von Vadim Rogovin, 1996
Heute, wo so viel über den Zusammenbruch des Sozialismus geredet wird, ist es sehr wichtig, auf die folgenden Fragen zu antworten: Was ist in der Verganngenheit zusammen mit den herrschenden Regimen in der Sowjetunion und in einer Reihe anderer Länder Europas verschwunden? Worin bestehen die Ziele des Sozialismus und in welchem Maße waren sie in den sogenannten sozialistischen Ländern verwirklicht? Warum wurde der Sozialismus in der UdSSR zweimal verraten: zum ersten Mal von Stalin und den Stalinisten, und zum zweiten Mal von Gorbatschow und seiner Clique?
Wenn wir über diese Fragen nachdenken, dann kommen wir zu der Schlussfolgerung, dass das Ziel des Sozialismus darin besteht, soziale Gleichheit zwischen den Menschen zu erreichen.
Es ist kein Zufall, dass die öffentliche Meinung die Lage in den Ländern mit verstaatlichtem Eigentum immer von dem Standpunkt aus beurteilt hat, in welchem Maße dort die Prinzipien sozialer Gleicheit durchgeführt sind. Ich verweise auf eine Geschichte, die ein russischer Publizist erzählte, der oft in Spanien war. Vor kurzem trat eine bekannte Sängerin, eine kubanische Dissidentin, im spanischen Fernsehen auf. Sie erzählte empört, was es auf Kuba für Privilegien gibt, zum Beispiel, dass Parteifunktionäre in Krankenhäusern ein Einzelzimmer bekommen. Alle die davon hörten, sagten: „Ach, was gibt es nicht alles für Privilegien auf Kuba!“
Dabei hat niemand beachtet, dass am gleichen Tag eine Zeitung aus Madrid berichtete, dass der Vorsitzende einer großen Aktiengesellschaft nicht auf einem Treffen der AktionärInnen erscheinen konnte, weil er an diesem Tag mit seinem Privatflugzeug in die USA flog, um dort eine Konsultation seines Arztes zu erhalten. Dieser Vorfall hat keinerlei besondere Erregung verursacht. Und erwartet denn auch wirklich jemand vom Kapitalismus soziale Gleichheit und soziale Gerechtigkeit?
Obwohl ähnliche Fakten sehr oft mit deutlich demagogischen Zielen verwendet werden, hat das Volk die Privilegien in der Sowjetunion und in den anderen „sozialistischen“ Ländern mit seinen sozialen Instinkten immer als eine Erscheinung wahrgenommen, die das Bild und die Ideale des Sozialismus verzerrten.
Marxismus und soziale Gleichheit
Der Marxismus hat sich wiederholt dieser Frage zugewandt und versucht, sie theoretisch zu lösen. In ihrer Bewertung der Pariser Kommune maßen Marx und Engels der Tatsache große Bedeutung bei, dass der Lohn der StaatsbeamtInnen dort nicht höher war als das durchschnittliche Einkommen der ArbeiterInnen. Sie betrachteten diese Maßnahme als wirksames Mittel, um der Verwandlung des Staates aus einem Organ, das der Gesellschaft dienen soll, in eine Einrichtung, die über der Gesellschaft steht, vorzubeugen.
In seinem Buch „Staat und Revolution“ entwickelte Lenin diese Gedanken. Er schrieb, dass die Volksmassen eine Regierung wollen, die für sich selbst so wenig Geld wie möglich erfordert. Solch eine „wohlfeile Regierung“ ist im Kapitalismus prinzipiell nicht möglich. Lenin unterstrich, dass FunktinärInnen der Zweiten Internationale sich bemühten, diese marxistischen Ideen totzuschweigen, ähnlich wie die Ideologen des Christentums, die das Urchristentum mit seinem revolutionär-demokratischen Geist vergaßen, nachdem sie die Stellung einer Staatsreligion erhalten hatten.
Gleich nach der Oktoberrevolution wurden wichtige Maßnahmen durchgeführt, die darauf ausgerichtet waren, die Unterschiede zwischen den Einkommen verschiedener sozialer Gruppen zu verringern.
