Das Militär gibt den Befehl die Straßen zu blockieren, als die Polizei sich der Bewegung anschließt – Augenzeugenbericht eines CWI Reporter in Tunis vom 25.01.2011
In dem Moment, als wir diesen neuen Bericht über die Entwicklungen der tunesischen Revolution veröffentlichen wollten, werden Szenen wachsenden Widerstands gegen die „Übergangs“-Regierung aus den Straßen von Tunis übertragen. Das Militär wurde beordert, die Karawanen von Demonstranten, die sich aus allen möglichen Teilen des Landes der Hauptstadt näherten, um der wankenden Ghannouchi-Regierung, die Macht aus den Händen zu reißen, zu blockieren. Die Demonstranten, die bereits am Sonntag angekommen waren, verbrachten die ganze Nacht vor Regierungsgebäuden, trotz der ausgerufenen Sperrstunde.
Nachdem wichtige Teile der Polizei sich der Bewegung angeschlossen haben, soll nun das Militär die „dreckige Arbeit“ für das ängstliche Regime verrichten. Trotz General Rachid Ammars Behauptung, dass „die Armee die Revolution beschützen wird“ sollte die Bewegung einen deutlichen Appell an die Soldaten richten, die Revolution zu unterstützen. Sie sollten aufgefordert werden, die Bildung eigener gewählter Komitees, das Recht auf Befehlsverweigerung und auf die Wahl der Vorgesetzten zu fordern.
Das „Übergangs-Regime“ ordnete an, die Schulen ab Montag wieder zu öffnen; doch die Lehrer begannen sofort mit einer erfolgreichen Streikaktion. Die Beteiligung lag bei 100 Prozent in Medenine, Sidi Bouzid, Kasserine, Beja, Jendouba and Kairouan, 90 Prozent in Zaghouan (nahe Tunis), wo es keine Gewerkschaftstradition gibt und eine solide Beteiligung gab es auch in der Hauptstadt.
Der Übergangsregierung wird sehr wenig Vertrauen gegenüber gebracht, trotz Ghannouchis Versprechen der Politik zu entsagen und die herrschende Partei (RCD) aufzulösen. Sechs Monate ist eine zu lange Zeit für diejenigen, die die Revolution gemacht haben, um auf Wahlen für eine neue Regierung zu warten. Sie sollten das Recht haben, Repräsentanten für eine revolutionäre Versammlung zu wählen, die entscheiden kann, wann und wie Neuwahlen durchzuführen sind und auch welches die Ziele der neuen Regierung sein sollten.
Es kann jedoch keine Unterstützung für eine neue Regierung geben, die lediglich darauf aus ist einige der unbeliebteren Figuren, die mit der Ben Ali-Ära in Verbindung standen, zu entlassen, um das Fortbestehen des Kapitalismus sicher zu stellen. Auch sollte es keine Unterstützung für eine Regierung geben, an der Personen und Organisationen beteiligt sind, die der sogenannten „Opposition“ (innerhalb sowie außerhalb Tunis) angehören, auch wenn sie sich als „links“ bezeichnen, wenn diese nicht das System in Frage stellen und argumentieren, dass man zuerst Demokratie etablieren müsse. Denn auf der Basis von Kapitalismus und unter der Vorherrschaft von imperialistischen Mächten wie Frankreich, die, auch in dem Moment, als sich eine Massenbewegung in den Straßen gegen ihn formierte, auf der Seite Ben Alis standen, kann keine echte und anhaltende Demokratie in Tunesien erreicht werden. Die Idee, erst einmal eine „nationale demokratische Revolution“ gegen die Diktatur, auf der Basis einer kapitalistischen Gesellschaft durchzuführen, ist ein Irrtum. Es würde die Arbeiterklasse zurückhalten und der herrschenden Klasse, sowie den imperialistischen Mächten Zeit verschaffen, um ihre Kontrolle über das Land wiederherzustellen und dessen Ausbeutung unbehelligt weiterzuführen.
