Lynn Walsh ist Chefredakteur des britischen Monatsmagazins Socialism Today. Als führendes Mitglied der „Militant“-Tendenz wurde er 1983 aus der Labour Party ausgeschlossen. Heute ist er Vorstandsmitglied des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) und der „Socialist Party”, der Schwesterpartei der SAV in England und Wales.
Das Interview führte Daniel Behruzi
Vor und während des Krieges gegen den Irak haben Ökonomen verschiedene Szenarien für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung diskutiert. Das worst-case-Szenario war ein in die Länge gezogener Krieg, ein weiterer rapider Anstieg des Ölpreises und eine tiefe Rezession. Was bedeutet das schnelle Kriegsende für die Weltwirtschaft?
Der kurze Krieg wird voraussichtlich zu einem niedrigen Ölpreis führen. Das alleine wird die Weltwirtschaft jedoch nicht wiederbeleben. Es könnte sogar eine schlimmere Krise in den ölproduzierenden Ländern hervorrufen. Die Weltwirtschaft hat im letzten Jahr eine schwache Erholungsphase durchlebt, aber bereits vor Kriegsbeginn bewegte sie sich in eine erneute Rezession.
Das gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten, die massive, strukturelle Probleme haben. Die USA haben ein enormes Leistungsbilanzdefizit und brauchen täglich 1,5 Milliarden Dollar, um dies zu finanzieren. Sie schulden dem Rest der Welt 1,7 Billionen Dollar. Der Dollar ist überbewertet und könnte in den nächsten Monaten recht stark fallen. Sowohl Unternehmen als auch private Konsumenten in den USA sind stark verschuldet, was bedeutet, dass der von privater Nachfrage getragene Aufschwung nicht sehr lange anhalten kann. Durch ihre stimulierende Wirkung zeichnet die US-Wirtschaft für drei Fünftel des weltweiten Wirtschaftswachstums verantwortlich.
Eine neue Rezession in den USA, die wahrscheinlich ist, wird die Weltwirtschaft in eine neue Krise stürzen und selbst ein relativ niedriger Ölpreis von zum Beispiel zehn Dollar pro Fass wird das nicht verhindern.
Nach dem Golfkrieg müssen Waffen und Munition ersetzt werden. Wird das der Nachfrage und dadurch der gesamten Wirtschaft nicht einen starken Impuls geben?
Die Militärausgaben werden der Rüstungsindustrie sicherlich einen Schub geben. Aber zum Beispiel viele der Flugzeugbauer sind wegen dem Rückgang der zivilen Passagierzahlen bereits in einer ernsthaften Krise. Die Auswirkungen, die das hat, werden schlimmer sein, als die positiven Effekte verstärkter Waffenproduktion.
Gleichzeitig wächst das Staatsdefizit in den USA, aber nicht in erster Linie durch Sozialausgaben, die einen stimulierenden Effekt auf die Wirtschaft haben könnten, sondern vor allem durch Steuersenkungen für die Superreichen. Dadurch werden weitere, enorme Defizite angehäuft. Statt die Wirtschaft zu stimulieren, wird dies zu einer Bürde für sie. Wenn der Kongress Steuersenkungen in einem Umfang von 500 Milliarden Dollar genehmigt, bedeutet das über einen längeren Zeitraum eine Belastung des Staatshaushaltes um eine Billion Dollar, wenn man die Zinszahlungen für die gestiegene Verschuldung einrechnet.
Es wird also keine Wiederholung des Boom geben, der unter Ronald Reagan in den 80ern unter anderen Umständen stattgefunden hat. Und außer Steuersenkungen für die Reichen betreibt George Bush überhaupt keine Wirtschaftspolitik. Es existiert keine Vorstellung davon, in welche Richtung sich die Wirtschaft entwickeln müsste oder wie sie wiederbelebt werden könnte.
Bereits in den letzten Jahren wurden Rechte und Lebensstandard der Beschäftigten weltweit angegriffen. Welche Auswirkungen wird eine weitere, tiefere Rezession auf die Situation der Arbeiterklasse haben?
Die Hauptsache ist, dass die Erwerbslosigkeit erneut ansteigen wird. In Deutschland, Frankreich und andern Ländern ist sie bereits in der letzten Periode angestiegen. Auch in den USA ist die Erwerbslosigkeit recht stark gewachsen, auf 8,5 Millionen. Zwei Millionen Beschäftigte haben seit März 2001 ihren Job verloren.
