Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter und Jugendliche wollen die „Diktatur“ Sarkozys beenden.
„Die Benzinknappheit weitet sich aus, nur die Demos füllen sich“, war eine Schlagzeile des französischen Satiremagazins Le Canard Enchaine am Tag nachdem mehr als dreieinhalb Millionen Menschen in 260 Städten erneut auf die Straße gingen – ein Zwanzigstel der französischen Bevölkerung.
Siebzig Prozent der Bevölkerung unterstützen die Aktionen. In einigen kleineren Orten demonstrierten bis zu einem Drittel der EinwohnerInnen. Die Anzahl derer, die sich neu der Bewegung anschlossen, zeigt die Tiefe der Unzufriedenheit mit der Rentenreform und Vielem mehr.
Analyse und Bericht von Clare Doyle, Mitglied des Internationalen Sekretariat des Kommitees für eine Arbeiterinternationale, die Paris und Rouen besuchte
Marie-Jose Douet, ein Mitglied der Gauche Revolutionnaire (CWI in Frankreich), die 1968 am Generalstreik beteiligt war und sich, wie so viele, daran erinnern kann, als wäre es gestern gewesen, betrachtet die gegenwärtige Situation als besser vergleichbar mit dem Jahr davor. 1967 war ein Jahr sporadischer, wenn auch bitterer Streiks und landesweiter Straßenproteste. Es war aber kein Vergleich zu dem, was im folgenden Jahr geschah, als Alles anhielt, Fabriken besetzt wurden und der Präsident De Gaulle aus dem Land floh. Überall wurden Diskussionen darüber geführt, wie man eine sozialistische Gesellschaft aufbauen könnte.
Der heutige Kampf ist intensiver als 1967. 25 Prozent der Jugendlichen sprechen sich für „eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft“ aus. Aber nur wenige, sogar unter den Streikenden und Demonstrierenden, betrachten eine sozialistische Revolution als „realistisch“. Dennoch findet eine rasche Politisierung unter ArbeiterInnen und Jugendlichen statt.
Vergleiche sind sinnvoll – mit den Sit-In-Streiks 1936, dem Aufschwung revolutionärer Ideen nach dem zweiten Weltkrieg, dem Streik im öffentlichen Dienst 1995/6, als das Land durch den vollständigen Halt der Bahn- und U-Bahn-ArbeiterInnen zum Stillstand gebracht wurde, sogar mit der Französischen Revolution und der Pariser Kommune! Aber es gibt keine exakte Parallele.
Der Soziologe Philip Corcuff mag die Situation am besten durch einen Vergleich zur permanenten Mobilisierung in Italien ´68-69 beschrieben haben. Tatsächlich gab es zehn Jahre, in denen sich Elemente vorrevolutionärer Situationen in der italienischen Gesellschaft entwickelten. Auch dort war die Idee präsenter, für Sozialismus oder Kommunismus zu kämpfen. Das Problem war, dass die großen „kommunistischen“ und „sozialistischen“ Parteien nicht darauf vorbereitet oder dazu bereit waren, den Klassenkampf bis zur Abschaffung des verrotteten Kapitalismus und zur sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft zu führen.
Heute gibt es in Frankreich ein noch größeres politisches Vakuum, wenn man die pro-kapitalistische Politik der ehemaligen Arbeiterparteien betrachtet, und das Unvermögen aller antikapitalistischen Parteien, ein Programm für sozialistische Veränderungen vorzulegen. Die Bewegung ist noch nicht stark genug, die Frage nach der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse und ihre sozialen Verbündeten aufzuwerfen. Dennoch tritt die Frage danach, wer die Gesellschaft regiert, zunehmend auf, und beide Seiten haben sich darauf vorbereitet, einen langen Kampf zu führen.
Beharrlicher Kampf
Der beharrliche Kampf, der sich zwischen den Klassen in Frankreich entwickelt hat, erregt die Aufmerksamkeit der ArbeiterInnen auch in anderen Ländern. Nach dem gehäuften Auftreten von Generalstreiks in Griechenland, Portugal und Spanien werden die Ereignisse in Frankreich besonders eindringlich die Stimmung beeinflussen, die sich europaweit für einen Kampf gegen soziale Angriffe der Regierungen entwickelt.
