Das Ende der demokratischen Rechte oder der Anfang vom Ende für Erdogan selbst? Seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu am 19. März wird die Türkei von einer massiven politischen Krise erschüttert. Das könnte entweder das Todesurteil für die verbliebenen demokratischen Rechte in einem Putsch sein, den die vom Regime kontrollierten Gerichten unterstützten,oder nach 22 Jahren der Anfang vom Ende von Erdogans immer autokratischeren Regime.
Von Arne Johansson, Offensiv, Zeitung der Socialistiskt Alternativ (ISA in Schweden)
Die spontanen Massenproteste, die unmittelbar nach der Verhaftung von Student*innen der Universität Istanbul initiiert wurden, entwickelten sich mit rasender Geschwindigkeit.
Trotz eines Demonstrationsverbots, geschlossener U-Bahn-Stationen, abgeriegelter Plätze, Polizeigewalt und der Verhaftung von über 1.900 Student*innen, Lokalpolitiker*innen, Journalist*innen und anderen wurden Hunderttausende im ganzen Land zu täglichen Protesten mobilisiert.
Die Protestkundgebung am Samstag im Stadtteil Maltepe auf der asiatischen Seite Istanbuls zog eine riesige Menschenmenge an, die nach Angaben der Organisator*innen von Imamoglus „kemalistischer“ Republikanischer Volkspartei (CHP) 2,2 Millionen Menschen zählte. „Überall ist Taksim, der Widerstand ist überall“, lautete nach Angaben eines AFP-Reporters einer der meist gerufenen Slogans. Der Taksim-Platz war 2013 das Epizentrum erbitterter Massenproteste zur Verteidigung des bedrohten Gezi-Parks in Istanbul.
Dass nichts davon auf einem der drei wichtigsten Fernsehsender der Türkei zu sehen war, zeigt, wie sehr die Meinungsfreiheit bereits eingeschränkt worden ist.
Die Verhaftung von İmamoğlu und Hunderter weiterer Personen, die beschuldigt werden, einem „kriminellen Netzwerk“ anzugehören, erfolgte nur wenige Tage vor seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat der CHP bei den Präsidentschaftswahlen 2028, die Erdogan vermutlich vorverlegen will, um ohne Verfassungsänderung erneut kandidieren zu können.
Die Bedrohung für Erdogans Herrschaft
Bei einer solchen Wahl hätte İmamoğlu trotz der massiven Wahlmanipulationen gute Chancen, Erdogan zu besiegen, dessen Popularität ebenso wie die türkische Wirtschaft stark gesunken ist. Bei jährlichen Inflationsraten von 60–70% (40% im letzten Monat), einem riesigen Schuldenberg und einem Wertverlust der türkischen Lira von über 8% gegenüber dem Dollar seit 2018 haben Lebensmittelpreise, Mieten und harte Sparmaßnahmen den Lebensstandard sowohl der türkischen Arbeiter*innen als auch der Mittelschicht in allen Bevölkerungsgruppen untergraben.
Insbesondere in den Jahren 2022 und 2023 kam es deshalb zu weit verbreiteten Streiks. Die AKP-Partei von Erdogan konnte die Präsidentschaftswahlen 2023 zwar knapp für sich entscheiden, erlitt jedoch bei den Kommunalwahlen im vergangenen März eine herbe Niederlage, als die oppositionelle CHP einen klaren Sieg davontrug. Nicht nur in den Großstädten Istanbul, Ankara, Bursa, Izmir und anderen, sondern auch in mehreren ehemaligen AKP-Hochburgen in Anatolien.
Das Regime kämpfte darum, den Namen von İmamoğlu von den Wahlzetteln zu entfernen, indem es zunächst die Leitung der Universität Istanbul unter Druck setzte, ihm das Diplom zu entziehen, das jeder Präsidentschaftskandidat in der Türkei haben muss. Am nächsten Tag ließen sie ihn wegen alter Anschuldigungen der Beleidigung der Wahlbehörde und neuer, vager Vorwürfe der Korruption und der Verbindung zum Terrorismus verhaften. Dies ist ein kalkuliertes Vorgehen Erdogans in einem verzweifelten Versuch, an der Macht zu bleiben.
İmamoğlu, der die Wahlen in Istanbul 2019 und 2023 gewann, ist der Oppositionspolitiker mit der größten Unterstützung, was auf seinen „populäreren“ Stil und seine verbindende Rhetorik gegenüber Kurd*innen und anderen Minderheiten zurückzuführen ist. Er hat auch einige sozialpolitische Maßnahmen wie kostenloses Brot und eine grüne Infrastruktur gefordert.