Um der Entstehung von Privilegien der verantwortlichen FunktionärInnen vorzubeugen, wurde das sogenannte Parteimaximum eingeführt, das heißt eine Obergrenze der Einkommen, die Mitglieder der Partei erhalten konnten. In den 20er Jahren konnte man zum Beipsiel folgende Erscheinung beobachten: Wen ein Betriebsdirektor Parteimitglied war, dann erhielt er für seine Arbeit 300 Rubel. Wenn der Direktor eines ähnlichen Betriebes kein Parteimitglied war, dann konnte er 500 Rubel erhalten.
In den 20er Jahren gab es auch nicht selten solche Fälle, dass ein Arbeiter einige Zeit den Posten des Stadt-Parteisekretärs besetzte, um dann von neuem an seinen alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Das wurde als völlig normal angesehen.
Die Situation begann sich zu verändern, als Lenin 1923 wegen einer Krankheit aufhörte, an der Arbeit teilzunehmen. Von diesem Zeitpunkt an begann die herrschende Bürokratie, sich bestimmte Privilegien anzueignen.
Die Linke Opposition gegen Stalin
Es ist kein Zufall, dass die Linke Opposition, an der sich viele alte Bolschewiki beteiligten, schon 1923 entstand. Sie kritisierte scharf die bürokratischen Tendenzen in Staat und Partei.
In der Diskussion zwischen der herrschenden Fraktion und der Linken Opposition wurde wenig über das Problem der Privilegien geredet. Aber der soziale Sinn dieses Kampfes war eng verbunden mit der Einstellung zur sozialen Ungleichheit.
Im Jahre 1925 schrieb Sinowjew, einer der Oppositionsführer, dass die Arbeiterklasse um große soziale Gleichheit bemüht ist. Dabei bestritt Sinowjew nicht, dass einen Lohn-Unterschied zwischen qualifizierter und nicht qualifizierter Arbeit geben kann. Stalin jedoch konzentrierte sich in seinem Referat auf dem XIV. Parteitag gerade auf diese Passage und bekräftigte, dass Sinowjew die von Marx im „Gothaer Programm“ aufgestellte These ablehnt, dass in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus bestimmte Unterschiede im Lohn erhalten bleiben sollen. „Die Opposition“, sagte Stalin, „greift die Einkommen der qualifizierten Arbeiter und der fleißig arbeitenden Bauern an“. In Wirklichheit standen hinter diesen demagogischen Worten Bestrebungen, die entstehenden Privilegien der Bürokratie zu schützen.
Später verwies Trotzki darauf, dass die Anhänger Stalins und die Mitglieder der Linken Opposition zu ein und demselben sozialen Milieu gehörten. Doch letztere wandten sich bewusst ab von diesem Milieu und verteidigten die Interessen der ArbeiterInnen und BäuerInnen.
Nachdem es Stalin gelungen war, die Linke Opposition zu besiegen, führte er entscheidende Veränderungen in der Ideologie der herrschenden Partei durch. Er warf die These auf, dass das Hauptprinzip des Sozialismus darin besteht, dass jeder seinen Lohn entsprechend seiner Arbeitsergebnisse erhält. Aber obwohl sowjetische ÖkonomInnen versuchten, den Inhalt dieses Prinzips zu verdeutlichen, konnte niemals einer erklären, wie man zum Beispiel die Arbeit eines Bergarbeiters mit der Arbeit eines Arztes, oder die Arbeit einer Ballerina mit der eines Hüttenwerkers vergleichen kann.
Nach dem Tod Stalins wurde dieses Postulat, trotz der Kritik am Stalinschen politischen Erbe, nie von einem der Parteiführer der KPdSU angezweifelt. Sie alle sprachen sich entschieden und hart gegen die sogenannte „Gleichmacherei“ aus.
Tatsächlich ist das Prinzip der Bezahlung nach Arbeit ein bürgerliches Prinzip. Es macht nur dann einen realen Sinn, wenn man es liberal interpretiert: jeder erhält Lohn in Abhängigkeit von seinen Arbeitsergebnissen, welche auf dem freien Markt als Resultat des Spiels von Angebot und Nachfrage zu Tage treten. Es ist klar, dass diese Prinzipien der Marktwirtschaft Ungleichheit nach sich ziehen. Die Funktion des bürgerlichen Staates besteht darin, diese Ungleichheit zu erhalten.
