Vor dem Hintergrund der schwersten Rezession seit 1945 wird in der Türkei am 3. November ein neues Parlament gewählt. Sicher ist nur, dass nichts sicher ist
Bei einer von der Deutschen Bank in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage lag die islamistische Gerechtigskeits- und Entwicklungspartei (AKP) mit 19 Prozent vorn und würde die absolute Mehrheit bekommen. Wegen der 10 Prozent-Hürde würde als einzige weitere Partei die faschistische Nationale Bewegungspartei (MHP) ins Parlament kommen.
von Claus Ludwig, Köln
Die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Ecevit, die weder demokratische noch linke Demokratische Linkspartei (DSP) würde von 22 auf 2 Prozent fallen. Die Wahlen waren ursprünglich für das Frühjahr 2004 angesetzt. Sie mussten vorgezogen werden, weil die Regierung aus DSP, MHP und ANAP auseinander fiel und die Mehrheit im Parlament verloren hatte.
Die Türkei befindet sich in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Sie begann im Herbst 2000 mit dem Zusammenbruch mehrerer Banken. Durch die Inflation haben Lohnabhängige, kleine Gewerbetreibende und BäuerInnen nahezu die Hälfte ihres Einkommens verloren. Im Frühjahr 2001 wurden innerhalb weniger Monate 500.000 Arbeitsplätze vernichtet.
Die Zahlungsunfähigkeit der Türkei wurde durch einen 16-Milliarden-Dollar-Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorläufig verhindert. Im Gegenzug verlangt der IWF die Abschaffung der wenigen noch verbliebenen sozialen Errungenschaften, eine umfassende Privatisierung und die Öffnung der Türkei für ausländische Konzerne. Damit wird die Wirtschaftskrise weiter verschärft.
Die IWF-Pläne sehen vor, bis zum Frühjahr 2003 die staatlichen Geldinstitute Halk Bank, Vakif Bank und Ziraat Bank zu privatisieren. Seit dem Beginn der Privatisierungsmaßnahmen wurden schon Tausende Arbeitsplätze vernichtet. Die Aufhebung des staatlichen Monopols auf Alkohol und Tabak durch die Privatisierung des TEKEL-Konzerns wird weitere Jobs kosten.
Der boomende Tourismus und die Unterstützung vieler Menschen durch in Europa lebende Verwandte waren Faktoren, die verhindert haben, dass die Lage in der Türkei so explodiert wie in Argentinien.
Demokraten gegen Nationalisten?
In den Medien hierzulande wird die Lage oft so dargestellt, als wäre es zur Regierungskrise gekommen, weil die von EU und IWF verlangten Reformen allzu zögerlich umgesetzt wurden. Doch die Regierung zögerte bei der Umsetzung, weil weitgehende Privatisierungs-Maßnahmen und damit einhergehende Entlassungen zu größerer Unruhe und Widerstand geführt hatten. Die MHP kann sich nur in den Meinungsumfragen halten, weil sie sich als Verteidigerin der türkischen Unabhängigkeit und der Armen aufspielt.
Angeblich stehen sich in der Türkei zwei Lager gegenüber. Auf der einen Seite die modernen Politiker Cem, Özkan und Dervis, zusammen mit dem Unternehmerverband TÜSIAD, einem Teil der Medien und Intellektuellen. Sie treten für einen schnellen Eintritt in die EU ein, für die Umsetzung der IWF-Pläne und für die Demokratisierung der Türkei. Sie waren verantwortlich für die Gesetze zur Abschaffung der Todesstrafe und zur begrenzten Legalisierung der kurdischen Sprache. Ihnen angeschlossen hat sich die Mutterlandspartei ANAP, die traditionelle USA- und EU-nahe bürgerliche Partei, weniger Mutter der Nation als vielmehr Mutter der Korruption und der Dorf- und Regionalfürsten. Diese Truppe wird als demokratisch bezeichnet.
Auf der anderen Seite stehen die MHP, der Generalstab der Armee und teilweise die auseinander fallende DSP. Sie protestieren gegen die Lockerung der repressiven Gesetze und den Ausverkauf der türkischen Wirtschaft, versuchen so, sich die Unterstützung der BäuerInnen, Gewerbetreibenden und ArbeiterInnen zu sichern.
Die Regierung Ecevit setzte sich nicht zufällig aus beiden Lagern zusammen. Während die Demokraten nicht demokratisch sind, setzen sich MHP und Militär nicht für den Schutz der arbeitenden Menschen ein.
Die Demokraten waren jahrelang daran beteiligt, die Repression zu verschärfen. In den kurdischen Gebieten herrscht die Armee, trotz Einstellung der Aktionen der kurdischen Guerilla finden Massenverhaftungen, Folterungen und Morde durch staatliche Kräfte statt. Der Hungerstreik der linken politischen Gefangenen führte durch vom Staat organisierte Massaker und das bewusste Verhungern-Lassen zu bisher 93 Toten.
Islamisten
Sicher scheint, dass die islamistische AKP ein gutes Ergebnis bei den Wahlen erzielen wird. Sie ist bisher dadurch in Erscheinung getreten, dass sie kaum in Erscheinung getreten ist. Sie wendet sich verbal gegen die sozialen Folgen der Krise und stellt sich als Vertreterin der kleinen Leute dar. Sie kann davon profitieren, dass die arbeitenden Menschen zurecht die Durchsetzung von Konzerninteressen durch die Demokraten fürchten, aber auch die Nase voll haben von den Repressionen durch Militär und MHP und diesen auch nicht zutrauen, das Land wirtschaftlich weiter zu entwickeln.
Bei den Wahlen 1999 erzielte die AKP-Vorgängerin FP 15,2 Prozent, obwohl viele keinen Sinn darin sahen, eine Partei zu wählen, die das Militär kurz zuvor mit einem leisen Putsch aus der Regierung entfernt hatte. Heute gibt sich die AKP etwas gemäßigter, stellt sich eher als die anatolische Variante der CSU denn als türkische Taliban dar. Dass weckt Hoffnungen, das Militär könnte die Islamisten zähneknirschend akzeptieren.
Krise der Linken
Dass sich die Faschisten der MHP als Verteidiger der Interessen der arbeitenden Massen aufspielen können und die AKP vielen als Alternative erscheint, ist Ausdruck der Schwäche der Linken und der Arbeiterbewegung in Türkei und Kurdistan.
Die ehemals stärkste Organisation, die in KADEK umbenannte PKK hat sich faktisch vom Klassenkampf losgesagt. Sie hofft auf eine Annäherung an die EU und auf eine Demokratisierung über diesen Weg. Ähnlich verhält sich die legale kurdische Demokratische Partei des Volkes (HADEP).
Auf Wahlebene wird HADEP trotz der Schwächen die einzige reale Option für viele Linke sein.
Die anstehenden Wahlen werden so oder so von einer reaktionären Kraft gewonnen werden. Der Wiederaufbau der Linken und der Arbeiterbewegung ist die entscheidende Aufgabe. SozialistInnen in der Türkei müssen sich auf den zu erwartenden Widerstand der Jugend und der ArbeiterInnen gegen Arbeitsplatzabbau und Privatisierung stützen, die auf den Tellerrand des eigenen Landes beschränkte Sichtweise der türkischen Linken über Bord werfen und die internationalen Aspekte des Kampfes gegen die kapitalistische Globalisierung hinein tragen. Zu Kämpfen wird es in den nächsten Jahren kommen, egal, wer an der Regierung ist. Es geht darum, aus diesem Widerstand eine neue sozialistische Kraft aufzubauen.