Die Situatipon, dassArbeiter ihre Arbeitsplätze besetzen und ihre Chefs „rausschmeißen“, eigene Komitees errichten und in Richtung eines Generalstreiks drängen, wirft viele wichtige Fragen auf. Eine Form von Arbeiterkontrolle fängt an sich zu entwickeln. Die Frage nach Besitz und Führung der verschiedenen Industrien und der Banken – nicht nur derer, die mit der alten herrschenden Clique in Verbindung gebracht werden – steht auf der Tagesordnung, neben der Notwendigkeit einer demokratischen Kontrolle und Führung durch die Arbeiter.
Wie der nachstehende Augenzeugenbericht aufzeigt, entwickeln sich Elemente einer sozialistischen Revolution. Eine sozialistische Revolution, die in der Lage ist, das kapitalistische System umzuwälzen, ist der einzige Weg aus der sozialen Misere, die Menschen zu solch verzweifelten Taten zwang, wie sich selbst anzuzünden und die dann die Massen zu revolutionären Aufständen brachte, die jetzt überall in der arabischen Welt aufflammen.
Ein Verständnis für die Notwendigkeit, das kapitalistische System endgültig zu überwinden muss sich innerhalb der arbeitenden Massen und der Jugend erst noch entwickeln.
Illusionen in einen demokratischen Wandel ohne die soziale Basis der Ben Ali-Diktatur zu verändern könnten für eine Weile eine fragile Stabilität schaffen und der alten herrschenden Elite Raum geben ihre Macht zu erhalten. Nichtsdestotrotz werden diese in der Zukunft zerschlagen werden.
Eine revolutionäre sozialistische Partei wird dringend gebraucht, um sich für die Angelegenheiten der Arbeiter und der armen Bevölkerungsteilen einzusetzen und diese darin zu unterstützen die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Die Komitees, die in den Fabriken errichtet wurden, müssen einen Weg finden sich regional und national zu verknüpfen, Seite an Seite mit demokratisch gewählten Repräsentanten der UGTT (Gewerkschaften) und das auf allen Ebenen.
Wie der nachstehende Bericht argumentiert, wird dringend eine demokratisch gewählte Dringlichkeitskonferenz der UGTT gebraucht. Die aktuelle Situation könnte auf einer solchen gründlich diskutiert und Maßnahmen vorgeschlagen werden, um die Gewerkschaften auf demokratische Weise umzugestalten und diese von Anführern zu befreien, die mit dem alten Regime verknüpft sind. Da, wo Arbeiter darin blockiert werden, werden diese gezwungen sein, neue demokratische Gewerkschaften aufzubauen, um für ihre Interessen zu kämpfen.
Nicht einmal die geringste Unterstützung sollte den Ideen der Gewerkschaften oder jedweden linken Parteien gegeben werden, die Allianzen mit Parteien oder Organisationen, welche das privates Eigentum und private Kontrolle an bzw. über die Produktionsmitteln und die Industrie erhalten wollen. Die Anführer der UGTT sollten unter Druck gesetzt werden, einen sofortigen Generalstreik auszurufen, mit dem vorrangigen Ziel die Regierung aus dem Amt zu hebeln und den Weg für die Etablierung einer Regierung bestehend aus Arbeitern und der armen Bevölkerung, zu ebnen.
Redaktion von Socialistworld.net
Die Jugend, die arbeitenden und arbeitslosen Massen in Tunesien haben die Ängste der Vergangenheit hinter sich gelassen und sich erhoben, um das verhasste Ben Ali-Regime zu stürzen.
Die Geschwindigkeit mit der die Revolution in diesem einen Land vorangeschritten ist, hat den Massen der ganzen Region vor Augen geführt, wie wackelig der Boden tatsächlich ist, auf dem die jeweiligen grausamen Regime stehen.
Beliebte Witze in Tunesien zeigen dies besser als irgendetwas anderes: „Wir sind so motiviert, lass uns Morgen gegen 09:00 Uhr nach Tripoli aufmachen, um Gaddafi gegen 09:30, spätestens 10:00 Uhr, zu Fall zu bringen und danach gehen wir zurück, um unsere eigene Revolution fortzuführen!“
Während den jüngsten Protesten in Algier, trugen Personen die tunesische Flagge und riefen: „Bouteflika und Ben Ali sind Mörder!“, als ob sie sagen wollten: "Unsere tunesischen Brüder und Schwestern haben es dort gemacht, warum nicht auch hier?". Die Zeit zum Abrechnen ist gekommen!