Marx und Lenin prognostizierten, dass jeder Staat, der nach einer sozialistischen Revolution aufgebaut wird und sich entwickelt, einen zweifachen Charakter haben wird: auf der einen Seite hat er einen sozialistischen Charakter, weil er das gesellschaftliche Eigentum gegen die kapitalistische Restauration schützt. Auf der anderen Seite hat er einen bürgerlichen Charakter, weil er die Privilegien einer Minderheit schützt. Deshalb nannten sie den Übergangsstaat bürgerlich, wenn auch ohne Bourgeoisie. Laut marxistischer Lehre soll diese Ungleichheit verschwinden. Das Ergebnis davon auf der politischen Ebene ist der Prozess des Absterbens des Staates.
Ab der Mitte der 20er Jahre jedoch entwickelte sich die Situation in der Sowjetunion entgegen dieser Gesetzmäßigkeit. Die herrschende Bürokratie verdrängte die Werktätigen von jedem Einfluss auf die Verteilung der materiellen Güter und verwandelte sich in eine machtvolle Kaste von Verteilungsspezialisten. Mitte der 30er Jahre übertrafen die Ausmaße der sozialen Ungleichheit in der Sowjetunion sogar die sozialen Unterschiede in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern.
Wenn wir über Privilegien in der Sowjetunion reden, dann müssen wir im Blick haben, dass die Sowjetunion in den 20er und 30er Jahren ein sehr rückständiges und armes Land war. Deshalb können einige der damaligen Privilegien im heutigen Deutschland unbedeutend erscheinen. Aber für das Bewusstsein der damaligen einfachen Leute hatten sie eine außerordentliche Bedeutung. In der Gesellschaft entstand eine neue soziale Athmosphäre. Wenn sich früher Menschen mit einer besseren materiellen Situation in einem gewissen Maße für ihre Lage genierten, dann fingen sie nun an, stolz darauf zu sein.
Nadjeschda Mandelstam, die Frau des bekannten sowjetischen Dichters Osip Mandelstam, schrieb in ihren Erinnerungen: „Bei uns war es häufig so, dass sogar ein Stück Brot als ein Privileg angesehen wurde.“ Sie erzählte von einem jungen Mann, der ein Beefsteak aß, das er von seinem Schwiegervater, einem Akademiker, in einer Verteilungsstelle erhalten hatte. Dazu sagte er: „Sehr lecker, und sehr angenehm, da andere sich das nicht erlauben können.“
Nadjeschda Mandelstam ergänzte, dass sogar die Medikamente nach ähnlicher Art verteilt wurden. Als sie sich einmal in der Abendessenpause bei einem Beamten darüber beschwerte, antwortete er ihr: „Denken Sie tatsächlich, dass man mich so heilen sollte wie irgendeine Putzfrau?“ Nadjeschda Mandelstam fügte hinzu, dass dieser Beamte ein anständiger und gutherziger Mensch war, „aber wer schnappt nicht über von unserem Kampf gegen die Gleichmacherei?“
Die Bürokratie gewährte auch anderen Bevölkerungsschichten Privilegien, um ihre eigene Isolation zu überwinden: der Arbeiter- und Kolchosenaristokratie, und vor allem den höheren Schichten der Intelligenz. Solch eine Sozialpolitik rief den Protest eines bedeutenden Teils der Kommunistischen Partei hervor. In diesem Zusammenhang schrieb Trotzki: „In dem Land, in dem die Oktoberrevolution durchgeführt wurde, ist es nicht möglich, die Ungleichheit anders zu kultivieren, als immer grausamere Repressionen gegen die Werktätigen zu richten.“
Trotzki wies wiederholt darauf hin, dass der totalitäre Charakter des Staates und der Massenterror hervorgerufen wurden durch das Streben der Bürokratie, ihre Privilegien zu schützen und aufrechtzuerhalten. Sie fürchtete sich vor der Vorstellung, dass der soziale Protest in offenen Klassenkampf übergehen könnte.