In der vergangenen Woche betonten beide Seiten im Kampf um die Rentenreform erneut ihre Entschlossenheit, nicht nachzugeben. Am Dienstag, den 19., stieß der 6. nationale Streik- und Aktionstag innerhalb von sechs Wochen auf breite Teilnahme, am Donnerstag wurden Gespräche zwischen Regierungsvertretern und Gewerkschaftsführern abgebrochen und neue Aktionstage für den 28. Oktober und den 6. November ausgerufen. Genau wie die wichtigsten Gewerkschaftsverbände, unter anderem die CGT und die CFDT, hatte sich die CTC, die höhere Verwaltungsangestellte repräsentiert, aus dem Kampf zurückgezogen und kehrte nun zurück. Wie Jean-Marie Pernot am vergangenen Freitag in Les Echos schrieb: „Weder die CGT noch die CFDT können in dieser Phase aus dem Konflikt entkommen“.
Präsident Sarkozy und sein Innenminister, Hortefeu, wiederholen ihr Mantra, dass es keinen Weg zurück gäbe, und beschuldigen die Bewegung, durch eine Minderheit das Land zu erpressen. Am Freitag Morgen nutzten sie Notstandsgesetze um gepanzerte Polizisten gegen einen Streikposten in einer Ölraffinerie in der Nähe von Paris einzusetzen, drei Menschen wurden dabei verletzt. Später an diesem Tag stimmte das Parlament wie erwartet für die „Reformen“. Diese Woche wird Sarkozy Gebrauch von weiteren besonderen Verfassungsrechten machen, die nur der Präsidenten besitzt, um die Rentenreform eiligst in der Nationalversammlung am Donnerstag beschließen zu lassen.
Beide Seiten scheinen entschlossener als je zuvor, aber wie lange kann dieser Kampf dauern? Werden die Semesterferien, die Benzinknappheit oder die Verabschiedung der Reform die Bewegung schwächen oder wird sie weitergehen? Associated Press berichtet, dass „Der Vorsitzende der nationalen Treibstoffindustrie, Jean-Louis Schilansky, sagt, sie habe Schwierigkeiten, Treibstoff zu importieren, um die Knappheit zu kompensieren, weil Streikende auch zwei zentrale Öllager in Le Havre und Marseille blockieren. Dutzende Tanker bleiben vor Marseille liegen, ohne dass sie entladen werden könnten.
„Das Problem ist nicht so sehr, Öl zu finden; es liegt darin, es ins Land zu kriegen“, sagte er. „Wenn die Depots und Raffinerien weiterhin blockiert werden, werden wir es nicht schaffen“. Wenn organisierte ArbeiterInnen in Belgien und den Niederlanden Solidaritätsaktionen durchführen, wie sie das zuvor schon machten, und die Sondervorräte, die für Wochen und Monate reichen sollen, blockiert werden, gerät die Regierung in echte Schwierigkeiten.
Es ist das überwältigende Gefühl der Stärke von unten und die landesweite Unterstützung für Streiks und Blockaden, die die Gewerkschaftsführer dazu zwang, weiterhin an der Bewegung teilzunehmen. Es sind auch diese Dinge, die die wichtigste Opposition, die Sozialistische Partei, zwangen, von ihrem Vorschlag abzurücken, eigene „Reformen“ im Rentenbereich vorzuschlagen. Sie versprach stattdessen, Sarkozys Gesetze rückgängig zu machen, nachdem Sarkozy und seine Partei, die UMP – (Union für eine Volksbewegung!) – in den Wahlen 2012 besiegt würde. Die Parteichefin der SP, Aubry, prangerte in Anlehnung an ein Flugblatt von Francois Mitterand gegen de Gaulle 1964 Sarkozys „permanenten Coup“ an.
Aber kann die Bewegung ohne eine Führung von Streikenden und Demonstrierenden selbst, die die Kämpfe auf allen Ebenen vernetzt, bestehen bleiben, ohne eine klare Strategie, die zum Sieg führt, hinsichtlich der Rentenreform und hinsichtlich der Frage, wer die Gesellschaft regieren sollte? Eine Sonderbeilage der Égalite, der Zeitung der Gauche Revolutionnaire, erklärte den Zugang, der notwendig ist – einer, der den Kampf bis zum Ende vorsieht, einen echten Generalstreik und die Vernetzung der Koordinationskommitees auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Debatten und Diskussionen müssen in diesen Gremien geführt werden – darüber, welche konkreten Schritte den Kampf weiterentwickeln können und auch über die Perspektive eines sozialistischen Wandels der Gesellschaft.