Ein Hauch von Freiheit
Die tunesischen Massen haben vom einen auf den anderen Monat gelernt, was zu verstehen manchmal ein Vierteljahrhundert dauert. Die Zuversicht wird in ganz Tunesien aufrechterhalten und tendiert zu wachsen. Die Stimmungslage in der Bevölkerung rührt von dem Erfolg, durch spontane Aufstände, mit den bloßen Händen, einen Diktator zu zwingen aus dem eigenen Land zu fliehen. Dies gibt ein Gefühl der Unverwundbarkeit. „Lasst uns realistisch sein, fordern wir das Unmögliche!“ ist ein Ausspruch den Ché Guevara, Anführer der kubanischen Revolution, einst sagte. In Tunesien ist heute möglich geworden, was gestern noch unmöglich erschien. Chés Bild wird dort von vielen jungen Leuten auf ihren Pullovern oder als Banner in Demonstrationen getragen.
In der Hauptstadt Tunis liegt, als Resultat eines enormen Kampfes der Massen, ein Hauch von Freiheit in der Luft –. trotz der Panzer und Soldaten in den Straßen und der Helikopter, die täglich, immer und andauernd über die Köpfe der Leute fliegen. „Die Menschen haben die Luft von Freiheit geatmet und die Dinge haben sich geändert. Das ist eine Revolution und nicht nur ein Aufstand“, sagte Hammady Ben Saleh, ein Wartungsarbeiter, der in einer Zeitschrift zitiert wurde.
In der Tat kann die Revolution in den Straßen gespürt werden. Der Autor John Reed beschrieb in seinem berühmten Buch über die Russische Revolution, „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, wie „jede Straßenecke einer öffentlichen Tribüne glich“. Heute stehen in Tunis überall Gruppen von Menschen, die über Politik diskutieren und ihre Meinungen über die aktuelle Lage austauschen. Durch die Möglichkeit ihre das erste Mal Meinung offen auszusprechen, fühlen sie sich zutiefst verwandelt. Bücherläden präsentieren in ihren Schaufenstern Bücher, die während der Ben Ali-Ära verboten waren. Der Kanal des staatlichen Fernsehens, der nur eine Woche zuvor, noch so aussah wie der „Bildschirm“ von George Orwell´s bekanntem Roman „1984“ und nur über die großartigen Aktivitäten vom „Großem Bruder“, Ben Ali und seiner Frau, Bericht erstattete, berichtet nun ausführlich von der Revolution und den Demonstrationen, die überall im Land von statten gehen.
Der revolutionäre Prozess betrifft nun tatsächlich alle gesellschaftlichen Ebenen. Untergrund-Rapper tragen öffentlich ihre prägnanten Texte gegen die Diktatur vor und die Menschen äußern ausschweifend ihre Ansichten, nach Jahrzehnten voller Restriktionen und Zensur. „Sous les pavés, les jasmins“ (Unter dem Asphalt blüht der Jasmin“) war auf einem Banner auf einer Demonstration letzten Samstag in Tunis zu lesen – eine Anspielung auf den berühmten Slogan des französischen revolutionären Mai im Jahr 1968: „Sous les pavés, la plage“ (Unter dem Asphalt ist der Strand“). Der Begriff „Jasmin-Revolution“ wird von einigen wenig inspirierten Kommentatoren gebraucht, um die tunesische Revolution zu beschreiben.
Anti-RCD-Bilder florieren bei tausenden von Facebook-Profilen. Der Gebrauch des Internet, um den Protest zu organisieren und zu publizieren ist mittlerweile, vor allem unter jungen Leuten, sehr verbreitet. Das bewegte die neue Regierung, die nach Ben Ali´s Sturz eingerichtet wurde, in einem versuch Akzeptanz zu finden, dazu Slim Amamou, einen bekannter Blogger-Aktivisten, der eine Woche zuvor verhaftet wurde, aus dem Gefängnis zu entlassen und ihn dazu zu bewegen, sich die Haare zu schneiden als neuer "Staatssekretär für Jugend und Sport" in das neue Kabinett einzutreten!
