Arbeitszeitverkürzung bei maximalem Lohnausgleich?

In Gewerkschaften wird wieder über Arbeitszeitsverkürzung diskutiert – Debatte aus der Solidarität Nummer 83 (Oktober 2009)


 

1984 streikten Beschäftigte in der Metall- und Druckindustrie bis zu sechs Wochen für die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Auf ihrer Bundesjugendkonferenz 2007 kritisierte die ver.di-Jugend, dass die damals durchgesetzte Arbeitszeitverkürzung erst mit starker zeitlicher Verzögerung umgesetzt und „mit einer massiven Flexibilisierung der Arbeit als Zugeständnis an die Arbeitgeber erkauft“ worden war.

Lange spielte die Frage keine große Rolle in tarifpolitischen Gewerkschaftsdebatten. Jahrelang wurde die Arbeitszeit vielmehr ausgeweitet. Immer wieder akzeptierte die Gewerkschaftsspitze sogar eine unbezahlte Mehrarbeit, ohne dagegen zu mobilisieren. So nahm die ver.di-Führung im März 2008 die 39-Stunden-Woche in einem Teil der westdeutschen Kommunen hin.

Darauf reagierten linke ver.di-Aktive mit einem Aufruf, die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten wieder aufs tarifpolitische Tableau zu bringen: www.arbeitszeitappell.de. Die ver.di-Jugend hatte bereits 2007 beschlossen: „Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden in einem Schritt und bei vollem Lohnausgleich wird zum vorrangigen Ziel aller zukünftigen Tarifauseinandersetzungen.“ Andere, darunter Werner Sauerborn von ver.di Baden-Württemberg, äußerten sich in letzter Zeit ebenfalls zu diesem Thema. Sauerborn schrieb dazu in ver.di-publik Nr. 6/7 2009 und im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 7-8/09.

PRO: Werner Sauerborn, Vorstandssekretär beim ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg

Wer mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung unterwegs ist und nicht ohne Atempause den Zusatz „bei vollem Lohn- und Personalausgleich“ anschließt, riskiert Rüffel, besonders gern von Gewerkschaftslinken. Zurecht, denn gerade als Linke haben wir immer vor dem Risiko gewarnt, dass die Arbeitgeber uns die Kosten der Arbeitszeitverkürzung zuschieben, sei es indem sie den Lohnausgleich verweigern oder/und die Arbeitszeit intensivieren, wobei immer etwas unscharf geblieben ist, inwieweit auch von vollem Lohnausgleich zu reden ist, wenn nur der nominale Monatslohn erhalten blieb oder wenn wir über niedrigere Lohnabschlüsse in der Folge an der Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung beteiligt wurden. Die Warnungen waren allzu berechtigt, denn vielfach haben wir mit Lohneinbußen und mehr Stress und Belastungen die Arbeitszeitverkürzungen der achtziger Jahre bezahlt.

Dies hat Arbeitszeitverkürzungen diskreditiert und war eine der Ursachen, warum die Gewerkschaften vor etwa 20 Jahren ihre Arbeitszeitpolitik, wenn auch unfreiwillig, de facto eingestellt haben. Aber zu glauben, man könne sich straf- und folgenlos vom Thema verabschieden, hat sich als historischer Irrtum der Gewerkschaftsbewegung erwiesen. Das geräumte Feld wurde stattdessen von der Gegenseite besetzt durch ihr Verständnis von Arbeitszeitpolitik: erstens Teilzeitarbeit ohne jeden Lohnausgleich und alle möglichen Formen prekärer Jobs völlig außerhalb jeder tariflichen Gestaltung und Kontrolle, zweitens und andererseits entgrenzte und verlängerte Arbeitszeiten (die tatsächliche Wochenarbeitszeit in Deutschland ist allein seit 2003 um 3,3 Stunden auf 41,1 Stunden angestiegen) und drittens massenhaft Arbeitszeit null, Massenarbeitslosigkeit.

Aus dem moralisch und verteilungspolitisch berechtigten Anliegen des vollen Lohnausgleichs das Prinzip abzuleiten, „wenn kein voller Lohnausgleich, dann gar keine Arbeitszeitverkürzung“, hat hinterrücks einen viel größeren Flurschaden angerichtet und dazu beigetragen, dass die Gewerkschaften via Massenarbeitslosigkeit erst richtig in die Defensive gerieten und verteilungspolitisch so stark verloren haben.