Die Sowjetunion nach dem Tod Stalins
Nach dem Tod Stalins war die herrschende Bürokratie, die wichtige Hebel der totalitären Herrschaft verloren hatte, gezwungen, gewisse Zugeständnisse an die egalitären Bestrebungen der Massen zu machen. Unmittelbar nach dem Tod Stalins wurden soziale Reformen und soziale Programme durchgeführt, die auf eine Verbesserung der Lebenslage von gering bezahlten und wenig wohlhabenden Schichten der Bevölkerung gerichtet waren. Als Ergebnis davon wurde der Lebensstandard dieser Schichten angehoben, während sich die Lage der herrschenden Bürokratie und der privilegierten Intelligenz verhältnismäßig verschlechterte.
Der verborgene Konflikt zwischen den höheren Schichten der Intelligenz und der Bürokratie zeigte sich in den 60er und 70er Jahren, zum einem in der Dissdentenbewegung und zum anderen in der Emigration. Dieser Konflikt war nicht nur damit verbunden, dass die Intelligenz nach mehr geistiger Freiheit strebte und einen Zugang zur Macht suchte. Er entstand auch aus einer schmerzhaften Reaktion auf den Verlust der materiellen Privilegien, welche diese Schicht unter Stalin besaß. Was jedoch die Bürokratie betritt, so antwortete sie auf den Verlust ihrer Privilegien mit einem bis dahin nicht bekannten Anschwellen der Korruption.
Trotz der allgemeinen Verbesserung des Lebensstandards in den 60er und 70er Jahren kann man die soziale Situation dieser Zeit mit den folgenden Worten Trotzkis beschreiben: obwohl es in der UdSSR keine Ausbeutung im Klassensinne gab, war die Lebenslage der Werktätigen in der Sowjetunion unvergleichlich schlechter als der Werktätigen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Die Bürokratie, die keine Klasse von Besitzern im direkten Wortsinne war, weil sie keine eigenen Formen des Eigentums besaß, hatte trotzdem alle negativen Züge der bisherigen herrschenden Klassen. Die Entstehung tiefster sozialer Unterschiede entwertete im Bewusstsein der Volksmassen die großen sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution: die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und des Landes. Die Herrschaft der Bürokratie führte dazu, dass ArbeiterInnen und BäuerInnen zu einem gewissen Grade begannen, einen Ausweg außerhalb des Sozialismus zu suchen.
Trotzki wies darauf hin, dass sich der Widerspruch zwischen den Eigentumsformen und den Verteilungsformen nicht unendlich entwickeln kann. Er muss in der einen oder der anderen Richtung aufgehoben werden. Entweder werden die Verteilungsformen den sozialistischen Eigentumsformen angepasst oder die bürgerlichen Prinzipien breiten sich von der Verteilung auch auf die Produktion aus.
Ausgehend von diesen Thesen stellte Trotzki wiederholt Prognosen auf, die zwei mögliche Entwicklungsvarianten beinhalteten. Die erste könnte man revolutionär nennen, die zweite konterrevolutionär. Leider verwirklichte sich die zweite Variante, die Trotzki konter-revolutionär nannte. Wobei sie sich mit erstaunlicher Genauigkeit realisierte, trotz einer wesentlichen Zeitverzögerung. (Wenn geniale Prognosen mit wörtlicher Genauigkeit in Erfüllung gehen würden, auch in den zeitlichen Fristen, von denen der Autor ausging, dann hätten wir es mit Weissagungen zu tun und die Geschichte würde einen mysthischen Charakter annehmen.)
Die Folgen der Perestrojka
Wie Trotzki ebenfalls vorhersah, führte die erste ernsthafte Erschütterung dazu, dass die sozialen Gegensätze zum Vorschein kamen.
In den ersten Jahren der Perestrojka deutete nichts darauf hin, dass sie mit der Restauration des Kapitalismus enden würde. Im Gegenteil: Gorbatschow trat in den Jahren 1985-1987 mit ständigen Forderungen auf in der Art von „mehr Sozialismus“, er sprach davon, die leninistische Konzeption des Sozialismus zu erneuern und so weiter.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der einzige bedeutende Politiker, der in dieser Zeit Gorbatschow von links angriff, Jelzin war.