"Dégage!" („Raus!“)
Auf den Straßen Tunesiens ist ein zwiespältiges Gefühl zu spüren: Zum Einem, dass sich Alles und zum Anderen, dass sich Nichts verändert hat. In der Tat: das Huhn läuft immer noch herum, obwohl ihm der Kopf angeschnitten wurde. Die neue Übergangsregierung, angeführt von Ministerpräsident Ghannouchi, in der alle Schlüsselpositionen von Anführern des alten Regimes besetzt sind (einschließlich dem Verteidigungsminister, Innenminister, Finanzminister und Außenminister) befindet sich auf Messerschneide seit ihrer Amtsübernahme. Ihre bloße Existenz wird als eine Beleidigung der Revolution angesehen. Politiker, die Blut an ihren Fingern kleben haben, haben es gewagt eine dreitätige „nationale Trauer für die Märtyrer der Revolution“ auszurufen, was unerträglich erscheint.
Die wenigen sogenannten „Oppositionsparteien“, die Ministerposten in dieser Regierung akzeptiert haben – die PDP und Ettajdid – wurden in den Straßen in "opposition de carton" (Pappkarton-Opposition) umbenannt und jeder zusätzliche Tag, den sie als Teil dieser Regierung verbringen, zerstört ihre politische Zukunft. Doch verängstigt durch die Massenbewegung, gehören sie zu den Politikern, die bereit sind jede Art von Kompromiss zu akzeptieren, um die kapitalistische Ordnung zu stabilisieren, selbst wenn sie nur das 5. Rad am Wagen in der Ghannouchi-Regierung sind.
Demonstrationen finden weiterhin täglich überall im Land statt und fordern diese Regierung dazu auf, zu verschwinden („dégager“). Letzten Freitag demonstrierten mehrere tausend Menschen, ausgehend von der großen Allee Habib Bourguiba in Tunis. Hinzu kamen viele Einwohner auf ihrem Weg zum Regierungsgebäude. Dort angekommen konnte man Slogans hören, wie beispielsweise: „Stehlt nicht unsere Träume!“, „Lasst uns die Revolution fortführen!“, „Sie haben unseren Wohlstand gestohlen, aber unsere Revolution werden sie uns nicht stehlen!“, „RCD raus, unsere Bewegung geht weiter!“, „Raus, raus, raus ihr korrupten Leute!“.
Es gibt nicht eine Region in Tunesien, wo nicht täglich Proteste stattfinden, um das Land von jeder letzten Spur des alten diktatorischen Regimes zu befreien.
Wie das altes Sprichwort besagt: „Der Appetit kommt beim Essen“. Die Massen, die eine enorme Schlacht gewonnen haben, sehen nicht ein, auf halbem Weg aufzugeben und ihren Sieg von genau den Personen, die das Land über Jahre hinweg an Seite von Ben Ali beherrscht haben, in Beschlag nehmen zu lassen. Sie machen dieser neuen selbsternannten Regierung eine Kampfansage und wissen, dass wenn sie dieser die Macht im Land überlassen, die Revolution ihre Substanz und Bedeutung genommen würde und die Gefahr bestünde, in einen Zustand zurückzufallen, den sie so mutig bekämpft und mit dem Preis des eigenen Blutes bezahlt haben.
Seit nun einer Woche, hat diese Regierung alle möglichen Versuche unternommen ihre Existenz gegenüber den Massen zu rechtfertigen, in dem sie ein Zugeständnis nach dem anderen macht. Am Freitag gab der Ministerpräsident sogar ein Live-Interview im Fernsehen, und erklärte mit Krokodilstränen in den Augen, er wäre bereit sein politisches Amt „in dem kürzesten nur möglichen Zeitrahmen“ niederzulegen. „Wie alle Tunesier“, so beteuerte dieser, „hatte er Angst unter Ben Alis Herrschaft“. Allerdings war Ghannouchi nicht so verängstigt, als es darum ging Abmachungen mit dem IWF zu treffen, Privatisierungen für den finanziellen Nutzen des Kapitals zu überwachen oder der Repression der Bewegung zuzustimmen, vor der er nun vorgibt ihr politischer Arm zu sein.