Wenn wir einen Neustart in der Arbeitszeitpolitik wollen, müssen wir diese Lektion aufarbeiten. Dazu gehört, sich zu vergegenwärtigen, dass die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zwei Dimensionen enthält, die nur analytisch, nicht praktisch zu unterscheiden sind. Die erste ist das Verteilen in der Klasse: Die einen bekommen wieder Arbeit, weil die anderen weniger arbeiten. Dies ist reine Arbeitsumverteilung, die das volkswirtschaftliche Beschäftigungsvolumen nicht erhöht. Dennoch ist diese reine Arbeitsumverteilung für uns von höchster Bedeutung, zum einen weil sie eine Frage der Solidarität aller auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft Angewiesener ist, und zum anderen, weil sie Massenarbeitslosigkeit verhindert, wodurch den Arbeitgebern ein wirksames Erpressungsinstrument für Dumpingpolitik aller Art zuwächst.

Die davon zu unterscheidende zweite Dimension der Arbeitszeitverkürzungspolitik ist die Verteilung zwischen den Klassen, also die Frage des Lohnausgleichs. Wie jede Lohnerhöhung erhöht auch jede Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich die Arbeitskosten. Ohne Lohnausgleich ist sie für die Arbeitgeber vor allem ein Organisationsproblem, mit Lohnausgleich eine Kostenbelastung. Hier liegt der verteilungspolitische Knackpunkt und die Herausforderung für die Gewerkschaften.

Es geht um eine Neubestimmung dieser beiden Dimensionen der Arbeitszeitpolitik zueinander nach der Formel: Arbeitszeitverkürzung bei maximalem Lohnausgleich, das heißt Arbeitsumverteilung auf jeden Fall und voller Einsatz für einen maximalen und sozial gerechten Lohnausgleich.

Prämisse dieser Argumentation ist, dass Arbeitszeitverkürzung auch Arbeit umverteilt und nicht nur intensiviert. Dieses Anliegen ist im zweiten Zusatz „bei vollem Personalausgleich!“ etwas missverständlich repräsentiert. Als gewerkschaftliche Schlüsselstrategie gegen die Folgen der Krise wird Personalausgleich selten Neueinstellung Erwerbsloser bedeuten, sondern Verhinderung von Erwerbslosigkeit noch Beschäftigter. Aber Arbeitszeitverkürzung soll ja nicht nur unsere Antwort auf die Krise sein, sondern wieder zu einer Grundform von Gewerkschaftspolitik werden.

Damit sie das werden kann, muss sich die Debatte schnell von der Forderungsebene in Richtung Durchsetzungsstrategie bewegen. Zwei Punkte werden dabei zentral sein: Erstens wird Arbeitszeitverkürzung als gesellschaftliches Emanzipationsprojekt nur in breiten Bündnissen und zweitens nur als zusammenführende Strategie der europäischen und internationalen Gewerkschaftsbewegung gegen die Krise durchsetzbar sein.

Contra: Katja Hoffmann, ver.di-Vertrauensfrau im Klinikum Kassel und SAV-Mitglied

Im August waren offiziell 3,48 Millionen Menschen erwerbslos, inoffiziell sehr viel mehr. Fast 1,5 Millionen Beschäftigte steckten in Kurzarbeit, für viele die Vorstufe zur Entlassung. Der Vorstandschef von MAN verplauderte sich und meinte, dass es bis zur Bundestagswahl ein Stillhalteabkommen zwischen Industrie und Regierung gibt. Es ist zu befürchten, dass die Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten massiv ansteigt. Gleichzeitig sind weitere Arbeitszeitverlängerungen angedacht. So schlägt die Bundesbank die Rente mit 69 vor! Der Stahlunternehmer Max Aicher fordert von seiner Belegschaft (der ehemaligen Maxhütte) zum Beispiel die 48-Stunden-Woche. Dem muss kontra gegeben werden. Am Besten durch den Kampf für Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten.

Allerdings haben die Beschäftigten mit Arbeitszeitverkürzungen, bei denen der Lohn- und Personalausgleich „Verhandlungsmasse“ ist, negative Erfahrungen gemacht. So kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Personalausgleich. Dadurch verstärkte sich jedesmal der Druck auf die Beschäftigten, obwohl bereits viele am Limit arbeiten – während andere arbeitslos blieben oder Auszubildende nicht übernommen wurden.

