von Anand Kumar, „New Socialist Alternative“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Indien), Bangalore
Der 48-stündige Generalstreik, zu dem das „Joint Committee of Trade Unions“ (JCTU; dt.: „Gemeinschaftliches Gewerkschaftskomitee“) aufgerufen hatte und zu dem elf Gewerkschaftsbünde gehören, fand erneut unter großer Beteiligung der Arbeiterklasse statt. Am 20. und 21. Februar nahmen in ganz Indien mehr als 100 Millionen ArbeiterInnen teil, um „Nein“ zu den neoliberalen Reformen zu sagen. Obwohl der Streik von den etablierten, Arbeitgeber-freundlichen Medien nur als „Teilerfolg“ gewertet wurde, kam das öffentliche Leben in weiten Teilen des Landes vollends zum Erliegen. Der Arbeitgeberverband ASSOCHAM geht von Verlusten von 260 Milliarden Rupien (4,77 Milliarden US-Dollar) aus, die auf den Streik zurückzuführen sind.
Auch wenn dieser Generalstreik der erste seit fast einem Jahr ist, so kam es im vergangenen Jahr zu zwei umfassenden „Bandhs“ (das Hindi-Wort für Arbeitsniederlegung), zu denen die Oppositionsparteien aufgerufen hatten. Im Mai ging es dabei um die Benzinpreiserhöhungen und im September wehrte man sich gegen die sogenannten „Big Bang“-Reformen wie etwa die Öffnung des Einzelhandelssektors für ausländische Direktinvestitionen. Es ist nun schon das dritte Mal in Folge, dass alle Gewerkschaftsbünde gemeinsam zu einem Streik aufgerufen haben. Darunter waren auch der INTUC, der eng mit der regierenden „Congress-Partei“ verbunden ist, und die BMS, die von der wichtigsten rechtsgerichteten Oppositionspartei, der BJP, organisiert wird.
Wegen der Gruppenvergewaltigung an einer 23-jährigen Studentin in Delhi ist es in der letzten Zeit auch zu massiven Protesten junger Leute und der städtischen Mittelschicht gekommen, was im Zusammenhang mit den zunehmenden Massenprotesten steht.
Mehr als 100 Millionen ArbeiterInnen treten in den Streik!
Wie üblich war die Streikbeteiligung vor allem in den Provinzen Kerala und Tripura sehr massiv, weil dort die linken Parteien, wie etwa die „Kommunistische Partei Indiens (M)“, regional stark vertreten sind. In der Provinz West-Bengalen jedoch sorgte die Ministerpräsidentin Mamata Banerjee trotz der Bemühungen der Linken in einer Demonstration der Stärke dafür, dass die Geschäfte geöffnet blieben. Sie drohte den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes mit schwerwiegenden Konsequenzen, sollten sie sich an dem Ausstand beteiligen. Während des Streiks kam es zu brutalen Versuchen seitens der Partei von Banerjee, dem „Trinamool Congress“ (TMC), die UnterstützerInnen linker Parteien einzuschüchtern. So wurde einem Beschäftigten einer „panchayat“ (Kommune) das Ohr abgeschnitten, weil er sich am Streik beteiligt hatte! Es mag sein, dass derlei „goonda“ (Terroraktionen) und die scheinbar wie üblich durchgeführten Übergriffe der TMC auf Linke kurzfristig ihre Wirkung nicht verfehlen werden. Auf längere Sicht trägt eine derart offen praktizierte und gegen die ArbeiterInnen betriebene Politik jedoch dazu bei, ernstzunehmende Unruhen unter den arbeitenden Menschen Bengalens zu provozieren, sollte weiterhin so verfahren werden.
Auswirkungen hatte der Generalstreik vor allem auf das inländische Kapital. Was Delhi angeht, so betrifft dies in erster Linie die Vororte wie Gurgaon und den Industrie-Gürtel Noida. Während es in der Region um Gurgaon größtenteils friedlich blieb (wie schon in den letzten zwei Jahren war hier die Streikbeteiligung der ArbeiterInnen bei „Maruti Suzuki“ besonders spürbar), kam es in Noida zu gewaltsamen Protesten. Fahrzeuge gingen in Flammen auf, Fabriktrakte wurden angezündet und mehr als 100 Menschen wurden wegen Gewaltakten in Gewahrsam genommen. Es bleibt abzuwarten, was wirklich Auslöser für diese traurigen Ereignisse gewesen ist. Erste Berichte deuten auf Zusammenstöße zwischen Fabrikbesitzern und ArbeiterInnen in einer Strumpffabrik hin, die zu gewaltsamen Protesten der ArbeiterInnen geführt haben. Was auch immer der genaue Anlass gewesen sein mag: Ohne eine ernste Provokation von Seiten der Geschäftsführung des Unternehmens wäre es nicht dazu gekommen. Die Betreiber dieser Fabrik sind bekannt für ihre gewerkschaftsfeindliche Haltung und ihre Brutalität.