Stärke der Bewegung
Die mangelnde Aussicht auf einen Sieg, die von den Gewerkschaftsführern propagiert wird, kann dazu führen, dass der Kampf hinausgezögert und in gewisser Weise zu einem „Stellvertreterkampf“, wie Einige ihn bezeichnen, wird. Der Prozentsatz der ArbeiterInnen, die an Streikaktionen teilnehmen, liegt im Schnitt bei etwa 12 Prozent. Bei den Bahnangestellten und LokführerInnen lag er näher an 30 Prozent, mit großen regionalen Schwankungen. Bisher gab es nur in wenigen Orten wie Marseille proportional große Aktionen und Demonstrationen. Kämpferische Traditionen wurden aber in verschiedenen Gebieten wiederbelebt und Diskussionen darüber, was das alles zu bedeuten hat, finden seit einiger Zeit auf einem politisch höheren Niveau statt.
Die Möglichkeit einer oder zweier Arbeitergruppen in der modernen Gesellschaft ein Land recht schnell wirtschaftlich lahmzulegen, wie hier bei den Hafen- oder ÖlarbeiterInnen,, ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann so die Regierung von wenigen Streikenden ins Schleudern gebracht werden. Andererseits kann die Bewegung durch die geringe Einbeziehung anderer Schichten geschwächt werden.
Bisher hat die Bewegung eine erstaunliche Stärke beibehalten. Das Problem, dass die hohe Anzahl an Streiktagen die Löhne und Gehälter einer Minderheit anfrisst konnte teilweise durch Solidaritätsfonds für die RaffineriearbeiterInnen gelöst werden. ArbeiterInnen aus anderen Industrien und im öffentlichen Dienst streiken teilweise abwechselnd, um die finanzielle Belastung auf alle zu verteilen.
Nicht einmal die Szenen von Jugend“krawallen“ in Nanterre und Lyon haben die Unterstützung für die Revolte gegen Sarkozy geschwächt. Rechstradikale Schlägertrupps versuchten, Jugendliche und einige Streikwachen anzugreifen und hatten damit wenig Erfolg. Sie können jedoch zu einer größeren Gefahr werden, sollte die Bewegung abflauen. Es besteht ein breites Verständnis darüber, dass in Lyon Agents Provocateurs (Provokateure der Polizei in Zivil) eingesetzt wurden und dass, in jedem Fall, die Jugend genügend gute Gründe hat, wütend zu sein. SchülerInnen auf dem Weg zu ihrer ersten Demonstration (in Rouen am letzten Donnerstag) sagten, dass das hier wahrscheinlich eine gute Sache sei, weil „auch 1968 die Dinge auf diese Weise angefangen haben“.
Dieses Mal, im Gegensatz zu damals, begannen die Massen der ArbeiterInnen den Kampf und die Jugend stieß später dazu. Beide spüren, wie ihre Macht zunimmt. Die Kombination dieser Kräfte beunruhigt die Regierung. Einige Minister fordern, eine härtere Linie einzuschlagen, während andere fürchten, das würde nur eine noch tiefere Krise provozieren.
In dieser instabilen Situation kann ein einzelner Vorfall eine Explosion herbeiführen und die Bereitschaft der Sarkozy-Regierung, in ihrem Überlebenskampf zu harten Maßnahmen zu greifen, erhöhen. Wie es das CWI bereits zuvor beschrieb, gibt es schon jetzt in Frankreich Elemente einer vorrevolutionären Situation. Sie könnten sich entwickeln. Sie könnten sich aber auch in einer Stimmung der Enttäuschung auflösen. In jedem Fall wird nach dieser in vielerlei Hinsicht neuartigen Massenbewegung der französischen Arbeiterklasse nichts mehr so sein, wie zuvor.
Harte Linie
Die oben zitierte Canard Echaine beschrieb die Wahlmöglichkeiten, die dem zunehmend unbeliebten Präsidenten Frankreichs offen stehen: „Wenn die Benzinleuchte rot leuchtet, gibt es zwei Möglichkeiten für die Person, die das Auto führt: Entweder langsamer fahren, um weniger zu verbrauchen, oder das Gegenteil, stärker aufs Gas gehen, um schneller zur nächsten Tankstelle zu kommen. Von Natur aus nervös, hat der Fahrer des Staatsschiffs sich offensichtlich für die zweite Möglichkeit entschieden – den Druck zu erhöhen“.