Auf dem Parteitag 1986 zitierte Jelzin zustimmend die folgenden Worte Lenins: „Soziale Ungleichheit zerstört demokratische Strukturen und führt zu einem Autoritätsverlust der KommunistInnen.“
Drei Jahre später stellte er im Parlament die folgende rhetorische Frage: „Warum leben in unserer Gesellschaft Millionen von Leuten unter der Armutsgrenze, während andere sich an Reichtum und Luxus erfreuen?“
In seinem Buch, das 1991 erschien, kann man zum Beispiel folgende Passagen lesen: „So lange wir so arm und dürftig leben, kann ich kein Störfleisch und dazu Kaviar essen, ich kann nicht mit dem Auto rasen, an Ampeln und zurückschreckenden Autos vorbei, ich kann keine Importmedikamente verschlingen, während der Nachbar kein Aspirin für sein Kind hat. Das ist peinlich.“
In seiner Wahlkampgane versprach Jelzin, dass seine Politik in erster Linie auf die Leute orientiert sein wird, deren Einkommen unter dem Durchschnitt liegen. Nur auf der Basis solcher Parolen, die an das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes appellierten, gelang es ihm, an die Macht zu kommen.
Die Entwicklung der Perestrojka ab dem Jahr 1988 untstreicht, dass die Demontage der sozialistischen Grundlagen der Gesellschaft im kapitalistischen Chaos enden muss. Dieser Prozess wird begleitet von einem katastrophalen Niedergang von Wirtschaft und Kultur.
Der Kapitalismus kann, wie sich jetzt nachdrücklich zeigt, nicht eine neue Ausgabe des vorrevolutionären russischen Kapitalismus sein, weil die Länder unermesslich mehr miteinander verbunden sind. Das internationale Finanzkapital ist unermesslich mächtiger als im Jahre 1917. Deshalb ist nur eine Rückkehr Russlands zu einem halbkolonialen zurückgebliebenen Kapitalismus möglich. Wie Trotzki vorhersah können die Kräfte der kapitalistischen Restauration ihre Ziele nur erreichen durch einen langjährigen Bürgerkrieg und durch eine neue Zerstörung des Landes, das von der Sowjetmacht aufgebaut wurde.
Die Lage des Landes in den letzten fünf Jahren kann man mit einem Ausdruck beschreiben, der in der letzten Zeit in Russland populär wurde: „schwelender Bürgerkrieg“. Dieser schwelende Charakter des Krieges entlädt sich periodisch in heißen Kriegen. Beispiele dafür sind der Beschuss des Parlaments 1993 oder der Krieg in Tschetschenien, der noch lange nicht beendet ist, trotz aller Versprechungen der herrschenden Kreise.
Was die Zerstörung des Landes betrifft, so gab es wahrscheinlich noch niemals in der Geschichte in Friedenszeiten solch eine kolossale Vernichtung von Produktivkräften, wie in den vergangenenn fünf Jahren in Russland und in den anderen ehemaligen Republiken der UdSSR. Dabei kann man eine bestimmte Kontinuität zwischen den früheren und den heutigen Regimen beobachten. Man kann sagen, dass das heutige Regime die schlechten Seiten des früheren sowjetischen Regimes übernommen hat und sie mit den schlechten Seiten des Kapitalismus vereinigt hat.
Trotzki sagte: „Die verborgenen Einkommen der Bürokratie sind nichts anderes als Diebstahl, aber neben diesem legalen Diebstahl gibt es noch den illegalen übergroßenDiebstahl, vor dem Stalin (heute können wir sagen Jelzin, V.R.) gezwungen ist, die Augen zu schließen, weil die Diebe seine beste Stütze sind.“ Diese Bürokratie kann nicht anders herrschen, als indem sie zu systematischen Akten des Raubes Zuflucht nimmt. Alles zusammen schafft ein System des bonapartistischen Gangsterismus.