Am zweiten Tag des Streiks kam es in der Industrieregion Okla bei Delhi zu gewaltsamen Protesten, als ArbeiterInnen etliche Fabrikgebäude mit Steinen bewarfen. Und wieder einmal werden es die ArbeiterInnen sein, die man am Ende für die Gewalt verantwortlich machen wird. Die Regierung hat schon Beratungen darüber begonnen, sogar vom drakonischen Gesetz „National Security Act“ (NSA) Gebrauch zu machen, um es gegen die ArbeiterInnen einzusetzen. Der Industriegürtel in und um Delhi, die Noida-Gurgaon-Region, wird zu den entscheidenden Gebieten Indiens gehören, die man im Auge behalten muss, da es hier wahrscheinlich erneut zu großen Streiks und Protesten der Arbeiterklasse kommen wird.
Auch in anderen Gebieten, im Norden Indiens, haben sich die ArbeiterInnen ganz massiv am Ausstand beteiligt. Dort kam es auch zum völligen Erliegen des öffentlichen Lebens. Dies gilt z.B. für Teile des Bundesstaates Punjab, Haryana und Uttar Pradesh. Abgesehen von Kerala galt dies im Süden auch für Karnataka, Tamil Nadu und Andhra Pradesh. Obwohl im Vorfeld davon ausgegangen wurde, dass sich der Streik nur stellenweise bemerkbar machen würde, beteiligten sich doch Millionen von ArbeiterInnen an Streikaktionen in verschiedenen Teilen der Region und auch jenseits der Zentren der Großstädte. In Mumbai, dem Finanzzentrum des Landes, kam die gesamte Finanzbranche zum Erliegen, weil sich die Bank- und Versicherungsangestellten sowohl im Privatsektor als auch in den öffentlichen Einrichtungen durchweg am Streik beteiligten. Wegen der verräterischen Haltung einiger GewerkschaftsführerInnen (zum Beispiel von der „Hind Mazdoor Sabha“, einer der größten Gewerkschaften, die die bedeutsame Verkehrsbranche kontrolliert) hatte der Streik in Maharashtra nicht die erhoffte Wirkung.
Alles in allem zeigte die Streikbeteiligung trotz des begrenzten Charakters der 10 Forderungen, die die großen Gewerkschaften aufgestellt hatten, wie wütend die ArbeiterInnen wegen der pro-kapitalistischen Politik der UPA-Regierung unter der Führung der „Congress-Partei“ sind. Obwohl die wichtigsten Gewerkschaften nur einen sehr beschränkten Blick auf das haben, was sie am Ende überhaupt erreichen wollen, so haben sie doch wohl pder übel dafür gesorgt, dass das enorme Potential der indischen Arbeiterklasse offenbar wurde. Dies geschah trotz der aller Konfusion und Widersprüche, die in der Gewerkschaftsbewegung von heute vorherrschen.
Was nun?
Mit einer UPA-Regierung unter der Führung der „Congress-Partei“, die wild entschlossen zu sein scheint, weitere, in der Bevölkerung äußerst unbeliebte „Big Bang“-Reformen durchzusetzen, und angesichts des allgemeinen Stockens der indischen Wirtschaft (was dem globalen Trend entspricht), wird es in der kommenden Zeit zu massiven Protestwellen kommen. Was den Widerstand gegen die Angriffe des neoliberalen Kapitalismus angeht, wird das die indische Arbeiterklasse auf die gleiche Stufe stellen wie die ArbeiterInnen Europas. Der neue Staatshaushalt, der im März auf der Tagesordnung steht, wird wahrscheinlich weitere Kürzungen im Bereich der sogenannten Wohlfahrtsprogramme beinhalten (die im Übrigen bisher immer abhängig von der Aausterität gewesen sind!).
Die Situation schreit geradezu nach einer vollständigen Neuausrichtung von Strategie und Taktik der Gewerkschaftsbewegung. Seit 1991 geht die Arbeiterklasse Indiens offensiver vor und hat bereits 15 Mal sehr beherzt Generalstreiks gegen neoliberale Praktiken durchgeführt. Doch die Führung, die vorwiegend mit den linken Parteien Verbindungen hegt, muss erst noch unter Beweis stellen, dass sie den Kampf aufnehmen will, um das kapitalistische System herauszufordern, das der Quell des Neoliberalismus ist. Es ist Zeit, dass die Führung der linken und „kommunistischen“ Parteien wahrnimmt, dass es keinen halbherzigen Kampf gegen dieses System gibt. Die ArbeiterInnen brauchen Organisationen, die zur der Schlussfolgerung gelangen, dass das System des Kapitalismus bis ins Mark marode ist und nur noch wenig bis gar keinen Raum mehr für Reformen lässt. Der einzige Weg vorwärts besteht darin, den Kapitalismus durch ein demokratisches und sozialistisches System zu ersetzen.