Er nutzt seine besondere Verfassungsmacht um die letzten Schritte der Rentenreform durchs Parlament zu drücken, aber Gesetze wurden bereits zuvor beschlossen und nicht durchgesetzt. Unter dem Druck der massiven Jugendbewegung von 2006 (die auch eine Ferienzeit über Ostern überstanden hatte) wurden die Angriffe auf die Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz der ersten Arbeitsverträge von Jugendlichen (CPE) zurückgenommen, nachdem die Gesetze bereits beschlossen waren.
Sarkozy weiß, dass jedes Zugeständnis an die Bewegung als Beweis dafür gesehen würde, dass sich Militanz auszahlt, und damit der Rest seines Programms und seine politische Zukunft auf dem Spiel stehen.
Dieser Möchtegern-Bonaparte hat sich für eine brutale Taktik entschieden, und versucht, die Entschlossenheit der Streikwachen bei den Ölraffinerien physisch zu brechen. „Im Namen der Verteidigung der Nationalinteressen“ nutzte er Notstandsgesetze, die nur für Kriegszeiten und militärische Angriffe bestimmt sind, damit die grundlegende Versorgung gewährleistet ist. Sarkozy zielt auf eine schwere Niederlage der Gewerkschaftsbewegung im Stil von Thatcher (in Großbritannien in den 80er Jahren) ab. Er hat bereits begonnen das Streikrecht zu beschneiden, indem er ein Mindestmaß an Dienstleistungen festgeschrieben hat, das immer gewährleistet sein muss, beispielsweise im Schienenverkehr (was einer der Gründe dafür war, dass dieses Mal nicht alle ZugführerInnen streikten).
Die Raffinerie von Total in Grandpuits, in der Streikende von der Polizei verletzt wurden, ist eine von zwölf streikenden Raffinerien und zur Zeit bekannt als „Bastion des Widerstands“. Sie war neun Tage lang geschlossen gewesen, als die Polizei räumte und die ArbeiterInnen zwang, die Tore zu öffnen und die Arbeit wieder aufzunehmen. In einem Interview des Fernsehsenders France 3 sagte der CGT Delegierte Charles Fulard mit Tränen der Wut in den Augen: „Wir sind hier nicht im Krieg! Das ist kein Militärflughafen!! .. Es sollte jetzt einen Generalstreik geben!“ Aber die Gewerkschaftsführung drückte ihre Unnachgiebigkeit aus und rief stattdessen dazu auf, Ruhe zu bewahren!
Wenn sie zu einem Generalstreik aufriefe, selbst zu einem von begrenzter Dauer, würde das ArbeiterInnen motivieren, weiterzugehen in sie auf den Fahrersitz eines Fahrzeugs bringen, das sie in Richtung einer Doppelherrschaft bringen und die Regierung in der Luft hängen lassen würde.
Sarkozys Zukunft
Einige Cartoon-Zeichner stellen Sarkozy als zweitklassigen General de Gaulle dar, während er versucht, sich der Wut von Millionen Menschen in den Straßen entgegenzustellen. Der mächtige General, der Sonderkommandos der Polizei gegen Jugendliche einsetzte und den 10-Millionen-Generaltreik zu ignorieren versuchte, endete als diskreditierte Figur ohne übrigen Wert für die herrschende Klasse. 2010 ist nicht 1968. Es gibt kein klares sozialistisches Bewusstsein unter den Teilnehmenden an den Protesten, weil es keine MassenarbeiterInnenpartei gibt, die ein sozailistisches Programm vertritt. Jeder hat eine klare Vostellung davon, was er oder sie nicht will – die verhasste Rentenreform. Mehr und mehr Leute wollen ein Ende der Regierung des arroganten und diktatorischen Sarkozy und seiner Minister, die die Superreichen verteidigen während sie den Rest der Bevölkerung angreifen.
Es wurde erwartet, dass die dritte Oktoberwoche entscheidend sein würde. Sarkozy behauptete, die Bewegung „verliere an Dampf“. Aber die Größe und die Stimmung der Dienstagsdemos zeigten eine klare Entschlossenheit dazu, die Beschlüsse des Parlaments nicht zum Ende der Bewegung werden zu lassen und dass es um mehr geht als die Rentenfrage.