In der Vergangenheit hatten die USA eine recht hohe Beschäftigtenquote, obwohl die Löhne zum großen Teil sehr niedrig waren. Jetzt bekommen sie das Schlechteste beider Welten: Niedrige Löhne und hohe Erwerbslosigkeit. Das ist insbesondere in den USA sehr schlimm, weil eine soziale Absicherung nur sehr begrenzt vorhanden ist: Einige, nicht alle, Beschäftigten bekommen für lediglich 26 Wochen Arbeitslosengeld. Danach stehen sie mit leeren Hände da. Wenn Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren, verlieren sie auch ihre Krankenversicherung. Es gibt bereits Zehntausende, die nicht krankenversichert sind und die ihre Wohnungen verkaufen müssen, weil sie es sich nicht leisten können, sie weiter abzuzahlen.
Ausgehend von dieser Situation und Perspektive: Was sind die Hauptaufgaben der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in der kommenden Periode?
International sieht sich die Arbeiterklasse einer Offensive an zwei Fronten gegenüber. Es wird Massenentlassungen und erneute Angriffe auf Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten geben. Dagegen muss Widerstand organisiert werden, nicht nur in einzelnen Branchen, sondern es muss zu einer gemeinsamen Verteidigung von Arbeiterinteressen durch möglichst alle Gewerkschaften kommen. Das bezieht sich sowohl auf die entwickelten kapitalistischen Länder als auch auf die weniger entwickelten.
Aber es gibt auch eine Offensive von Seiten der Regierungen, die versuchen, die Sozialausgaben noch weiter zu senken. Der Grund liegt nicht nur darin, dass die Steuereinnahmen wegen des Niedergangs der ökonomischen Aktivitäten sinken, sondern auch in der von den Regierungen betriebenen Politik, den Reichen und Konzernen weitere Steuervergünstigungen zu gewähren. So zum Beispiel gerade in Deutschland. Sie können dies nur tun, wenn sie die Sozialausgaben und Investitionen senken, was schlimme Auswirkungen auf den Lebensstandard der Beschäftigten hat.
Diese Kürzungen müssen und können erfolgreich bekämpft werden. Aber es ist auch notwendig zu verstehen, dass dies nicht nur Fehler der Regierungspolitik sind. Die Kürzungen widerspiegeln eine tief verwurzelte, strukturelle Krise der kapitalistischen Wirtschaft.
Bedeutet das, dass es eine kontinuierliche Fortführung der neoliberalen Politik, von Sozialabbau und Privatisierungen, der letzten 20 Jahre geben wird? Wird sich dies noch beschleunigen?
Ja, sie werden versuchen, den Anteil der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum weiter zu senken. Aber auf internationaler Ebene werden Teile der Politik der neoliberalen Globalisierung wahrscheinlich durch Regierungen, die versuchen ihre nationalen Wirtschaftsinteressen zu verteidigen, modifiziert werden.
Wir haben bereits erlebt, dass die USA Stahlzölle erhoben hat, die von der Welthandelsorganisation für illegal erklärt wurden. Es gibt Konflikte zwischen Europa und den USA über Agrar- und Exportsubventionen. Die Zahl der Handelskonflikte bei wichtigen Waren und Dienstleitungen nimmt zu.
Während die erbarmungslose Politik des freien Marktes nach innen fortgesetzt werden wird, wird es auf internationaler Ebene verstärkte inner-kapitalistische Kämpfe um schrumpfende Weltmärkte geben. Wachsende militärische und geostrategische Spannungen werden von zunehmenden Konflikten bei Handel und Investitionen begleitet sein.
Könnte das die weitere Integration der Weltwirtschaft zum Stillstand bringen oder gar den Prozeß der sogenannten Globalisierung umkehren?
Das ist auf jeden Fall eine mögliche Perspektive. Die Weltwirtschaft entwickelt sich zyklisch. Jeder Zyklus hat eine Wachstumsphase, in der zunehmender Welthandel, steigende Produktion und vermehrte Investitionen die internationale Integration der Wirtschaft antreibt, was wiederum das Wirtschaftswachstum anheizt. Dieser Prozess hat aber seine Grenze erreicht. In fast allen zentralen Industrien, von den älteren wie Stahl und Textil bis zu den modernen wie Flugzeugbau und Computertechnologie, bestehen massive Überkapazitäten. Die wachsenden Handelskonflikte spiegeln den Versuch der Monopole in den verschiedenen entwickelten kapitalistischen Länder wider, ihre Binnenmärkte und ihren Anteil an den Weltmärkten zu verteidigen.