Dass Erdogan es jetzt gewagt hat, zuzuschlagen, könnte mit der gestärkten geopolitischen Position der Türkei zusammenhängen. Im Nahen Osten hat die Türkei mit dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien und der Schwächung der Achse Iran-Hisbollah sowie in Europa als Pfeiler der NATO im militärischen Wettrüsten im Zuge des Ukrainekriegs an Boden gewonnen, während Trumps Provokationen gegen ehemalige Verbündete und die Katastrophe in Gaza die Aufmerksamkeit auf andere Bereiche lenken. Wie die Financial Times es ausdrückt: „Ankaras neu gewonnene Bedeutung für die Verteidigung Europas, gepaart mit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus, könnten Faktoren gewesen sein, die Erdogan ermutigt haben … gegen seinen Hauptkonkurrenten vorzugehen.“
Die Frage ist nun, ob der Druck durch die anhaltenden Straßenproteste in der Türkei, die Erdogan als „Straßenterror“ von „Randgruppen“ abtut, weiter steigen kann. Laut CHP sind jeden Samstag im ganzen Land und jeden Mittwoch in Istanbul neue Massenkundgebungen geplant, um die Freilassung von Inhaftierten zu fordern und Neuwahlen auszulösen.
Die türkische Opposition
Der offensichtliche Beginn geheimer Gespräche zwischen Erdogan und Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Anführer der PKK (Kurdische Arbeiterpartei, die seit 1984 einen bewaffneten Kampf für die Rechte der Kurden führt), wird von vielen als ein raffinierter Versuch angesehen, die türkische Opposition zu spalten.
Öcalans bedeutsame Aufforderung an die PKK vom 27. Februar, sowohl die Waffen niederzulegen als auch die Partei aufzulösen, gefolgt von der Zustimmung der mit der PKK verbündeten YPG in Syrien, sich in den neuen syrischen Staat zu integrieren, deutet darauf hin, dass Geheimgespräche geführt wurden, um den 2015 ausgesetzten Friedensprozess wieder aufzunehmen. Diese scheinen mit einer Ankündigung der Erdogan-nahen ultrarechten MHP (Partei der türkischen Nationalbewegung) im Oktober 2024 begonnen zu haben, die Zerschlagung der PKK gegen Öcalans Freilassung einzutauschen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass dies ausreicht, um einen Keil zwischen Kurd*innen und andere Erdogan-Gegner*innen zu treiben.
In den Jahren nach ihrer Gründung im Jahr 2012, als die pro-kurdische und linke „
(HDP) als drittgrößte Partei des Landes große Erfolge feierte, wurden die Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der Kurdenfrage durch brutale Militäroperationen sowohl in der Türkei als auch in Syrien zunichte gemacht, die politisch von der AKP und der MHP angeführt wurden.Seit 2016 wurden mehr als 4.000 HDP-Mitglieder inhaftiert und wegen terroristischer Verbindungen angeklagt. Mehr als 20 ehemalige Abgeordnete befinden sich noch immer im Gefängnis, darunter der männliche Parteivorsitzende Selahattin Demirtas (die Partei hatte zwei Vorsitzende). Mehr als 50 gewählte Bürgermeister*innen der Partei wurden abgesetzt und durch vom Erdogan-Regime ernannte Personen ersetzt.
Die Tatsache, dass der schwedische ETC-Journalist Joakim Medin zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes noch nicht freigelassen wurde und wegen seiner Darstellungen des kurdischen Kampfes in Syrien insbesondere wegen terroristischer Verbindungen angeklagt ist, ist ein weiteres Beispiel für dieselbe Repression.
Nachdem die HDP effektiv verboten wurde, gründete die pro-kurdische Bewegung 2023 eine neue, ähnliche Partei, die Partei für Demokratie und Gleichheit (DEM). Da die Vorwürfe, die nun gegen İmamoğlu wegen Terrorverbindungen erhoben werden, mit ziemlicher Sicherheit auf seine Offenheit für eine Zusammenarbeit mit dieser Partei zurückzuführen sind, erwarten viele, dass sie es sein werden, die Erdogan als nächstes ins Visier nimmt.
Zu einem Zeitpunkt, an dem demokratische Fragen am dringendsten sind und die Möglichkeit besteht, Erdogan endlich zu besiegen, ist eine klare Antwort erforderlich. Den pro-westlichen und liberalen Republikanern der CHP, aber auch den Dems und der Führung der türkischen Gewerkschaften fehlt jedoch eine echte Alternative zur tiefen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise des Kapitalismus im Schatten des Wettrüstens zwischen imperialistischen Rivalen. Die Arbeiter*innenbewegung und die Linke sollten die demokratischen Rechte aller verteidigen, auch die von İmamoğlu, sich aber nicht einer prokapitalistischen „Führung“ der Protestbewegung durch die CHP unterordnen. Es sollte ein Generalstreik organisiert werden, um Erdogan zu stürzen und einen Weg nach vorne für die Arbeiter*innenklasse zu ebnen.
Erdogan zu besiegen wäre ein historischer Sieg, aber allein nicht ausreichend. In der neuen, stürmischen Phase, die jetzt in der Türkei begonnen hat, wird die Notwendigkeit einer demokratischen, sozialistischen und revolutionären Lösung, die auch die demokratischen Rechte aller Minderheiten berücksichtigt, immer deutlicher.
BILD: u/Responsible-Cover207 (https://www.reddit.com/r/Turkey/comments/1jhjan9/sara%C3%A7haneden_%C3%A7ekti%C4%9Fim_baz%C4%B1_kareler/)