Es gibt Faktoren, die die Mobilisierung zeitweilig schwächen können. Dieses Wochenende sah den Beginn der Allerheiligen-Ferien. Schulen, Hochschulen und Unis sind geschlossen und viele ArbeiterInnen versuchen, einige Tage Urlaub zu machen. Nur wenige werden weit wegfahren können. Die ZugführerInnen sind eine der Gruppen, die täglich neue Streiks beginnen. Einige Bus- und U-Bahn-FahrerInnen beteiligen sich an Streiks und Aktionen und blockieren Linien und Verkehrskreisel. LKW-Fahrer verursachen durch langsames Fahren Staus.
Auch das schrittweise Austrocknen der Tankstellen, während ArbeiterInnen in den Öllagern mit ihrer „Alle sollen raus“-Strategie gegen die Rentenreform fortfahren. Ein weiteres Zeichen des Gefühls der Stärke gegen die Sarkozy-Regierung und der Unterstützung der Bewegung ist, dass es wenig oder keine Feindlichkeit gegenüber den streikenden ArbeiterInnen gibt. Ein TF1-Fernsehjournalist kommentierte am Ende einer hektischen Woche: „20 Prozent Prozent fahren in Urlaub, der Rest bleibt einfach philosophisch“.
Wenn die Unterbrechung des Alltags ohne Aussicht auf Erfolg weiterbesteht, kann die Stimmung kippen. Am Tag nach den Massendemonstrationen in der vergangenen Woche wurde allerdings eine Umfrage veröffentlicht, in der sechs von zehn Leuten aussagten, sie wollen, dass der Kampf weitergeht. Darunter müssen auch einige sein, die in der letzten Wahl für Sarkozy gestimmt haben. Die letzte IFOP-Umfrage ergab, dass nur 5 Prozent der Menschen noch immer voll hinter Sarkozy stehen und nur weitere 24 Prozent ihn „einigermaßen“ unterstützen.
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Auf der Demo
Am letzten Dienstag waren zwei Freunde auf der Demo in Paris, Jason und Karim – nicht gewerkschaftlich organisiert, Techniker im Baubereich, und draußen auf der Straße bei einem Anti-Regierungsprotest, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie sind rausgegangen um zu beweisen, dass Sarkozy falsch liegt: „“Die Bewegung hat nicht ihren Dampf verloren“. Er jongliert mit Zahlen“, sagt Jason. „Ich habe ihn gewählt. Wie viele Andere, glaubte ich seinen Versprechen, mehr zu verdienen, wenn wir mehr arbeiten. Jetzt bereue ich es. Die 35-Stunden-Woche ist etwas, das wir haben müssen, um uns ausruhen und bei unserer Familie sein zu können und so weiter. Ich werde froh sein, beim nächsten Mal für den Postboten Besancenot (von der Neuen Antikapitalistischen Partei) zu stimmen.“
Die massive Demonstration war tatsächlich ein selbstbewusster und entschlossener Ausdruck der tief empfundenen und weit verbreiteten Wut über Sarkozy und seine Politik von über 300.000 Protestierenden. Es gibt ein starkes Gefühl dafür, die Einheit aufrecht zu erhalten um ihn zu besiegen, jetzt und bei den nächsten Wahlen.
Mit ihren Transparenten und Plakaten, Böllern und Fackeln, Pfeifen und Ballons marschierten die ArbeiterInnen, tanzten die Jugendlichen und machten Anhalten-Losrennen-Aktionen auf dem ganzen Weg vom Place d’Italie bis zur Straße Les Invalides fünf Kilometer weiter. Jeder organisierte Gewerkschaftsblock hatte Autos und Transporter – einige, die mit Lautsprechern Sprüche und revolutionäre Lieder spielten, einige, die warmes Essen und heiße und kalte Getränke verkauften, inklusive des beliebtesten Demo-Getränks – Mojito, einem Cocktail auf Rumbasis.