Einer der Gründe für die militärische Intervention der USA in Irak war das Bestreben, das Monopol der OPEC zu brechen und die Ölproduktion in Irak und anderen Golfstaaten zu privatisieren, beziehungsweise für die Ausbeutung durch die Öl-Multis zu öffnen. Das ist eine militärische Staatsintervention in den Weltölmarkt. Dasselbe könnten wir in weiteren strategischen Bereichen erleben.
Mit anderen Worten: Es ist nicht die unsichtbare Hand des Marktes, die alle Probleme löst. Der freie Markt wird dorthin gedrückt, wo der US-Imperialismus und andere westliche Mächte ihn haben wollen.
Die verstärkte internationale Konkurrenzsituation bildet auch den Hintergrund für den Widerstand Frankreichs, Deutschlands und Rußlands gegen den US-Militärschlag in Irak. Wird dieser Konflikt nun, nach dem schnellen Erfolg der USA, wieder in den Hintergrund treten?
Nein, der Konflikt wird sich verschärfen. Vielleicht wird es Versuche geben, den Schaden teilweise zu beheben und eine Form von Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland auf der einen und den USA auf der anderen Seite wiederherzustellen. Aber es handelt sich nicht um ein oberflächliches Problem. Die Auseinandersetzung wurzelt in den rivalisierenden Interessen der wichtigen europäischen Mächte und der US-Supermacht.
Der französische und der deutsche Kapitalismus befürchten, dass die USA die Bedingungen für die Weltwirtschaft und die internationalen Beziehungen allein im Interesse des US-Kapitalismus diktieren. Ihr Widerstand gründet in der Angst, aus verschiedenen Märkten und Einfluss-Sphären herausgedrängt werden. Zum Beispiel in bezug auf Öl: 70 Prozent des in den USA verbrauchten Öls wird in Nord- und Südamerika gefördert. Sie sind also nicht völlig auf das Öl im Nahen Osten angewiesen. Aber eine Kontrolle über dieses Öl würde ihnen enormen strategischen Einfluss geben, den sie gegen alle anderen kapitalistischen Mächte einsetzen könnten.
Ein zweiter Punkt ist, dass die europäischen Mächte die Folgen solcher Interventionen fürchten. Diese werden nicht zu einer stabileren Weltordnung führen, sondern zu Krisen, die nicht nur auf die USA, sondern auch auf Frankreich, Deutschland und andere Mächte zurückschlagen werden. Frankreich zum Beispiel befürchtet auch eine, wenn man so will, Rebellion der Millionen in Frankreich lebenden Muslime, die die französische Gesellschaft destabilisieren könnte.
Welche Rolle spielt der britische Imperialismus in diesem Spiel? Warum hat Großbritannien sich auf die Seite der USA geschlagen und wird es diese Position beibehalten?
Das ist wahrscheinlich, denn Großbritannien hat am Ende des Zweiten Weltkriegs die Rolle der zentralen kapitalistischen Macht in Europa gespielt, ist jetzt aber nur eine zweitrangige Macht. Insbesondere Deutschland, aber auch Frankreich, ist wirtschaftlich stärker. Blair reflektiert mit seiner Politik die Sichtweise der herrschende Klasse in Großbritannien: Sie glaubt, nur dadurch weltweit eine Rolle spielen zu können, dass sie am Rockzipfel des US-Imperialismus hängt. Großbritannien kann keinen internationalen Einfluss allein auf Basis seiner ökonomischen und politischen Stärke ausüben.
Die Herrschenden jagen dabei aber einer Illusion nach, denn da sie von den USA abhängen, müssen sie deren Politik ganz einfach folgen. Das heißt Großbritannien hat weltweit keine unabhängige, strategische Rolle mehr zu spielen.
Auf der einen Seite sehen wir also eine intensivierte Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich, auf der anderen verstärkte Auseinandersetzungen mit Großbritannien, Spanien und anderen Ländern. Was bedeutet das für die Zukunft der Europäischen Union?
In bezug auf die EU gibt es in der herrschenden Klasse Großbritanniens und sogar in der Blair-Regierung eine Spaltung. Ein Teil will der Euro-Zone beitreten, weil er davon aus geht, dass dies den britischen Kapitalismus stärken würde und weil er dies für notwendig hält, um vollen Einfluss auf die Politik der EU zu gewinnen und die gleiche Rolle wie Frankreich und Deutschland zu spielen. Ein anderer Teil glaubt, dass eine Ankettung an den Euro negative Folgen für die britische Wirtschaft hätte und Großbritannien an der Seite der USA größeren Einfluss ausüben kann.