Die internationale Bedeutung der Oktoberrevolution
Wenn man das tragische Schicksal unseres Landes betrachtet, dann kann man mit vollem Recht sagen, dass die Oktoberrevolution den Werktätigen anderer Länder um vieles mehr brachte als den Werktätigen der Sowjetunion.
Die sozialistischen Veränderungen zwangen die herrschenden Klassen der kapitalistischen Länder, ernsthafte soziale Zugeständnisse an die Arbeiter dieser Länder zu machen. Staatliche Regulierungen im Bereich der Produktion und Umverteilungen zur Lösung sozialer Probleme sind eine allgemeine Gesetzmäßigkeit unseres Jahrhunderts, auf die auch der heutige Kapitalismus Rücksicht nehmen muss.
In allen kapitalistischen Ländern wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bestimmte Begrenzung der Marktfreiheit vorgenommen. Zu diesen Maßnahmen gehört zum Beispiel die Einführung eines Mindeststundenlohns und andere Garantien, die die Werktätigen der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder haben. Im Verlauf der Jahrzehnte wurde eine aktive Umverteilung durchgeführt: auf der einen Seite die Entwicklung von Sozialprogrammen als Hilfe für weniger gut gestellte, auf der anderen Seite eine starke Kontrolle der Einkommen und eine auf dieser Grundlage aufgebaute strenge Steuerpolitik. Diese Maßnahmen hatten nicht nur Einfluss auf die soziale Situation im Land, sondern auch auf die Wirtschaft. Sie erhöhten die kaufkräftige Nachfrage der Bevölkerung und federten so die Überproduktionskrise in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern ab.
Der Kapitalismus ist aber nicht fähig, die soziale Ungleichheit abzuschaffen. Diese Ungleichheit findet sich sowohl innerhalb dieses oder jenen Landes, wie auch zwischen den entwickelten und den schwach entwickelten Ländern, oder, wie man heute sagt, zwischen dem Norden und dem Süden unseres Planeten.
Sehr wichtig ist auch, dass der Zerfall der Sowjetunion in eine Reihe von zweitrangigen Staaten zum Angriff auf den „Sozialstaat“ in den entwickelten kapitalistischen Ländern führte. Es werden Versuche vorgenommen, die sozialen Errungenschaften zu zerstören, die im Verlauf von Jahrzehnten erreicht wurden.
Gleichzeitig möchte ich unterstreichen, dass der wirklich sozialistische Weg noch in keinem einzigen der Länder, die sich sozialistisch nannten, ausprobiert wurde.
Dieser Weg, der in den 20er und 30er Jahren von der Linken Opposition aufgezeigt wurde, besteht darin, die soziale Ungleicheit im Rahmen der strengen ökonomischen Notwendigkeit zu halten, damit sich im weiteren Verlauf im Maße des ökonomischen Aufschwungs die Unterschiede im Wohlstand der sozialen Gruppen Stück für Stück abmildern.
Bis dahin, solange in der Welt die Gegensätze zwischen Privilegierten und Elenden bestehen bleiben, besteht auch der Boden für die Entwicklung alter und die Herausbildung neuer sozial-politischer Bewegungen. Der Erfolg dieser Bewegungen wird davon abhängen, in welchem Maße sie fähig sein werden, die Lehren aus der positiven und negativen Erfahrung des sozialistischen Aufbaus zu ziehen.
Vorlesung von Prof. Dr. Vadim Rogovin (Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, 1998†) im Dezember 1996 in der Humboldt-Universität Berlin.
Der Text stammt aus der Zeitschrift „Tetradi po istorii rabočego i revolucionnogo dviženija“, Band 1, Moskau 2002; dt.: Hefte zur Geschichte der Arbeiter- und revolutionären Bewegung; russische Ausgabe der französischen Zeitschrift „Cahiers du mouvement ouvrier“; Redaktionsrat der russischen Ausgabe: Galina Valjuženič-Rogovina (Moskau), Mark Goloviznin (Moskau, verantwortlicher Redakteur), Jevgenij Kozlov (Sankt Petersburg), Dmitrij Lobok (Sankt-Petersburg), Jean-Jacques Marie (Paris). Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Mark Goloviznin. Der Text wurde aus dem Russischen übersetzt von Christoph Wälz