Oft setzten die Arbeitgeber auch auf Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich, um die eigenen Kosten zu senken. Die Gewerkschaftsspitze ließ sich für den angeblichen „Erhalt von Arbeitsplätzen“ immer wieder darauf ein. Dabei konnten solche Zugeständnisse keinen Stellenabbau verhindern, sie haben ihn nur noch billiger gemacht für die Arbeitgeber. Auf Seiten der Beschäftigten hingegen führten solche Kompromisse zum Verlust von Lohn – aber auch von Kampfbereitschaft.

Beim TVÖD der kommunalen Krankenhaus-Beschäftigten wurde die Arbeitszeit von 38,5 Stunden pro Woche im Gegensatz zu anderen kommunalen Beschäftigten zwar beibehalten, wird aber nun von den KollegInnen durch den Verzicht auf Lohnbestandteile bezahlt. Dabei können sich viele den Verzicht auf Lohn und auch auf Lohnerhöhungen nicht leisten. Erst Recht, wenn man bedenkt, dass die Realeinkommen laut einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sogar erstmals im Aufschwung (2003 bis 2007) rückläufig waren.

Ein Blick auf unsere Konten reicht, um bei einer Arbeitszeitverkürzung für den vollen Lohn- und Personalausgleich einzutreten. Dazu kommt, dass die halbherzige Haltung der Gewerkschaftsoberen die Gegenwehr generell geschwächt hat. Auch deshalb ist es falsch zu sagen: „Arbeitszeitverkürzung – Ja, beim Lohnausgleich sehen wir dann mal weiter.“ Oder: „Teilweiser Lohnausgleich ist besser als gar nichts.“ Genau das hat zum Vertrauensverlust bei KollegInnen beigetragen und der Arbeitgeberseite die Ausweitung des Niedriglohnsektors erleichtert.

Im Öffentlichen Dienst muss das Nahziel die Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden in der Tarifrunde bei Bund und Kommunen Anfang 2010 sein, als erster Schritt hin zu einer weiteren drastischen Arbeitszeitverkürzung. Es wäre aber ein kalkulierter Fehler, nur mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in die Tarifgespräche zu gehen. Angesichts der tiefsten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren werden die Arbeitgeber natürlich den Verzicht auf Lohnerhöhung fordern und jede Möglichkeit zur Absenkung genaustens ausleuchten. Wird der volle Lohnausgleich zur Verhandlungssache, bleibt der positive Effekt der Arbeitszeitverkürzung auf der Strecke. Deshalb brauchen wir eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Personal- und Lohnausgleich und eine deutliche Tabellenerhöhung. Weniger verdienen die KollegInnen nicht und weniger reicht auch nicht!

Zur Finanzierung gilt es, die Umverteilung von unten nach oben zu stoppen. Bezahlen sollen die Reichen und die Konzerne, deren Gewinne im letzten Aufschwung vor allem durch die Beschäftigten erwirtschaftet wurden. Nötig wäre die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine Anhebung der Spitzensteuersätze. Dementsprechend muss ver.di den anstehenden Tarifkampf auch als Kampf gegen die Vorhaben der neuen Bundesregierung sehen.

Wer die Profitlogik schluckt, landet zwangsläufig bei Zugeständnissen an die Arbeitgeber. Statt sich dem kapitalistischen System unterzuordnen, muss die Gewerkschaftsführung jedoch vor allem ihre Basis vertreten. Und dort wächst die Konfliktbereitschaft gegenüber den Herrschenden.

Deshalb muss es einen gewerkschaftlichen Kurswechsel geben, damit die Arbeitszeitverkürzung zu einem attraktiven Streikziel wird. Arbeitszeitverkürzung zu erkämpfen und dann auf Lohn zu verzichten oder eine höhere Arbeitsbelastung auszuhalten, das können und wollen die KollegInnen nicht. Die Gewerkschaft ver.di muss sich in der Tarifrunde 2010 klar positionieren. Dazu gehören Forderungen, hinter die sich die Beschäftigen stellen können, für die sie „voll“ mobilisierbar sind.