Aber auch zwischen Deutschland und Frankreich werden die Konflikte zunehmen. Die Kontrolle der großen Mächte in der EU wird durch die Erweiterung abgeschwächt werden. Mit zehn neuen Mitgliedsstaaten wächst das Potential für Konflikte und sogar Chaos. Die EU wird nicht so ein kohärentes Gebilde wie in der Vergangenheit bleiben. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der beinahe stagnierenden europäischen Wirtschaft, die in der nächsten Zeit wahrscheinlich in einen Abschwung eintreten wird.
Das wird all diese Probleme verschärfen und könnte meiner Ansicht nach sogar den Euro gefährden. Er könnte auseinanderbrechen oder einige Staaten könnten austreten, was eine tiefe Krise in der europäischen Wirtschaft hervorrufen würde.
Der derzeitige Trend geht jedoch in Richtung stärkerer Integration zumindest der Staaten Kerneuropas. Eine Schlussfolgerung aus dem Konflikt mit den USA ist der Versuch der europäischen Mächte, eigene Militärstrukturen aufzubauen. Sie wollen ein militärisches, ökonomisches und politisches Gegengewicht zur US-Hegemonie schaffen.
Ist dieser Druck in Richtung weiterer Integration nicht kurz- bis mittelfristig stärker als die zentrifugalen Kräfte, die innerhalb der EU wirken?
Die Integration des Handels und der gegenseitigen Durchdringung mit Kapital wird sicherlich weitergehen und es wird sehr schwierig sein, das umzukehren. Die Frage des Euro ist jedoch sehr viel problematischer, denn er zwingt den Volkswirtschaften faktisch einen einheitlichen Zinssatz auf, unabhängig von der jeweiligen wirtschaftlichen Situation. Die nationalen Regierungen haben entscheidende makroökonomische Gestaltungsmöglichkeiten eingebüßt. Es gibt aber auf europäischer Ebene kein Gremium, das für eine einheitliche makroökonomischer Politik auf europäischer Ebene sorgen würde. Die Europäische Zentralbank entscheidet über die Leitzinssätze, verfolgt aber keine ökonomische Politik. In einer Situation tiefer ökonomischer Krise wird dies die Fortexistenz des Euro in seiner jetzigen Form unmöglich machen. Das heißt nicht, dass die EU selbst auseinanderfallen wird.
In strategischen Fragen ist Europa tief gespalten. Es gibt die französisch-deutsche Achse, die sich vehement gegen die Dominanz der USA zur Wehr setzt. Auf der anderen Seite haben Großbritannien, Spanien und Italien, trotz massenhafter Ablehnung des Krieges in diesen Ländern, die USA unterstützt. Die Regierungen der zukünftigen Mitgliedsstaaten wie Polen sind stark von den USA beeinflusst. Das führt zu einer viel uneinheitlicheren Situation in der EU. Man kann nicht genau vorhersagen, wie sich dies entwickeln wird, aber es ist ein Rezept für größere Spannungen innerhalb der EU in der nächsten Periode.
Welche Chancen gibst Du dem Projekt einer „europäischen Verteidigungsgemeinschaft“?
Besonders Frankreich und Deutschland befürworten dies. Die nationalen Interessen der wichtigen europäischen Mächte werden sich aber nicht so sehr angleichen, dass dies möglich wird. Es kann begrenzte Kooperation bei bestimmten militärischen Operationen geben, wie im ehemaligen Jugoslawien und Afghanistan bereits geschehen. Aber die Idee einer EU-Armee wird nicht umgesetzt werden. Die europäischen Staaten sind nicht in der Lage eine einheitliche Außenpolitik zu formulieren.
Die NATO ist ein weiterer Faktor. Die Erweiterung der NATO ist vorrangig ein amerikanisch-britisches Projekt, um der diplomatischen und strategischen Macht der EU etwas entgegenzusetzen. Die USA haben Polen und möglicherweise anderen osteuropäischen Staaten Vorteile versprochen, wenn sie der NATO zu US-Bedingungen beitreten. Eine davon ist militärische Unterstützung. Das werden die Menschen in Polen oder Ungarn möglicherweise als Verschwendung ansehen. Für die Regierungen ist es aber eine Frage des Prestiges. Sie haben die trügerische Hoffnung, dadurch größeren Einfluss auf die europäische Politik zu erlangen.
Das ist der Grund, warum Polen und andere Länder den US-Feldzug unterstützt haben. Sie wurden faktisch gekauft.