Geführt von den heldenhaften ÖlarbeiterInnen folgten die soliden Reihen der LokführerInnen, ArbeiterInnen der Autoindustrie, der Telekom und PostmitarbeiterInnen, LehrerInnen und Angestellte aus dem öffentlichen Dienst, ArbeiterInnen der Elektro- und Gasindustrie, Krankenhaus-MitarbeiterInnen – die eine zunehmend wichtige Rolle im Kampf spielen. Neben diesen „traditionelleren“ Gruppen der organisierten ArbeiterInnen und Angestellten waren die prekären Beschäftigten, die „sans-papiers“ (MigrantInnen ohne Papiere) und Selbstständige, sowie nicht wenige RentnerInnen, einige von ihnen in ihren 80ern, die die ganze Strecke mitgelaufen sind. Einige der letzten Blöcke der Demo warteten über vier Stunden bevor sie auch nur losgehen konnten.
Im Verlauf der außergewöhnlich starken Bewegung schloss sich zunehmend die Jugend den Demos und Protesten an – SchülerInnen der Oberschulen und Universitäten. Unter den lebhaftesten und lautesten Demoblöcken nahmen sie die Parolen der großen (und siegreichen) Bewegung gegen das CPE (Verschlechterungen im Arbeitsrecht der ersten Arbeitsverträge für junge Leute) vor fünf Jahren wieder auf, als die meisten von ihnen zu jung waren um aktiv teilzunehmen. Einer der Favoriten: “Jugend in der Galeere, Alte in Armut. Keiner will diese Gesellschaft!“
Schul- und Universitätsstreiks
Letzte Woche begannen sich die Uni-Besetzungen auszuweiten. Am 21. Oktober fand ein Aktionstag statt, der von der Schüler- und Studierendengewerkschaft UNEF ausgerufen wurde. In Rouen schlossen sich ihnen zum Beispiel ArbeiterInnen und OberstufenschülerInnen aus der ganzen Stadt und der Umgebung an, die bereits zuvor aktiv geworden waren. Es beteiligten sich auch ArbeiterInnen von Renault Cleon und vom Zugdepot in Sotteville. Der Anteil der OberstufenschülerInnen war beeindruckend.
Die Oberschulen werden oft von denen, die sich zum Streik entschließen, blockiert, auch wenn das oft eine Minderheit ist. Lehrerinnen und Lehrer halten Versammlungen ab, wie viele andere ArbeiterInnen auch, die SchülerInnen tun es ihnen nach. Sie diskutieren darüber, ob der Streik fortgesetzt werden soll oder nicht. Sie können eine kleine Minderheit sein, nur drei oder vier Lehrerinnen und Lehrer an einer Schule, aber sie haben den Respekt und die Unterstützung von Vielen, die es sich nicht leisten können, längere Zeit zu streiken.
Diejenigen SchülerInnen, die sich entscheiden, aktiv zu werden, übernehmen Streikwachen an den Schultoren und versuchen, sicherzustellen, dass die Schulen nicht öffnen können. Manchmal bilden sie physische Blockaden. Die Mitglieder der Gauche Revolutionnaire in Rouen, die eine aktive Rolle in der politischen Führung der Jugendlichen in dieser Stadt spielen, vertreten die Position, dass es sinnvoller ist, Andere zu überzeugen, als einfach zu blockieren. Aber wenn die Blockaden die Schulen geschlossen halten, bringt das schon ihre MitschülerInnen zum Nachdenken über die Fragen, die sich stellen, und ihre Zukunft. (Viele der Mobilisierungen wurden durch SMS und Internet-Kommunikation erreicht, was die Organisierung auch in Ferienzeiten vereinfacht).
Es mag merkwürdig erscheinen, dass junge Menschen so besorgt sind über die Erhöhung des Rentenalters (um zwei Jahre auf 62) oder die verlängerte Dauer bis zum Erhalt der vollen Rente ab 67. Aber, wie sie es auf Transparenten und Plakaten malen: „Die Rente ist eine Angelegenheit der Jungen“. Je länger ältere Menschen arbeiten, desto weniger Arbeitsplätze bleiben für die Jugendlichen.
Nach Jahrzehnten hoher Arbeitslosigkeit unter den Unter-25-jährigen, ist die Quote in den letzten zwei Jahren nochmals um 17 Prozent gestiegen. 2009 schrieb die OECD in ihrem Bericht: „die Aussichten auf Arbeitsplätze für Jugendliche sind ein kritischer Punkt in Frankreich. Schon vor dem Wirtschaftsabschwung war sie [die Jugendarbeitslosigkeit] deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Während des Abschwungs ist sie um mehr als das doppelte der Gesamtarbeitslosenquote gestiegen und … fast ein Viertel der Jugendlichen sind arbeitslos, verglichen mit einem Zehntel im Schnitt aller ArbeiterInnen“.