Die Menschen wollen einen wirklichen Bruch mit der Vergangenheit. Ben Ali hat ein riesiges Netz gesponnen, um jedes Zeichen von Opposition im Land zu kontrollieren und zu unterdrücken. Jetzt wo die „Spinne“ geflohen ist, ist dieses Netz – zwar beschädigt – aber immer noch da und die Menschen sind entschlossen es loszuwerden. Zu dem Zeitpunkt, als dieser Artikel geschrieben wurde erreichte die „Karawane der Freiheit“ aus den armen Regionen Tunesiens – dem zentralen Westen – wo die Revolution ihren Lauf nahm – die Hauptstadt mit der Absicht die Regierung zu stürzen. „Das Ziel der Karawane ist die Regierung zu Fall zu bringen, vor allem die Minister der RCD“, erklärte ein Gewerkschafter, der sich an dem Marsch beteiligt hatte. Dieser setzte sich aus tausenden Menschen aller Altersgruppen zusammen. Ähnliche Märsche mit dem gleichen Ziel sind nun auch von anderen Städten des Landes aus geplant.
Als die Regierung am Montag die Wiedereröffnung von Schulen und Universitäten (die seit dem 10. Januar geschlossen worden waren, aus Angst vor studentischer Agitation) veranlasste, muss sie sich seitdem mit den unbefristeten Streikaktionen der Lehrer, auseinandersetzen. Die Hauptforderung der Streikenden ist die Auflösung der Übergangsregierung. Diese verhasste Regierung wird wohl nicht mehr lange existieren, vor allem da mittlerweile Teile des Staatsapparates zerbröckeln.
Die Polizei schließt sich der Revolution an.
Auf der Demo in Tunis am letzten Freitag gab es ein beispielloses Ereignis, das seine Bedeutung erst später zeigte. Einige Polizisten verbrüderten sich mit den Demonstrierenden und erklärten ihre Unterstützung für die Revolution. Einige kletterten auf ihre eigenen Mannschaftswagen oder „Salatkästen“ und entschuldigten sich für ihre Rolle in den zurückliegenden Ereignissen. Sie schworen den revolutionären Massen ihre Solidarität und Unterstützung, und die Menschen riefen „Die Polizei mit uns! Die Polizisten sind Kinder des Volkes!“. „Wir sind auf eurer Seite, wir unterstützen die Revolution, wir wollten nicht auf euch schießen, das haben unsere Vorgesetzten getan“, antworteten die Polizisten. Mehrere von ihnen wurden danach von Demonstranten auf den Schultern herumgetragen, einige weinten sogar.
Am nächsten Tag schlossen sich viel mehr Polizisten den anderen Protestierenden in der Hauptstadt an, alle trugen aus Solidarität rote Armbinden. „Wir waren auch jahrelang Opfer von Ben Alis Regime“, erklärte einer. Ein Demonstrant sagte in einem Interview mit einem deutschen Fernsehsender: „Diese Polizisten bekommen 250 bis 300 Dinar (130 bis 160€) im Monat. Sie können nicht einmal ihre Familien ernähren. Wir verurteilen sie nicht.“
Szenen wie diese gab es auch in vielen anderen Orten. In Sfax demonstrierten Polizisten am Freitag auf den Hauptstraßen mit roten Armbinden, sangen die Nationalhymne und forderten mit Sprechchören Freiheit. Der Zug endete vor dem UGTT-Gebäude, wo einer der Demonstranten eine Erklärung gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und für die Gründung einer Gewerkschaft zur Verteidigung ihrer Rechte verlas. Auch in Sousse, Gabès, Sidi Bouzid, Monastir und Bizerte schlossen sich Polizisten den Demonstrationen für die Revolution mit der Forderung nach Gewerkschaftsrechten und Lohnerhöhungen an, manchmal streikten Polizisten sogar.