Die Proteste gegen Korruption und sexuelle Gewalt, die wir im vergangenen Jahr erleben konnten und die so gar nicht den üblichen Parametern entsprachen, die für organisierte Kämpfe der Arbeiterklasse sonst gelten, sind ein Indiz für das starke Verlangen nach einer mutigen und radikalen Führung, das es in der Gesellschaft existiert. Die linken Parteien haben die historische Chance, den Kampf anzuführen, der sich auf alle Auseinandersetzungen ausweitet, zu denen es in Indien von Nord nach Süd und Ost nach West kommt: angefangen beim Kampf gegen Atomkraft in Kudankulam bis hin zur Bewegung gegen den Stahlriesen POSCO in Odisha.
Jugendliche, die aus der Arbeiterklasse kommen, und selbst Teile der Angestellten aus der urbanen Mittelschicht finden sich nicht länger damit ab, aufs Abstellgleis geschoben zu sein. Sie kommen in Bewegung und nehmen den Kampf auf, was leider manchmal unter einer reaktionären Führung oder ganz ohne Richtung vonstatten geht. Die linken Parteien und ihre Mitglieder waren dabei allzuoft abwesend. Im Bundesstaat Tamil Nadu haben tausende Menschen, die im Besitz einer Mitgliedskarte der „kommunistischen“ Parteien waren, rebelliert und es abgelehnt, ihre Mitgliedschaft zu erneuern. Das lag daran, dass die Parteiführungen erst zu einer Reaktion auf die Angriffe gegen Daliths (unterste Kaste/„die Unberührbaren“; Erg. d. Übers.) bereit waren, als es eigentlich schon zu spät war, hatte seine Ursache im Genozid an den Tamilen in Sri Lanka, wozu die Parteiführungen sich so gut wie gar nicht geäußert haben, und rührt daher, dass angesichts des Überlebenskampfs der Menschen in Kudankulam fast kein Finger krumm gemacht wurde. In den Bundesstaaten Tamil Nadu, Kerala und West Bengalen ist es sogar zu kleineren Abspaltungen gekommen und in Delhi ist der Studierenden- und Jugendverband der CPI(M) aus der Partei ausgetreten.
Wie wir schon in früheren Artikeln deutlich gemacht haben, wird die vor uns liegende Phase bis zu den Wahlen im Jahr 2014 noch viele sehr interessante Entwicklungen mit sich bringen, weil die indische herrschende Klasse dafür kämpfen wird, trotz der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Unruhen, die wahrscheinlich das ganze Land umfassen werden, Oberwasser zu behalten. Die fortwährenden Preiserhöhungen, Bezinpreissteigerungen, Subventionskürzungen, die massive Erwerbslosenquote und so weiter sind nicht nur für die Arbeiterklasse, die Bauernschaft und die Armen, sondern auch für die festangestellte Mittelschicht ein Problem, die die Not mehr und mehr zu spüren bekommt.
„New Socialist Alternative“ fordert ein sofortiges Ende der Preissteigerung, die Streichung der Schulden von ArbeiterInnen und Kleinbäuerinnen und -bauern, die Verstaatlichung der Banken und Versicherungsunternehmen sowie der multinationalen Konzerne, die sich den Einzelhandel und die Landwirtschaft unter den Nagel reißen wollen. Wir stehen für ein Programm, mit dem den 99 Prozent der Bevölkerung durch eine sozialistische Politik entsprochen wird. Wir wollen mit der Herrschaft Schluss machen, die das bei weitem überprivilegierte eine Prozent der indischen Gesellschaft ausübt.
Sämtliche Symptome für revolutionäre gesellschaftliche Erhebungen sind absehbar. Dies gilt nicht nur für Indien sondern weltweit. Das einzige Element, das fehlt, ist eine echte politische Alternative mit Massenunterstützung, die der indischen Arbeiterklasse wirklich den Weg weisen kann. Bei den Bemühungen, unter den jungen Leuten und innerhalb der Arbeiterklasse neue Schichten zu erreichen, stehen den Kräften, die für echten Sozialismus stehen, noch einige Herausforderungen bevor.