Demonstrationen vor den Regionalwahlen am 22. Mai in Spanien
Am 15. Mai gingen die SpanierInnen zu Zehntausenden auf die Straße. Proteste fanden in über 60 Städten statt. Die Protestierenden drückten ihre Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik aus. Die Front-Transpis der Organisation „Wirkliche Demokratie jetzt” waren relativ weitgehend: „No somos mercancías en manos de políticos y banqueros” – „Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern”. Dies widerspricht aber nur scheinbar dem selbsterklärten antipolitischen Charakter der Bewegung, welche sich in dieser Woche mit Besetzungen zentraler Plätze vieler spanischer Städte fortsetzt.
von Johannes Ullrich, derzeit Sevilla
Diesen März, als in den Wahlkampfbüros der großen Parteien PP (Konservative) und PSOE (Sozialdemokratie) letzte Hand an die Sprüche für die Regionalwahl-Kampagnen gelegt wurden, begann sich eine Bewegung in den sozialen Netzwerken auszubreiten, die sich „Democracia Real YA!“ nennt. Letzten Sonntag gab es in über 60 spanischen Städten Demonstrationen dieser Initiative, deren Teilnehmerzahlen von knapp über 100 bis zu 25.000 (Madrid und Barcelona) gingen.
Diesen Sonntag, 22. Mai, sind die Regionalwahlen – Ziel der Bewegung ist es zwar, einen Politikwechsel herbei zu führen, hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, einem Ende der Korruption, wirklicher Beteiligung und vielem mehr. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille – eigentlich ist die vorherrschende Meinung auf den Demos und den besetzten Plätzen Spaniens die, dass das ganze System verkommen ist und ersetzt gehört. Sprechchöre wie „Sie nennen"s Demokratie, doch es ist keine“, „PSOE und PP – die gleiche Scheiße!“, „Wir ham" die Lösung: Bänker in den Knast!“ oder „Willst du wissen, wer dich wählt? Nicht mal deine Mutter!“ werden am lautesten mitgerufen.
Bei so einer Bewegung taucht natürlich unmittelbar die Frage auf, was denn die Alternative wäre. Und da gehen die Meinungen weit auseinander. Von den jungen Aktivisten der „Internet-Partei“, die sich ein per IT-Abstimmungen gesteuertes allumfassend-imperatives Mandat der gewählten Vertreter wünschen, über die 50jährige gutsituierte Mutter, die ihre Kinder nicht in immer schlechteren Verhältnissen leben lassen will und daher eine Rückkehr in die 1990er Boomjahre möchte, bis zum Studentenaktivisten, der anarchistische Propaganda mit dem Aufruf verteilt, nicht zur Wahl zu gehen und so „ein deutliches Zeichen gegen das System zu setzen.”
Der Grund für den Hass nicht nur auf die Parteien, sondern auch auf die beiden großen Gewerkschaftsverbände CC.OO. und UGT ist schnell erklärt: Ausverkauf vom Feinsten. Nach dem sehr erfolgreichen Generalstreik vom 29. September letzten Jahres gab es ein Abkommen beider Verbände mit den Unternehmern und den Politikern, in dem bei minimalen Zugeständnissen „Sparpakete“ vereinbart wurden, die einen regelrechten Ausverkauf der Sozialsysteme bedeuten, wie man ihn auch aus Deutschland kennt (ganz aktuell bspw. angesichts Angela Merkel Hetzrede gegen Südeuropäer: das Rentenalter soll auch hier auf 67 erhöht werden!).
Aber so verständlich es ist, dass fast alle TeilnehmerInnen nichts mehr mit dem bestehenden System zu tun haben wollen, so notwendig ist es auch, eine Perspektive für die Protestbewegung zu entwickeln. Dafür können die Besetzungen von öffentlichen Plätzen, die derzeit in allen größeren Städten Spaniens stattfinden, eine große Hilfe sein, denn sie bieten Raum für Diskussionen und die Entwicklung von Programm und Strategien. Aufgabe von SozialistInnen ist es in dieser Situation, den Zusammenhang zwischen Demokratieabbau und Kapitalismus zu erklären und in der Bewegung sozialistische Ideen zu verteidigen. Die lokalen Strukturen sollten schnellstmöglich handlungsfähige Gremien bilden und sich noch expliziter landesweit vernetzen, um über die sozialen Netzwerke hinaus breitere Teile der spanischen Arbeiterklasse zu erreichen. Positive Elemente wie die Forderung nach rechenschaftspflichtigen Mandatsträgern und korruptionsverhindernden Bezahlungen sollten aufrecht erhalten werden.
Es scheint jedenfalls so, dass die Bewegung das Potenzial hat, auch nach dem kommenden Wahlsonntag die spanische Politik noch eine Weile zu beschäftigen.