Klassenfragen treten in den Vordergrund
Eine der Besonderheiten dieser Revolution ist, dass die Familien Ben Ali und Trabelsi tatsächlich das ganze Land gegen sich aufgebracht hatten, darunter auch Teile der nationalen Bourgeoisie, die ihre eigenen Beweggründe hatten. Sie fühlten sich beraubt, weil „die Familie“ wichtige Bereiche der Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Sie hatte „überall ihre Finger drin“: Banken, Versicherungen, Transport, Medien, Kommunikation, Tourismus, Werbung, Wohnungsbau, Handel, Autoindustrie usw.. Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Teilen der herrschenden Klasse kam am 18. Januar zu seinem Höhepunkt, vier Tage nach Ben Alis Flucht nach Saudi-Arabien. Zweihundert Unternehmer stürmten das Hauptquartier des Arbeitgeberverbandes UTICA und forderten den Rücktritt von Hedi Jilani, dem „Boss der Bosse“. Er stand den alten Machthabern nahe und war über den Ehemann einer seiner Töchter mit den Trabelsi-Ben Ali-Familien verbunden.
Natürlich konnten sich alle diese Bosse mit einem Regime abfinden, das ihnen eine attraktive Umgebung für ihre auf der Ausbeutung mundtot gemachter und flexibler Arbeitskräfte basierenden Geschäfte bot, besonders in den Freihandelszonen. Aber jetzt, wo ein Großteil der Familie verhaftet wurde oder geflohen ist, will die nationale Kapitalistenklasse ihre Konten und Unternehmen in die Hände bekommen, ebenso wie ausländische Banken und internationale Konzerne. Sie betrachten sehr misstrauisch die aufgebrachten arbeitenden Massen, die jetzt ihre Revolution nicht beenden oder „zur Normalität zurückkehren“ wollen, obwohl die Kapitalisten sich das wünschen. In diesem Sinne ist die Frage, wer die Aktien und Unternehmen der alten Familie kontrollieren wird zu einer strategischen Frage geworden, durch die die Klassengrenzen im revolutionären Prozess glasklar sichtbar werden. Die Verstaatlichung dieses Reichtums nicht unter der bestehenden korrupten kapitalistischen Regierung, sondern unter direkter Arbeiterkontrolle und -verwaltung, ist die einzige Möglichkeit diese Ressourcen dahin zubringen wohin sie gehören.
Verschiedene Arbeitgeberverbände haben die TunesierInnen in Aufrufen angebettelt, wieder zur Arbeit zu gehen. Dieses „Zurück an die Arbeit“-Mantra kommt übrigens nicht nur von der herrschenden Klasse. Die bürokratischen Führer an der Spitze der UGTT sind auch nicht sehr glücklich darüber, dass es überall Demonstrationen und Streiks gibt. „Die Straße muss zur Ruhe kommen“, sagt Abid Briki, einer der Generalsekretäre des Gewerkschaftsverbandes. Im Gegenteil spüren die Armen und die Arbeiterklasse, dass jetzt, nachdem sie sich von den Ketten der Diktatur befreit haben, der Moment ist ihre Klasseninteressen in den Mittelpunkt zu stellen. Allerdings ist konkretes Handeln notwendig, um die Bewegung auf eine neue Stufe voran zu bringen.
Dafür werden sie eine Führung brauchen, die bereit ist auf ihrer Seite zu kämpfen, nicht solche Leute, die an einem Tag Ben Ali unterstützen und am nächsten Tag von der Revolution reden. Eine Kampagne für einen außerordentlichen Kongress der UGTT, vorbereitet auf der Grundlage demokratischer Wahlen in allen Ortsverbänden, sollte so bald wie möglich an der Basis der Gewerkschaft vorangetrieben werden. So könnte eine aus dem revolutionären Kampf hervorgehende echte Führung demokratisch an die Spitze der Gewerkschaft gewählt werden, anstelle von Leuten wie Abid Briki oder Abdessalem Jerad. Sie haben in der Vergangenheit alles getan um eine Barriere gegen die Revolution zu errichten, bevor sie gegen ihren Willen durch den massiven Druck der Gewerkschaftsbasis mitgerissen wurden.