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Perspektiven und Programm für den Kampf
Die derzeitige anhaltende Welle von Streiks und Demonstrationen findet zu einem Zeitpunkt des größten Wirtschaftsabschwungs seit den dreißiger Jahren statt. Wie der British Guardian in seinem Editorial vom 23. Oktober herausstellte, ist das ein entscheidender Unterschied im Vergleich zum Hintergrund der Ereignisse im Mai 1968. „1968 brachen die Proteste der ArbeiterInnen und Studierenden nach einer anhaltenden Periode wirtschaftlichen Aufschwungs aus, wie man ihn zuvor nicht gesehen hatte“. Und das ist einer der entscheidenden Faktoren, die hinter der Beständigkeit der Bewegung stehen.
Diejenigen, die morgens früh die Streikwache übernehmen, diejenigen, die an den Streiks und Demos teilnehmen und auch die Anderen in der Bevölkerung wissen, dass das nur der Anfang dessen ist, was die Regierung gegen sie auffahren wird, sollten sie den Kampf verlieren. Ein Artikel in der Égalite, der Zeitung der Gauche Revolutionnaire, die auf den Demos verkauft wird, beschreibt es unter der Überschrift „Generalstreik auf der Agenda“ so: „Nach den Rentenkürzungen stehen Angriffe auf die Sozialversicherung und die Tarifverträge an, Budgetkürzungen im öffentlichen Dienst, immer weiter steigende Arbeitslosigkeit, Massenentlassungen… Eine Niederlage in der Rentenfrage ist unvorstellbar für das Sarkozy-Regime, weil sie es lähmen und es unmöglich machen würde, die harten Schläge durchzuführen“.
Alex erklärt, zwischen Streikposten im Morgengrauen, stadtweiten Versammlungen und Mobilisierungen: „Das erklärt, warum die Streiks und Demos mit einer solchen Intensität weitergegangen sind und wieder aufkommen werden, selbst wenn es Pausen dazwischen gibt“. Sie sind über die unmittelbare Frage der Rentenreform hinausgegangen, und drücken ein Begehren aus, Sarkozy und seine Minister loszuwerden, wenn auch noch nicht das ganze kapitalistische System, für das er steht.
Auf einer kapitalistischen Basis kann das große Loch in der Rentenkasse tatsächlich nicht gefüllt werden. Riesige Geldmengen wurden an die Banken gezahlt und sollten dort zurückgeholt werden. Die Idee, die Reichen stärker zu besteuern und die Bankiers zahlen zu lassen, ist weit verbreitet.
Unglücklicherweise würden, wenn eine Regierung sich bereit erklärte, den Reichen hohe Steuern aufzuerlegen und genug Geld von den Banken zu holen, um die Löcher im öffentlichen Haushalt zu stopfen, die Reichen einfach die Fabriken schließen und ihr verrottetes Kapital woandershin mitnehmen. Es ist ihre Krise und sie wollen, dass ArbeiterInnen und Jugendliche dafür zahlen. Nur, wenn Großindustrie und Banken unter Arbeiterkontrolle in öffentliches Eigentum überführt und mit einem Plan verwaltet werden, der von gewählten VertreterInnen der Arbeiterklasse erstellt ist, werden genügend Ressourcen für angemessene Renten ab 60 und sichere Arbeitsplätze mit einem ordentlichen Mindeslohn für alle Jugendlichen zur Verfügung stehen.
Antworten der politischen Parteien
Die Kommunistische Partei Frankreichs ist nur noch ein Schatten dessen, was sie mal war. Sie huldigt noch immer lang und breit der Stärke der Arbeiterbewegung, ohne für einen sozialistischen oder kommunistischen Wandel zu argumentieren und erst recht ohne Strategie, diesen zu erreichen.
In der Bewegung zeigte sich die Parti de Gauche (Linke Partei) bei den Massendemonstrationen, und sie spricht das Bedürfnis der ArbeiterInnen nach einer linken Einheit an. Aber die Medien machen sich über ihre Führung lustig (was nicht in dieser Form beim Sprecher der Neuen Antikapitalistischen Partei passiert) und ihre Slogans bleiben bei „Werft sie alle raus: Bürgerrevolution, schnell!“, „Profite versteuern“ und „Parti de Gauche – Umweltschutz, Sozialismus, Republik“ stehen. Als Abspaltung von der Sozialistischen Partei bietet diese Organisation keine echte politische Alternative zu ihr und keine Perspektive dafür, die Bewegung zu entwickeln.
