber hinaus sollten Mandate zeitlich befristet werden. Wir brauchen keine kleine Schicht von Polit-Profis – es gibt genug Mitglieder, die zeitweise diese Aufgaben übernehmen können. Auf Parteitagen sollten nicht Mandatsträger*innen und Hauptamtliche dominieren, sondern die normalen Mitglieder. Um glaubwürdig zu bleiben, muss die Partei radikal anders sein als die etablierten Parteien, deren Zweck es ist, Einfluss und Privilegien zu verteilen.

4 – Merz-Alarm 

Es ist absehbar, dass eine CDU/CSU-geführte Regierung eine Reihe von Angriffen starten wird: Z.B. auf das Bürgergeld, Schritte hin zur Wehrpflicht, soziale Kürzungen bei gleichzeitiger Aufrüstung, Einschränkung von demokratischen Rechten (Selbstbestimmungsgesetz, Rücknahme Cannabis-Legalisierung usw.). Immer wieder reden Kapitalvertreter*innen davon, das Streikrecht oder die Lohnfortzahlung ins Visier zu nehmen. Die neuen Parteistrukturen können vor Ort und überregional die Initiative ergreifen, schnell und flexibel auf die Merz’schen Attacken zu reagieren und einen organisatorischen Rahmen sowie ein politisches Programm anbieten, um die Gegenwehr effektiv zu gestalten.

5 – Opposition & Klassenkampf

Die Linke hat keine Zukunft, wenn sie mitmacht bei der kapitalistischen Krisenverwaltung, sondern nur, wenn sie für ein grundlegendes anderes – sozialistisches – System eintritt. Sie sollte eine klare Linie zwischen sich und den Establishment-Parteien ziehen. Die Linke wird im Klassenkampf gebraucht – allerdings nicht zum Klatschen und zur passiven Unterstützung “der Gewerkschaften”. Die Führung der DGB-Gewerkschaften hat keine Strategie gegen Lohnraub und Arbeitsplatzvernichtung. Das hat die IG Metall jüngst bei VW bewiesen. Dort hat sie die überhaupt nicht “sozialverträgliche” Vernichtung von 35.000 Arbeitsplätzen ohne Kampf akzeptiert. Die Aufgabe der Linken ist es, an der Seite der Kolleg*innen zu stehen, die dieses Co-Management kritisieren und versuchen, sich dagegen zu organisieren und zu kämpfen.

6 – Widerstand gegen Militarismus & sozialen Kahlschlag

Wir erleben das Zeitalter eines neuen Imperialismus. Alle kapitalistischen Mächte bereiten sich auf Kriege vor. “Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.” (Jean Jaurès, franz. Sozialist) Es ist entscheidend, dass die Linke in allen Ländern eine Gegenposition gegen ihre eigene herrschende Klasse bezieht und sich gegen jede Kriegsbeteiligung positioniert. Das gewaltige Aufrüstungsprogramm in Deutschland wird über Kürzungen im sozialen Bereich, bei Bildung, Gesundheit und Klima bezahlt werden. Das ist der Hebel für Die Linke: Bereiten wir uns vor auf Widerstand gegen Sozialkürzungen, der untrennbar mit Antimilitarismus verbunden sein muss. Die vielen jungen Mitglieder können den Widerstand an die Schulen tragen; dagegen, dass die kommenden Generationen auf den Krieg vorbereitet werden, gegen Bundeswehr an Schulen und Unis, gegen die Wehrpflicht.

Foto: Martin Heinlein – CC BY 2.0