Die Forderung nach einem Generalstreik ist überall zu hören. Ein solcher Schritt wäre ein entscheidender Schlag, um die Übergangsregierung und jede andere Regierung, die das Bestehende erhalten will, auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern – was die überwiegende Mehrheit der TunesierInnen aus vollem Herzen befürwortet. Am Freitag (21.1.) versammelten sich viele DemonstrantInnen vor dem UGTT-Hauptquartier in Tunis und forderten die Ausrufung eines Generalstreiks. Diese Forderung wurde auch von DemonstrantInnen in Sousse und anderen Orten aufgestellt.
Gleichzeitig wächst in vielen Bereichen die Klassenwut. In Tunis traten die Busfahrer für zwei Tage in einen fast vollständigen Streik. Zahlreiche Manager, Bosse und hohe Beamte, die mit dem alten Regime kollaborierten, haben in vielen Unternehmen und im öffentlichen Dienst die Rache der Arbeiterklasse zu spüren bekommen.
Ohne auf irgendeiner Initiative von oben gegen die RCD zu warten, haben ArbeiterInnen selber begonnen, ihre Arbeitsplätze von solchen verhassten Figuren zu „säubern“. Am Mittwoch, während ihres Streiks, setzten Angestellte der staatlichen Versicherung STAR ihren Boss ab, der der Korruption und Unterstützung des Ben Ali-Regimes beschuldigt wird. Das selbe passierte bei der Banque Nationale Agricole (Nationale Landwirtschaftsbank), bei der Nationalen Gesellschaft für Ölverteilung, SNDP, und bei der Fluggesellschaft Tunisair. Komitees von GewerkschafterInnen haben die Kontrolle über die Nachrichten in den Radio- und Fernsehsendern übernommen. „Wir bestimmen jetzt die politische Linie“, erklärte Fawzia Mezzi, Journalistin der Tageszeitung „La Presse“, die bisher unter dem Kommando von Ben Alis Umfeld stand. Sogar blinde Menschen haben demonstriert, um den von Ben Ali gekauften Präsidenten ihrer Vereinigung zu stürzen.
Eine erste Schlacht wurde gewonnen, aber nicht der Krieg
Die aktuelle Regierung ist wahrscheinlich tödlich verwundet. Das spürt jeder. Aber die wichtigste Frage ist wer sie ersetzen wird. Während DemonstrantInnen auf Regierungsbüros klettern und „Viva Revolution!“ oder „Volksregierung“ an die Wände schreiben und sich die offizielle Regierung nicht einmal bewegen kann, weil wichtige Teile ihrer eigenen Streitkräfte auf der Seite der Revolution stehen, gibt es ein starkes Gefühl, dass eine „Volksregierung“ in Reichweite ist. Aber während eine solche Regierung für einige eine Regierung von und für Lohnabhängige bedeutet, versuchen andere die Opposition gegen das umbenannte RCD-Regime in die Richtung einer „klassenunabhängigen“ Regierung der nationalen Einheit zu lenken, die den Kapitalismus unberührt lassen würde. [AdÜ: Am 27.1. wurde eine solche Regierung gebildet, in der RCD-Minister durch „Unabhängige“, Mitglieder der schon unter Ben Ali legalen Oppositionsparteien und RCD-Bürokraten ersetzt wurden. Mohammed Ghannouchi ist weiterhin Ministerpräsident.]
Die UGTT spricht von einer “Regierung der Nationalen Rettung“, ohne konkret zu erklären was das wirklich bedeutet. Rettung wovon? In wessen Interesse? Eine Regierung ohne RCD-Mitglieder würde von vielen wahrscheinlich als ein Schritt vorwärts begrüßt. Aber die Massen sollten jeden Deal „hinter den Kulissen“ ablehnen, durch den eine ungewählte Regierung an die Macht gebracht werden soll. Viele Oppositionsführer warten darauf in eine neue „demokratische“ Regierung berufen zu werden, die ihre Autorität nur dazu nutzen wird die alte Klassenordnung wiederherzustellen, ausländische Investoren zu beruhigen und die gleiche kapitalistische Politik weiterzuführen, die für die tunesischen Massen so viel Leid verursacht hat. Jede Regierung, die nicht mit dem Kapitalismus bricht wird ihn erhalten; nur eine Regierung der ArbeiterInnen und armen BäuerInnen kann eine neue, sozialistische Gesellschaft errichten.