Die Neue Antikapitalistische Partei gründete sich vor über einem Jahr und hat die Gelegenheit verpasst, die Welle der Unzufriedenheit mit dem System und die massive Popularität ihres Sprechers Besancenot zu nutzen. Letzterer bekam kürzlich in einer Umfrage 56 Prozent der Stimmen, weil er jemand ist, den ArbeiterInnen als Führung sehen wollen – ein einfacher Arbeiter wie sie, der seine Ideen über die Veränderung des Systems ausdrückt. Aber selbst wenn die Bewegung an Intensität zunimmt, beschränkt er sich darauf, zu „radikaleren Aktionen“ aufzurufen.
Viele der NPA-Mitglieder sind sehr aktiv in der Unterstützung der Streikposten bei den Öllagern und bei Blockaden wichtiger Verkehrsknoten rund um die Uhr. Aber es gibt keine Initiative von der Führung der NPA, eine Massenarbeiterpartei aufzubauen, die die Unzufriedenheit und Wut der französischen ArbeiterInnen und Jugendlichen umleiten könnte in eine Herausforderung des Systems – gerade jetzt, wo das System in den Seilen hängt.
Sie beschränken sich auf einen abstrakten Aufruf zum Generalstreik, ohne ein Programm zu haben, wie man ihn erfolgreich durchführen könnte, um die unmittelbaren Forderungen zur Rentenreform durchzusetzen oder die Regierung zu stürzen. Das passiert, obwohl die Gauche Revolutionnaire und andere Strömungen sich dafür einsetzen, den Kurs der Partei zu verändern.
Die Situation in Frankreich bleibt extrem unberechenbar. Es könnte sich eine Bewegung entwickeln, noch mächtiger als die von 1968. Derzeit ist sie eine glimmende Lunte. Pausen, Verzögerungen und Abbrüche sind möglich. Wenn sie anhand der Frage der Rentenreform erstmal eine Niederlage einstecken muss, kann sie an einer anderen Stelle wieder aufflammen, wenn es zu weiteren Angriffen auf die Arbeiterklasse in Frankreich und Europa kommt. In jedem Fall besteht die dringende Aufgabe, eine Massenarbeiterpartei aufzubauen, mit einer Führung, die bereit ist, die Bewegung auf den Weg einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft zu führen.
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Juliane Charton, 17, vom Balzac Lycée in Tours, will nächstes Jahr in Paris Geschichte und Politik studieren. Sie sagte gegenüber der englischen Sonntagszeitung The Observer: „Die Regierung sagt, es gäbe nicht genug Geld für Renten. Aber es ist eine politische Entscheidung, wo man danach sucht. Wenn die vielen Steuerbefreiungen für die Arbeitgeber abgeschafft und höhere Steuern für diejenigen, die jedes Jahr Milliarden einsacken, eingeführt würden, würde das bis zu 72 Milliarden Euro jährlich ausmachen. Das Rentensystem bröuchte nur 30 Milliarden Euro“.
Ebenfalls auf der Website von The Observer (24. Oktober) sagt ein Elektriker Folgendes: „Wenn dieses Gesetz beschlossen wird, bedeutet das, dass das Leben für den normalen Arbeiter, der nach Jahren harter körperlicher Arbeit schon müde und verbraucht ist, nur noch schlechter wird. Sie sagen, wir müssen länger arbeiten, weil wir länger leben, aber ich sage: Wir leben nur wegen den sozialen Errungenschaften und Bedingungen länger, die wir uns erkämpft haben. Wenn wir sie nicht mehr haben, wer sagt, dass dann die Lebenserwartung nicht wieder sinkt, so wie in Russland?
Ein Gewerkschaftsvertreter fügt hinzu (und beruft sich dabei auf Marx, der die Notwendigkeit der verschiedenen Gruppen von ArbeiterInnen betonte, gemeinsam zu kämpfen): „Es gibt einen Unterschied von sieben Jahren zwischen den Lebenserwartungen von körperlich Arbeitenden und BeamtInnen. Und man muss sich fragen ob … wenn die sozialen Leistungen verloren gehen, auch die Zahl der Lebensjahre sinkt“.