Rabeh Arfaoui, ein Vertreter von Ettajdid; der ehemaligen „Kommunistischen“ Partei, die in der Übergangsregierung das Bildungsministerium besetzt; wurde vor kurzem mit den Worten zitiert: „Die Reden über selbstverwaltete Komitees und die Bildung einer revolutionären Regierung bringen die Leute zum Träumen, aber es ist nicht machbar. Wir sind nicht im Kontext einer bolschewistischen Revolution.”
Während Arfaoui dem alten Apparat dabei hilft, an der Macht zu bleiben, verbreiten sich diese „selbstverwalteten“ Komitees. Sie könnten die Basis für einen entscheidenden Bruch mit dem Kapitalismus sein und ArbeiterInnen, Jugendliche und die Unterdrückten in anderen Ländern aufrufen, es ihnen gleichzutun. Allerdings gibt es im Moment keine Kraft, die die Bewegung zusammenbringen und für die entscheidenden Schritte eintreten kann, die notwendig sind um die Macht der Kapitalisten zu brechen. Die Gründung so einer Kraft, einer revolutionären Massenpartei der Arbeiterklasse, ist notwendig um die Perspektive einer sozialistischen Revolution zu verwirklichen.
Die verschiedenen Komitees, die an vielen Orten entstanden sind, zeigen deutlich, dass die tunesischen arbeitenden Massen potentiell bereit sind die Verwaltung des Landes in ihre Hände zu nehmen. „La Presse de Tunisie“ schrieb am Samstag (22.1.), dass „in Zarsis [im Südosten Tunesiens] direkt nach Ben Alis Flucht Nachbarschaftskomitees gebildet wurden und begonnen haben zu arbeiten: Tagsüber Müllentsorgung und Regelung des Straßenverkehrs, nachts Schutz der Stadt und die Verfolgung von Ben Alis Milizen und Plünderern.”.
Es gibt unzählige solche Beispiele. Sie geben eine lebendige Antwort auf alle Behauptungen der Medien, ausländischer Politiker usw., die das tunesische Volk dazu drängen das Land entweder von Politikern und Beamten des alten Regimes oder von einer „technokratischen Regierung“ verwalten zu lassen. Sie behaupten, sie wären „die einzigen mit genug Erfahrung, um es zu tun“. Diese geringschätzige Haltung ist eine Million Meilen entfernt von der Idee, die der bolschewistische Führer Lenin 1917 ausdrückte – dass „jeder Koch in der Lage sein sollte, Premierminister zu werden“. Das sind die Argumente einer panischen herrschenden Klasse die den revolutionären Prozess in marktorientierte Bahnen lenken wollen, koste es was es wolle.
Basisstrukturen und Komitees der Bevölkerung, demokratisch geführt von gewählten VertreterInnen, müssen überall gegründet und ausgebreitet werden – an den Arbeitsplätzen, in den Nachbarschaften, in den Schulen und Universitäten, aber auch in der Armee und der Polizei. Dann müssen diese miteinander durch ein Delegiertensystem auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene verbunden werden. Das würde die Grundlage für eine Regierung neuen Typs schaffen – eine wirklich demokratische Regierung als direktem Ausdruck der arbeitenden Massen und ihrer Revolution, bereit radikale Maßnahmen zu ergreifen und das Leben der Menschen zu verändern, mit sozialistischer Planung der Wirtschaft im Interesse der Arbeiterklasse und der breiten Massen. Die Reaktionen in der ganzen arabischen Welt zeigen, wie diese Entwicklungen helfen könnten, den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu entwickeln und die Tür für eine sozialistische Transformation der Gesellschaft weltweit zu öffnen.